Nun habe ich in diese Aufnahme des Herrn Currentzis hineingehört und kann ein schlichtweg doppeltes Entsetzen nicht verhehlen: zum einen wegen der auf all zu billige Effekthascherei abzielende Geschmacklosigkeit des Dirigenten, dann aber angesichts der mir unerklärlich erscheinenden Zustimmung zu dieser Beethoven-Destruktion, diesem Beethoven-Trashstil. Da fragt man sich, ob das Märchen von den neuen Kleidern des Kaisers gerade vor den eigenen Ohren stattfindet.
Hier ein huaaaaach, dort ein mööaaaaaahhh ( voll coole Crescendi eh, auf irgendwelchen Einzeltönen), dann wieder dort ein boooom und rebellisches zack-pämm.
Zwischendurch regelt er ( Satz 1, ab 5.39) das Orchester willkürlich herunter und herauf, ganz ähnlich wie ich als 7-Jähriger gerne mit dem Lautstärkeregler der Stereoanlage meines Vaters spielte, weil ich damals der Musik meine eigene, in jenen Momenten ernsthaft empfundene Dramatik verleihen wollte...
Das Schlimme ist, das ich schon verstehe, was er an dieser oder jener Stelle meint, aber ich verstehe nicht, warum er beim Kratzen an der Oberfläche eines Werks stehenbleibt und diese Dinge geradezu lustvoll trivialisiert.
Phrasenenden oder relativ kurze Töne werden hier gegenüber "üblichen" HIP-Interpretationen wie Gardiner oder Herreweghe gerne noch einmal verkürzt, sogar bis ins lächerlich-Triviale hinein.
Auch mit der Cellokantilene im zweiten Satz ab 1.46 fährt er Achterbahn. Man kann sich vorstellen, wie die Dirigierpartitur vor lauter rot eingezeichneten < und > nur so wimmelt.
Größere Zusammenhänge werden bewusst ignoriert, ja zerstört, Stellen mit subito-forte so plakativ und zusammenhangslos hingestellt wie irgendeine störende, sich nach vorne drängende Bildschirmwerbung, die auf dem Handy immer wieder nervt.
Das ständige Vor-und Zurück der Streicher vor der bekannten Thema-Hornstelle des dritten Satzes erinnert an unterschwellige Seekrankheit.
Diese Art des Musizierens hat offenbar keinen tieferen Sinn, aus vielleicht, dass hier ein zutreffendes Bild des kulturellen Zustands des Jahres 2020 abliefert.
Wie läuft es in 2020? Ein Beispiel:
Der Content der Timeline auf Facebook taucht auf, irgendeiner sagt "Guten Tag, mein Name ist...." ( egal, schon weitergescrollt), dann kommt Werbung mit Rockmusik ( weitergescrollt), dann sagt der BuPrä vor der Fahne " Liebe Mitbürgerinnen und..." ( weitergescrollt), dann kommt wieder "Air" von Bach mit Suzuki, BIS-Werbung ( nach 3s ( weitergescrollt, weil jetzt nicht), dann filmt einer aus der Hifi-Gruppe seine Anlage mit Dire-Straits ab ( weitergescrollt), dann kommt ein Geklingel, weil einer eine Mail auf Messenger schrieb, oder einer auf deinen Kommentar von gestern reagiert hat..... usw. usw. Alles versucht auf sich aufmerksam zu machen, es kommt so schnell wie es geht, aber alles ist am Ende im Grunde genommen egal und trivial. Selbst großartige Konzertmitschnitte geraten in diesem Zusammenhang zu einem Fenster, zu einem Sandkorn in der Summe des digitalen Kontents.
Es wäre naiv zu glauben, dass diese kulturellen-gesellschaftlichen Veränderungen keine Auswirkungen auf die Ästhetik des Vortrags von Klassikerwerken hätten.
Diese Art des hier vorgestellten Beethoven-Musizierens will auch nicht "Sprechen" im Sinne der Klangrede Matthesons (oder Harnoncourts), sondern heischt nach schnellen Effekten. Die Sache mit HIP und der damals neuartigen Musizierweise eines Harnoncourt wird hier nur als legitimierende Maske vorhergetragen. Currentzis hat einige wenige Elemente Harnoncourts scheinbar aufgeschnappt, aber davon kaum etwas wirklich verstanden. Warum sollte man sich auch die Mühe machen, wenn doch viel schnelle voll coole Effekte bekommen kann.
Auch Abbado hat ja in späteren Jahren einige Klassiker herausgebracht, bei denen man merkt, dass er Harnoncourts Aufnahmen kennengelernt haben musste. Diese Ansätze finde ich nicht ganz so überzeugend, doch immer noch gut. Aber seinen pro-harnoncourtischen Beethoven ( die DG-Aufnahmen mit den Wiener Philharmonikern) finde ich doch viel überzeugender, als die späteren Versuche, wahrscheinlich, weil er da mehr sich selbst ist. Dennoch sind diese späteren Aufnahmen immer noch sehr gut gelungen, immer noch meisterlich, nie auf billige Effekte schielend, immer kultiviert. Man kann diesen großen Mann eigentlich nicht in einem Atem mit Currentzis nennen.
Verstanden wurde der Harnoncourt nicht von vielen, auch nicht vom Goebel. Rattle ist da schon dichter dran, auch die Musiker des Concertgebouw-Orkest, wenn sie ohne Dirigenten spielen.
Diese hier strittig besprochene Art des Musizierens will offenkundig an keiner Stelle singen. In der großen Musik gibt es auch in den Phasen der Klangrede (also Frühbarock bis Beethoven) immer auch herrliche Kantilenen und große Bögen. Diese werden hier konsequent als nicht existent hingestellt.
Beethoven wird hier monochrom als wilder Mann hingestellt, dem nur Revolution und ausschweifende Kurzemotionen wichtig waren. Das mag Leute, die sich gerne zu wilden Death-Metal-Klängen in Wacken im Schlamm sudeln gefallen, vielleicht auch Liebhabern von Deep-Trance. Ich weiß es nicht. Aber im Zweifel bleiben die dann doch bei ihren Sachen.
Diese Art des Musizierens will an keiner Stelle lieblich und schön klingen. Ein wichtiges Ausdrucks- und Klangmittel wie das Vibrato wird - völlig unhistorisch zudem- offensichtlich als reinstes Teufelszeug angesehen. Nebenbei gesagt gab es im Barock und danach eine Unmenge an verschiedenem Vibrato, doch da muss man schon die Schulwerke oder die Sekundärliteratur lesen....
Manche Stellen mit hohen Geigen erinnern gar an Schulorchester, bei denen leidensbereite Eltern trotzdem schön artig klatschen, wenn dann Gesäge dann endlich verstummt ist.
Diese Art des Musizierens erinnert schon bald an Comics, bei denen sich schräge Charaktere wie der skurile Joker ( der Gegner von Batman) austoben dürfen.
Die Reaktion "tief ergriffen" wird da wohl eher nicht zu erwarten sein.
Ich unterstelle einer Wendy Carlos mit ihren Barockdarstellungen auf dem analogen Moog-Syntheziser wesentlich mehr Ernsthaftigkeit in der Herangehensweise, auch wenn sie, deutlich hörbar, keine Ahnung von stilgerechter Artikulation und Phrasierung hatte. Ja, bei Wendy werden Klänge ausprobiert, Stereo-Echo- und Halleffekte durchaus angewendet, aber dennoch ist es ein musikalischeres Vorgehen, als dieses 2020-gerechte Kombination aus Willkürlichkeit, Oberflächlichkeit und Beliebigkeit, bei der es offensichtlich an jedweder Demut vor dem Komponisten fehlt.
Auch Glenn Gould ( der mochte übrigens Walter/Wendy Carlos) setzte bei Bach nicht unbedingt die historische Wahrheit um, dennoch ist vieles von ihm ein Dokument großen Künstlertums.
Doch zurück zu unserem Beethoven: Die Akzente in den Streichern etwa in Satz 4 ab 1.28 sind sowohl sprachlich-rhetorisch zu sehen, als auch gesanglich, was sich u.a aus dem harmonischen Satz mit den alterierten Akkorden ergibt, d.h. durch die harmonischen Zusammenhänge erhalten die "Gesänge" der Einzelstimmen nahezu automatisch ihren Hang zum Akzent auf eben jenen Tönen. Gerade diesen Akzenten nun das Vibrato zu verweigern ( hier müsste es als Ausdruck einer inneren Erschütterung kommen) und sie nahezu perkussiv zu spielen, entlarvt eine erstaunliche Einseitigkeit in der Wahl der musikalischen Mittel. Es scheint mir ein heutzutage modern wirkender 08/15-Ansatz zu sein, der irgendwie aggressiv und "unangepasst-subversiv" klingen soll. Wie durchsichtig, vorhersehbar und langweilig ist das denn? Es war nach einigen Takten des ersten Satzes tatsächlich abzusehen, dass diese Stelle im vierten Satz genau so kommen würde.
Harnoncourt und Leonhardt sind Musiker, die mit großer Ernsthaftigkeit den geprägten Stil, den mit dem sie aufwuchsen und Frage stellten und neue Einsichten hinsichtlich Tempo, Artikulation, Phrasierung, Dynamik und Instrumentarium mit großer Seriosität vermittelten und ergänzten. Auch wenn Harnoncourt in der Spätphase manchmal etwas wunderlich wurde ( Stichwort Oratorium der letzten Mozart-Symphonien), so hat er doch in seinen besten Zeiten Großartiges beitragen können. Die Art und Weise, mit der heute Cembalo gespielt wird, wäre ohne das Vorbild Gustav Leonhardts undenkbar.
Was für eine Erkenntnis gewinne ich nun aus solchen Aufnahmen wie der hier besprochenen? Manchmal wäre es besser, wenn Leute diese großen Vorbilder nie gehört hätten, bzw. gar nichts davon verstanden hätten. Aber dieses hörbar sehr fragmentierte Verstehen eines offensichtlichen Vorbilds, was ja eigentlich ein grandioses Mißverstehen ist, führt zu katastrophaleren Ergebnissen, als wenn man diesen Leuten im Leben nur Aufnahmen von Karajan oder Böhm vorgespielt hätte. Dann würden sie wenigstens auf große Zusammenhänge und eine klassische Balance der Parameter in jeder Hinsicht achten.
Vor diesem Hintergrund kann ich den nur scheinbar anachronistischen Ansatz Thielemanns gut nachvollziehen. Er übernimmt durchaus manches aus dem Harnoncourt-Werkzeugkasten, aber selbst seine Anhänger hören das eher nicht. Klanglich hat er auf Sparta und Vegetarkost keine Lust. Er baut auf dem Erbe der Vergangenheit auf, ergänzt durch Neuheiten, die überzeugend klingen und sich auf lange Sicht bewähren. Damit ist er einerseits ein echter Konservativer ( kein Rechter!) und gleichzeitig ein echter Künstler, weil er seine eigene Subjektivität zulässt und an seinen Erfahrungen wächst. Bin ich mit jeder Stelle einverstanden, die er macht? Nein, vor allem bei den Brahms-Symphonien kamen mir Zweifel. Aber als großen Künstler sehe ich ihn immer. Die Größe besteht ja auch darin, seine Subjektivität mit den objektiven Aspekten ( z.B. der Partitur) in einer Balance zu halten. Wenn man von der Musik fasziniert ist und den Dirigenten vergißt, dann hat der Künstler sein Ziel erreicht. Am Anfang der Götterdämmerung etwa sehe ich bei Thielemann tatsächlich dieses "Twilight" diese durch die Harmonik und die Figuren des Orchesters eingebaute Zwielichtigkeit, dieses Schweben, diese Uneindeutige, Mystische, diese leise Ahnung des Abgrunds....uvm.
Auch im zweiten Satz der Pastorale Beethovens gluckert der Bach hier und da, und man fühlt geradezu, wie die Sonne die Haut erwärmt, jedenfalls, wenn man die Aufnahme mit Thielemann und den Wiener Philharmonikern hört.
Von all dem ist dieser Currentzis weit entfernt. Es ist schade, dass er Partituren lesen und wahrscheinlich spielen kann, was zum schweren Dirigierhandwerk gehört. Er müsste sich jedoch länger und gründlicher mit dem Stoff auseinandersetzen, statt dieses -wie ich finde schon peinliche- Dokument der Unreife zu publizieren.
Beethoven hat er damit einen Bärendienst erwiesen.
Ob der türkische Marsch mit Lang Lang oder dieser Beethoven hier nun schlimmer wäre.....darüber könnte man abends am Kamin bei einer Flasche Wein und einer guten Pfeife diskutieren.
Ich finde übrigens Holgers Argumentation schlüssig und nachvollziehbar und kann mich seinen Ausführungen nur anschließen, auch in den Details.
Aufgrund beruflicher Veränderungen habe ich kaum noch Zeit, über die Musik zu schreiben, aber dieses Thema hat mich dann doch zu einer Stellungnahme verführt.
Gruß
Glockenton