Beethoven im Beethoven- und Corona-Jahr 2020. Welche Aufnahmen (aktuell veröffentlichte Neuaufnahmen und alte Klassiker) sind zu empfehlen?

  • Nun habe ich in diese Aufnahme des Herrn Currentzis hineingehört und kann ein schlichtweg doppeltes Entsetzen nicht verhehlen: zum einen wegen der auf all zu billige Effekthascherei abzielende Geschmacklosigkeit des Dirigenten, dann aber angesichts der mir unerklärlich erscheinenden Zustimmung zu dieser Beethoven-Destruktion, diesem Beethoven-Trashstil. Da fragt man sich, ob das Märchen von den neuen Kleidern des Kaisers gerade vor den eigenen Ohren stattfindet.


    Hier ein huaaaaach, dort ein mööaaaaaahhh ( voll coole Crescendi eh, auf irgendwelchen Einzeltönen), dann wieder dort ein boooom und rebellisches zack-pämm.

    Zwischendurch regelt er ( Satz 1, ab 5.39) das Orchester willkürlich herunter und herauf, ganz ähnlich wie ich als 7-Jähriger gerne mit dem Lautstärkeregler der Stereoanlage meines Vaters spielte, weil ich damals der Musik meine eigene, in jenen Momenten ernsthaft empfundene Dramatik verleihen wollte...

    Das Schlimme ist, das ich schon verstehe, was er an dieser oder jener Stelle meint, aber ich verstehe nicht, warum er beim Kratzen an der Oberfläche eines Werks stehenbleibt und diese Dinge geradezu lustvoll trivialisiert.


    Phrasenenden oder relativ kurze Töne werden hier gegenüber "üblichen" HIP-Interpretationen wie Gardiner oder Herreweghe gerne noch einmal verkürzt, sogar bis ins lächerlich-Triviale hinein.

    Auch mit der Cellokantilene im zweiten Satz ab 1.46 fährt er Achterbahn. Man kann sich vorstellen, wie die Dirigierpartitur vor lauter rot eingezeichneten < und > nur so wimmelt.

    Größere Zusammenhänge werden bewusst ignoriert, ja zerstört, Stellen mit subito-forte so plakativ und zusammenhangslos hingestellt wie irgendeine störende, sich nach vorne drängende Bildschirmwerbung, die auf dem Handy immer wieder nervt.

    Das ständige Vor-und Zurück der Streicher vor der bekannten Thema-Hornstelle des dritten Satzes erinnert an unterschwellige Seekrankheit.


    Diese Art des Musizierens hat offenbar keinen tieferen Sinn, aus vielleicht, dass hier ein zutreffendes Bild des kulturellen Zustands des Jahres 2020 abliefert.

    Wie läuft es in 2020? Ein Beispiel:

    Der Content der Timeline auf Facebook taucht auf, irgendeiner sagt "Guten Tag, mein Name ist...." ( egal, schon weitergescrollt), dann kommt Werbung mit Rockmusik ( weitergescrollt), dann sagt der BuPrä vor der Fahne " Liebe Mitbürgerinnen und..." ( weitergescrollt), dann kommt wieder "Air" von Bach mit Suzuki, BIS-Werbung ( nach 3s ( weitergescrollt, weil jetzt nicht), dann filmt einer aus der Hifi-Gruppe seine Anlage mit Dire-Straits ab ( weitergescrollt), dann kommt ein Geklingel, weil einer eine Mail auf Messenger schrieb, oder einer auf deinen Kommentar von gestern reagiert hat..... usw. usw. Alles versucht auf sich aufmerksam zu machen, es kommt so schnell wie es geht, aber alles ist am Ende im Grunde genommen egal und trivial. Selbst großartige Konzertmitschnitte geraten in diesem Zusammenhang zu einem Fenster, zu einem Sandkorn in der Summe des digitalen Kontents.

    Es wäre naiv zu glauben, dass diese kulturellen-gesellschaftlichen Veränderungen keine Auswirkungen auf die Ästhetik des Vortrags von Klassikerwerken hätten.


    Diese Art des hier vorgestellten Beethoven-Musizierens will auch nicht "Sprechen" im Sinne der Klangrede Matthesons (oder Harnoncourts), sondern heischt nach schnellen Effekten. Die Sache mit HIP und der damals neuartigen Musizierweise eines Harnoncourt wird hier nur als legitimierende Maske vorhergetragen. Currentzis hat einige wenige Elemente Harnoncourts scheinbar aufgeschnappt, aber davon kaum etwas wirklich verstanden. Warum sollte man sich auch die Mühe machen, wenn doch viel schnelle voll coole Effekte bekommen kann.


    Auch Abbado hat ja in späteren Jahren einige Klassiker herausgebracht, bei denen man merkt, dass er Harnoncourts Aufnahmen kennengelernt haben musste. Diese Ansätze finde ich nicht ganz so überzeugend, doch immer noch gut. Aber seinen pro-harnoncourtischen Beethoven ( die DG-Aufnahmen mit den Wiener Philharmonikern) finde ich doch viel überzeugender, als die späteren Versuche, wahrscheinlich, weil er da mehr sich selbst ist. Dennoch sind diese späteren Aufnahmen immer noch sehr gut gelungen, immer noch meisterlich, nie auf billige Effekte schielend, immer kultiviert. Man kann diesen großen Mann eigentlich nicht in einem Atem mit Currentzis nennen.

    Verstanden wurde der Harnoncourt nicht von vielen, auch nicht vom Goebel. Rattle ist da schon dichter dran, auch die Musiker des Concertgebouw-Orkest, wenn sie ohne Dirigenten spielen.


    Diese hier strittig besprochene Art des Musizierens will offenkundig an keiner Stelle singen. In der großen Musik gibt es auch in den Phasen der Klangrede (also Frühbarock bis Beethoven) immer auch herrliche Kantilenen und große Bögen. Diese werden hier konsequent als nicht existent hingestellt.

    Beethoven wird hier monochrom als wilder Mann hingestellt, dem nur Revolution und ausschweifende Kurzemotionen wichtig waren. Das mag Leute, die sich gerne zu wilden Death-Metal-Klängen in Wacken im Schlamm sudeln gefallen, vielleicht auch Liebhabern von Deep-Trance. Ich weiß es nicht. Aber im Zweifel bleiben die dann doch bei ihren Sachen.


    Diese Art des Musizierens will an keiner Stelle lieblich und schön klingen. Ein wichtiges Ausdrucks- und Klangmittel wie das Vibrato wird - völlig unhistorisch zudem- offensichtlich als reinstes Teufelszeug angesehen. Nebenbei gesagt gab es im Barock und danach eine Unmenge an verschiedenem Vibrato, doch da muss man schon die Schulwerke oder die Sekundärliteratur lesen....

    Manche Stellen mit hohen Geigen erinnern gar an Schulorchester, bei denen leidensbereite Eltern trotzdem schön artig klatschen, wenn dann Gesäge dann endlich verstummt ist.


    Diese Art des Musizierens erinnert schon bald an Comics, bei denen sich schräge Charaktere wie der skurile Joker ( der Gegner von Batman) austoben dürfen.

    Die Reaktion "tief ergriffen" wird da wohl eher nicht zu erwarten sein.

    Ich unterstelle einer Wendy Carlos mit ihren Barockdarstellungen auf dem analogen Moog-Syntheziser wesentlich mehr Ernsthaftigkeit in der Herangehensweise, auch wenn sie, deutlich hörbar, keine Ahnung von stilgerechter Artikulation und Phrasierung hatte. Ja, bei Wendy werden Klänge ausprobiert, Stereo-Echo- und Halleffekte durchaus angewendet, aber dennoch ist es ein musikalischeres Vorgehen, als dieses 2020-gerechte Kombination aus Willkürlichkeit, Oberflächlichkeit und Beliebigkeit, bei der es offensichtlich an jedweder Demut vor dem Komponisten fehlt.

    Auch Glenn Gould ( der mochte übrigens Walter/Wendy Carlos) setzte bei Bach nicht unbedingt die historische Wahrheit um, dennoch ist vieles von ihm ein Dokument großen Künstlertums.


    Doch zurück zu unserem Beethoven: Die Akzente in den Streichern etwa in Satz 4 ab 1.28 sind sowohl sprachlich-rhetorisch zu sehen, als auch gesanglich, was sich u.a aus dem harmonischen Satz mit den alterierten Akkorden ergibt, d.h. durch die harmonischen Zusammenhänge erhalten die "Gesänge" der Einzelstimmen nahezu automatisch ihren Hang zum Akzent auf eben jenen Tönen. Gerade diesen Akzenten nun das Vibrato zu verweigern ( hier müsste es als Ausdruck einer inneren Erschütterung kommen) und sie nahezu perkussiv zu spielen, entlarvt eine erstaunliche Einseitigkeit in der Wahl der musikalischen Mittel. Es scheint mir ein heutzutage modern wirkender 08/15-Ansatz zu sein, der irgendwie aggressiv und "unangepasst-subversiv" klingen soll. Wie durchsichtig, vorhersehbar und langweilig ist das denn? Es war nach einigen Takten des ersten Satzes tatsächlich abzusehen, dass diese Stelle im vierten Satz genau so kommen würde.


    Harnoncourt und Leonhardt sind Musiker, die mit großer Ernsthaftigkeit den geprägten Stil, den mit dem sie aufwuchsen und Frage stellten und neue Einsichten hinsichtlich Tempo, Artikulation, Phrasierung, Dynamik und Instrumentarium mit großer Seriosität vermittelten und ergänzten. Auch wenn Harnoncourt in der Spätphase manchmal etwas wunderlich wurde ( Stichwort Oratorium der letzten Mozart-Symphonien), so hat er doch in seinen besten Zeiten Großartiges beitragen können. Die Art und Weise, mit der heute Cembalo gespielt wird, wäre ohne das Vorbild Gustav Leonhardts undenkbar.


    Was für eine Erkenntnis gewinne ich nun aus solchen Aufnahmen wie der hier besprochenen? Manchmal wäre es besser, wenn Leute diese großen Vorbilder nie gehört hätten, bzw. gar nichts davon verstanden hätten. Aber dieses hörbar sehr fragmentierte Verstehen eines offensichtlichen Vorbilds, was ja eigentlich ein grandioses Mißverstehen ist, führt zu katastrophaleren Ergebnissen, als wenn man diesen Leuten im Leben nur Aufnahmen von Karajan oder Böhm vorgespielt hätte. Dann würden sie wenigstens auf große Zusammenhänge und eine klassische Balance der Parameter in jeder Hinsicht achten.


    Vor diesem Hintergrund kann ich den nur scheinbar anachronistischen Ansatz Thielemanns gut nachvollziehen. Er übernimmt durchaus manches aus dem Harnoncourt-Werkzeugkasten, aber selbst seine Anhänger hören das eher nicht. Klanglich hat er auf Sparta und Vegetarkost keine Lust. Er baut auf dem Erbe der Vergangenheit auf, ergänzt durch Neuheiten, die überzeugend klingen und sich auf lange Sicht bewähren. Damit ist er einerseits ein echter Konservativer ( kein Rechter!) und gleichzeitig ein echter Künstler, weil er seine eigene Subjektivität zulässt und an seinen Erfahrungen wächst. Bin ich mit jeder Stelle einverstanden, die er macht? Nein, vor allem bei den Brahms-Symphonien kamen mir Zweifel. Aber als großen Künstler sehe ich ihn immer. Die Größe besteht ja auch darin, seine Subjektivität mit den objektiven Aspekten ( z.B. der Partitur) in einer Balance zu halten. Wenn man von der Musik fasziniert ist und den Dirigenten vergißt, dann hat der Künstler sein Ziel erreicht. Am Anfang der Götterdämmerung etwa sehe ich bei Thielemann tatsächlich dieses "Twilight" diese durch die Harmonik und die Figuren des Orchesters eingebaute Zwielichtigkeit, dieses Schweben, diese Uneindeutige, Mystische, diese leise Ahnung des Abgrunds....uvm.

    Auch im zweiten Satz der Pastorale Beethovens gluckert der Bach hier und da, und man fühlt geradezu, wie die Sonne die Haut erwärmt, jedenfalls, wenn man die Aufnahme mit Thielemann und den Wiener Philharmonikern hört.


    Von all dem ist dieser Currentzis weit entfernt. Es ist schade, dass er Partituren lesen und wahrscheinlich spielen kann, was zum schweren Dirigierhandwerk gehört. Er müsste sich jedoch länger und gründlicher mit dem Stoff auseinandersetzen, statt dieses -wie ich finde schon peinliche- Dokument der Unreife zu publizieren.

    Beethoven hat er damit einen Bärendienst erwiesen.


    Ob der türkische Marsch mit Lang Lang oder dieser Beethoven hier nun schlimmer wäre.....darüber könnte man abends am Kamin bei einer Flasche Wein und einer guten Pfeife diskutieren.


    Ich finde übrigens Holgers Argumentation schlüssig und nachvollziehbar und kann mich seinen Ausführungen nur anschließen, auch in den Details.


    Aufgrund beruflicher Veränderungen habe ich kaum noch Zeit, über die Musik zu schreiben, aber dieses Thema hat mich dann doch zu einer Stellungnahme verführt.


    Gruß

    Glockenton

    "Jede Note muss wissen woher sie kommt und wohin sie geht" ( Nikolaus Harnoncourt)

  • Und gleich noch hinterher meine dritte Empfehlung:


    Es ist nicht diese Neuerscheinung zu Beginn des Jahres hier:


    Schön, lieber Holger, dass ich nicht der einzige bin, der mit dem, was er daraus hörte, wenig anfangen kann.

    Die Personalunion Pianist/Dirigent ist gerade bei den letzten drei Klavierkonzerten ja ohnehin problematisch. Dass es klappen kann, bewies Rudolf Buchbinder. Aber so leichtgewichtig wie die Orchesterbegleitung bei Lisiecki ausfällt, gefällt mir das ganz und gar nicht. Das Orchester ist dermaßen dünn und schmächtig, dass es schon nicht mehr feierlich ist. Man höre nur mal in den Kopfsatz des 5. Klavierkonzerts. Wer würde hier ans "Emperor"-Konzert denken? :pfeif:


    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Aber so leichtgewichtig wie die Orchesterbegleitung bei Lisiecki ausfällt, gefällt mir das ganz und gar nicht. Das Orchester ist dermaßen dünn und schmächtig, dass es schon nicht mehr feierlich ist. Man höre nur mal in den Kopfsatz des 5. Klavierkonzerts. Wer würde hier ans "Emperor"-Konzert denken? :pfeif:

    Lieber Josef,


    hat sich erledigt. Sowas brauchen wir nicht.

    Wir greifen zum Beispiel zu Bernstein / Wiener PH mit Zimmerman (DG). Das nenne ich angemessenes Orchestermitspiel (nicht blose Begleitung) .


    Genauso gut, um Holger jetzt auch Honig um den Mund zu schmieren:

    Die tolle GA mit Ashkenazy / CSO / Solti (Decca).

    Gruß aus Bonn, Wolfgang

  • Ihr drückt Euch einmal mehr um den Vergleich Currentzis-Harnoncourt.

    Lieber Holger,


    machen wir es kurz:

    Nach den Beiträgen von Dir Holger und Glockenton bleibt mir nur eins: Den Vergleich mit Harnoncourt (von dem ich eigentlich kein grosser Fan bin) zu starten.


    Das ganze Thema ist ja eigentlich nicht so entscheidend, weil es sooooo gute Aufnahmen der Fünften gibt ...

    Gruß aus Bonn, Wolfgang

  • Ich bin angesichts der diametral entgegengesetzten Bewertungen der Currentzis-Aufnahme nun sehr neugierig darauf ^^. Der High-Res-Download ist schon auf meiner Festplatte, ich bin aber noch nicht zum Hören gekommen. Bisher hat mich Currentzis mit fast allen seinen Aufnahmen begeistert. Interessant ist ja, wie sehr dieser Dirigent polarisiert. Ich kenne fast nur Leute, die ihn entweder für einen Nichtskönner und Scharlatan halten oder ihn geradezu anbeten und ihm im Exremfall zu jedem Konzert nachreisen.


    Harnoncourt, den ich grundsätzlich sehr verehre und der für mich bei Mozart das Maß aller Dinge ist, gefällt mir bei seinen Beethoven-Aufnahmen nun gerade nicht besonders.

    Der Traum ist aus, allein die Nacht noch nicht.

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  • Diese Art des Musizierens hat offenbar keinen tieferen Sinn, aus vielleicht, dass hier ein zutreffendes Bild des kulturellen Zustands des Jahres 2020 abliefert.

    Wie läuft es in 2020? Ein Beispiel:

    Der Content der Timeline auf Facebook taucht auf, irgendeiner sagt "Guten Tag, mein Name ist...." ( egal, schon weitergescrollt), dann kommt Werbung mit Rockmusik ( weitergescrollt), dann sagt der BuPrä vor der Fahne " Liebe Mitbürgerinnen und..." ( weitergescrollt), dann kommt wieder "Air" von Bach mit Suzuki, BIS-Werbung ( nach 3s ( weitergescrollt, weil jetzt nicht), dann filmt einer aus der Hifi-Gruppe seine Anlage mit Dire-Straits ab ( weitergescrollt), dann kommt ein Geklingel, weil einer eine Mail auf Messenger schrieb, oder einer auf deinen Kommentar von gestern reagiert hat..... usw. usw. Alles versucht auf sich aufmerksam zu machen, es kommt so schnell wie es geht, aber alles ist am Ende im Grunde genommen egal und trivial. Selbst großartige Konzertmitschnitte geraten in diesem Zusammenhang zu einem Fenster, zu einem Sandkorn in der Summe des digitalen Kontents.

    Es wäre naiv zu glauben, dass diese kulturellen-gesellschaftlichen Veränderungen keine Auswirkungen auf die Ästhetik des Vortrags von Klassikerwerken hätten.

    Lieber Glockenton,


    ich bin schwer beeindruckt! Dein Beitrag ist einer der seltenen Sternstunden im Tamino-Forum! Und das hast Du auch noch toll geschrieben - und unserer Jetzt-Zeit den Spiegel vorgehalten. Ich lese gerade bei Joachim Kaiser folgenden Satz: "... aber auch den (virtuosen) >Einzelheiten< bekommt es schlecht, wenn der Spieler statt eines Werkes nur rasend rasche Augenblickseffekte vermittelt." Ironisch würde ich von philosophischer Seite anmerken, dass Currentzis Auflösung der Musik in eine Anhäufung von Sensationen letztlich wieder da anlangt, wo einst die rein sensualistische Rezeption von Musik im 18. Jhd. mal stand. Immanuel Kant gehört zu den großen Verächtern der Musik, die bei ihm den alleruntersten Rang in der Rangordnung der Künste einnimmt - er nennt ihre Eindrücke kurz "transitorisch". Das sind kurzlebige Sensationen, die sich auch abwechseln sollen weil deren einziger Sinn darin besteht, die Langeweile zu vertreiben. Genau das scheint doch das Problem des durch die elektronischen Medien überfütterten Klassik-Hörers von heute zu sein: Er sucht nach den Sensationen, weil er sich unendlich langweilt! (Und jetzt kommt Corona und offenbart die Grundbefindlichkeit der Langeweile, die Leute zuhause, wenn sie nicht ihrer Shopping-Gier nachgehen können, wissen mit sich nichts mehr anzufangen.) Und was mir noch auffällt, ist die Phobie geradezu gegenüber ästhetischer Kritik. Mein Gott, was war ein Eduard Hanslick göttlich polemisch - auch Adorno konnte es noch. Aber wie unendlich viel kann man von ihnen lernen - selbst wenn man ihre Bewertungen nicht teilt. Sie legen den Finger in die Wunde der ästhetischen Probleme. Und heute: Da reagiert man beleidigt, wenn man einen Verriss schreibt oder man ist betreten und peinlich berührt. Gerade das ist aber nötig finde ich! Es braucht eben auch in einem Forum so etwas wie Geschmacksbildung - weil offenbar die Interpreten diese nicht mehr vermitteln wie früher. Bernstein war sehr populär, auch Karajan - aber mein Gott, was hatten die für einen musikalischen Sachverstand und - gerade Bernstein - was für einen Geist! Wir sind heute wohl endgültig bei "Mahagonny" angelangt - eins der prophetischsten Kunstwerke des 20. Jhd., das unseren Zeitgeist zeigt, den absurden Hedonismus. Adorno hatte es erkannt, als er sagte: "Mahagonny, das sind wir!" Die Askese und Abneigung gegen das Sinnlich-Schöne, von der Du schreibst, gehört dazu. Entweder gibt es kitschig peinliche Sentimentalität wie bei Lang Lang oder Katia Buniatishvili (bei Letzerer denke ich immer: hoffentlich kommt jetzt keine lyrische Stelle...), oder eben die Askese des dramatischen Affektes wie bei Currentzis, der keine "Schönheit" zulässt, denn klassische Schönheit mit ihrer Empfindsamkeit gelassener Ausgewogenheit putscht nicht auf, die ist "unattraktiv".


    Ganz herzlichen Dank für Deinen Beitrag - der mir aus der Seele spricht! :) :hello:


    Liebe Grüße

    Holger

  • Hallo


    LvBeethoven

    Diabelli Variationen Op.120


    Diabelli Variationen von:

    Hummel, Kalkbrenner, Kreutzer, Moscheles, Liszt, FX Mozart, Schubert, Czerny


    ‚Neue‘ Diabelli Variationen von:

    Auerbach, Dean, Hosokawa, Jost, Lubman, Manoury, Richter, Schchedrin, Staud, Dun, Widmann


    Rudolf Buchbinder, p


    (DG, DDD, 2019)



    Ein hochmotivierter und exzellent aufgelegter Buchbinder. Die ‚neuen‘ Variationen sind gewissermaßen Auftragskompositionen für Buchbinder zum Beethoven-Jubiläum.


    LG Siamak

  • Das Orchester ist dermaßen dünn und schmächtig, dass es schon nicht mehr feierlich ist. Man höre nur mal in den Kopfsatz des 5. Klavierkonzerts. Wer würde hier ans "Emperor"-Konzert denken? :pfeif:

    Lieber Joseph,


    ein Gemälde mit ausgeblichenen Farben oder anders ausgedrückt: Ein Orchesterapparat, der an Schwindsucht leidet. Nee, das geht nicht. Und auch das Klavier ist mir zu leichtgewichtig! ^^


    Liebe Grüße

    Holger

  • Lieber Holger,


    vielen Dank für Deinen Beitrag!


    Wenn Du von einer "Anhäufung von Sensationen" , "transitorisch" im Sinne Kants und vom "absurden Hedonismus unseres Zeitgeistes" schreibst, dann bringst Du in unverwechselbarer Art und Weise mit wenigen Worten auf den Punkt, wofür ich viele Worte brauchte :thumbup:

    Genau so ist es.


    Man fragt sich nur, wo das noch hinführen könnte, wenn sich auch diese "Sensationen" verbraucht haben werden ( und sie werden sich garantiert abnutzen...)?

    In der Welt der Rockmusik war man ja schon vor Jahrzehnten viel weiter mit den Neuheiten und den immer weiter extremen Grenzüberschreitungen:

    In den 60ern wurden bei "The who" Gitarren auf der Bühne zerschlagen, wohl auch anderes Material. Ein Rammstein-Sänger hat wohl zerhackte Tiere von der Bühne ins Publikum geschmissen.

    Auch Kirchen wurden nach Metal-Konzerten angezündet, ebenso Veranstaltungsorte verwüstet....

    Hier ein Textausschnitt aus Wikiwand.com/no:


    Den første kirken som ble påtent var Storetveit kirke, som ble satt fyr på i mai 1992. Senere i perioden 1992–1993 ble det satt fyr på Fantoft stavkirke, Holmenkollen kapell, Revheim kirke, Skjold kirke, Åsane kirke, Kolbotn gravkapell, Ormøy kirke og Hauketo kirke.

    ("Die erste angezündete Kirche var Storetveit-kirke".....und dann folgen einige weitere norwegische Kirchen, die in Verbindung mit Black Metal-Konzerten, Musikern oder Fans brannten)


    Was man nicht alles tut, wenn man zeigen will, dass "man es nun wirklich ernst meint", mit dem Feuer seiner wie auch immer gearteten Affektion. Kunst ist es dann aber nicht mehr. Alfred Brendel sagte einmal, dass "pure Emotion" ja eigentlich nur ein Schreien, oder ein Schlagen aufs Klavier wäre, was mit Kunst aber nichts mehr zu tun habe. Man müsse es in Einklang bringen mit Regeln, mit dem Nachdenken über die Musik, mit dem Verständnis von Form und so vielem mehr. Erst dann wird es zur Kunst. Harnoncourt sagte einmal, dass es in der Kunst immer Regeln und damit Grenzen gäbe. Grenzenlosigkeit sei keine Kunst. Viel mehr sei es eben wirklich Kunst, wenn man innerhalb der Grenzen Großartiges zustande bringen könne. Dem stimme ich zu. Der extreme harmonische Ausdruck eines Bachchorals (z.B. Matthäus-Passion) entstand bei Beachtung aller Regeln des barocken vierstimmigen Satzes.


    Ich erwähne das alles natürlich mit einem gewissen Augenzwinkern, wissend, dass Beethovens Musik ( der ja immerhin von Ex-Rockliebhabern innerhalb der Klassik wegen der unüberhörbar rebellischen Stellen oft sehr bevorzugt wird) solche oben angeführten kriminellen Taten höchstwahrscheinlich niemals motivieren wird, egal wie man ihn zukünftig ggf. malträtieren wird.

    Mit 12 habe ich übrigens auch so etwas wie Veitstänze in meinem Jugendzimmer zu Beethoven aufgeführt, ausgestattet mit Karajans 70er-Einspielung auf LP, einem Verstärker und einem AKG K340-Kopfhörer.

    Nach der Neunten musste ich regelmäßig durchgeschwitzt in die Badewanne....8-):D


    Später habe ich dann mit zunehmenden Alter erkannt, dass man wesentlich mehr hört und erfährt, wenn man sich ruhiger verhält, und ggf. die Partitur mitliest. Je mehr ich wusste und anfing die Musik zu verstehen, desto tiefer das emotionale Erlebnis, weil die Bewusstseinsebene zusätzlich vorhanden ist. Es wäre tragisch, wenn man auf dem Stadium des jugendlichen Heißsporns stehenbliebe.


    Doch genug davon.

    Welche 5. von Beethoven mag ich denn eigentlich?

    Vom Karajan werde ich da wohl nie loskommen. Er lässt das Blech brilliant strahlen ( 4. Satz!) und vermag es vom ersten bis zum letzten Takt einen großen Zusammenhang zu vermitteln.

    Doch den mehr wuchtigen, fetter und dunkel klingenden Thielemann mag ich hier auch sehr, ebenso Solti mit den Wienern ( diese Aufnahme ist denen von Karajan nicht unähnlich) und der späte Böhm live in Japan, auch mit den Wienern. Die letztgenannte Aufführung kenne ich nur von Youtube.


    Harnoncourt vermittelt immer neue Einsichten und hat in vielen Dingen auf seine Weise recht. Es klingt nach wenigen Takten sofort nach ihm, was ich bei Bach als hervorragend, bei Beethoven jedoch schon eher als störend empfinde. Es gibt neben der CD auch eine DVD, auf der er probt und sein Konzept erklärt, so weit ich weiß auch vor Publikum. Das ist alles sehr interessant, und es brennt, aber am Ende klingt es für mich in meiner jetzigen Lebensphase wohl am besten mit Thielemann. Die Humanität Beethovens erfahre ich mit ihm am ehesten, aber auch den dunklen Klang, die Vorahnung auf Wagner - und ich liebe den Orchestersound Wagners.

    Die Ansätze Thielemanns, Böhms und Karajans empfinde ich als langzeittauglicher als Järvi, Harnoncourt oder Gardiner. Currentzis ist für mich, wie gesagt, faktisch indiskutabel.

    Geht es nun darum, kurzzeitig ein fetziges ( HIP)-Strohfeuer zu genießen ( ich verabscheue nebenbei gesagt den dünn-scharfen Klang der alten Trompeten kombiniert mit dem modernen Orchester), oder will ich mich im Sinne Celibidaches dem eigentlichen Kern des Kunstwerkes annähern und wirklich bewegt werden?

    Mich interessiert das Letzte.


    Wenn ich Zeit habe - ich hoffe darauf- dann will ich mir einmal auf Tidal die neue Einspielung mit Andris Nelsons anhören.

    Ich besitze einige seiner hervorragenden neuen Bruckner-Aufnahmen und finde die Wagner-Stücke, die er auf jeder der Bruckner-CDs als Zugabe liefert, fast noch besser musiziert. Das Siegfried-Idyll ist aus meiner Sicht das beste, was derzeit auf Tonträgern zu hören ist.

    Von daher setze ich schon ernsthafte Hoffnungen auf ihn, aber ich kenne die Aufnahmen noch nicht.


    Gruß

    Glockenton


    Nachtrag: Kurz in den Anfang der 5. hineingehört, mit Thielemann verglichen. Die gleichen Wiener Philharmoniker klingen bei Thielemann wesentlich dunkler, wärmer, voller und wuchtiger.

    Erstaunlich. Weiteres kann ich noch nicht sagen....

    "Jede Note muss wissen woher sie kommt und wohin sie geht" ( Nikolaus Harnoncourt)

  • Aber so leichtgewichtig wie die Orchesterbegleitung bei Lisiecki ausfällt, gefällt mir das ganz und gar nicht. Das Orchester ist dermaßen dünn und schmächtig, dass es schon nicht mehr feierlich ist. Man höre nur mal in den Kopfsatz des 5. Klavierkonzerts. Wer würde hier ans "Emperor"-Konzert denken? :pfeif:

    Für mich sind Currentzis und Lisiecki zwei sehr entgegengesetzte Pole unserer Zeit. Der eine grell und extrem, der andere nett, hübsch und sehr verbindlich. Ich hatte mir die Klavierkonzerte unlängst bei Spotify angehört, weil sie Holger kritisch erwähnte und teile das Urteil von Joseph. Das ist Beethoven light für die Sommerterrasse. Dazu ein Glas Rosé. Oder auch zwei. ;) Ob dieser sympathische Shootingstar sich wird halten? Nach den Konzerten in Personalunion kommen mir leichte Zweifel. Er sollte sich nicht verheizen, verheizen lassen.

    Es grüßt Rüdiger als Rheingold1876


    "Was mir vorschwebte, waren Schallplatten, an deren hohem Standard öffentliche Aufführungen und zukünftige Künstler gemessen würden." Walter Legge (1906-1979), britischer Musikproduzent

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  • Nach den Hörschnipsels beurteilt finde ich diesmal Jan Lisiecki spontan sehr beeindruckend. Er begleitet mit einer Leichtigkeit, Intimität und Natürlichkeit, die wirklich außergewöhnlich ist. Das Programm ist auch sehr schön. Leider stört mich bei Matthias Goerne das Stimmvibrato einfach sehr. So ein Vibrato haben Peter Schreier und Dietrich Fischer-Dieskau freilich auch, nur stört es mich bei ihnen merkwürdiger Weise gar nicht. Woran es liegt, weiß ich nicht. Ich bin leider kein Experte für Liedgesang.

    Es geht um diese CD:



    Liebe Holger, nach einem vorläufigen Eindruck - ich habe die CD einmal gehört - bin auch ich ziemlich skeptisch. Die Begleitung empfinde ich vor allem als leicht. Leicht wie die Klavierkonzert. Das muss in diesem Fall kein Nachteil sein. Von Goerne bin ich ebenfalls enttäuscht. Er klang schon flexibler. Du hast das Vibrato beklagt. Andere, Du hast Namen genannt, setzten es ganz bewusst als Ausdrucksmittel ein und stelle es nicht als Verschleiß aus.. Das ist der Unterschied. Mir scheint, er muss bei jedem Lied erst sein stimmliches Zentrum suchen. Es fehlen mir der Kern und der feste Sitz. Die Farbe ist ziemlich grau. Hoffentlich hängt ihm nicht der Wotan zu sehr an, eine Rolle, die ich an seiner Stelle niemals gesungen hätte. Er sollte mehr Mozart singen.

    Es grüßt Rüdiger als Rheingold1876


    "Was mir vorschwebte, waren Schallplatten, an deren hohem Standard öffentliche Aufführungen und zukünftige Künstler gemessen würden." Walter Legge (1906-1979), britischer Musikproduzent

  • Beethoven light für die Sommerterrasse

    Das trifft es sehr gut. Das Hauptproblem dieser Aufnahmen dürfte dann auch tatsächlich die Personalunion sein. Wie soll ein gerade 25-Jähriger auch nicht nur ein sehr guter Pianist, sondern noch dazu ein sehr guter Dirigent bei solchen Flaggschiffen sein? Ich glaube nämlich gar nicht, dass es primär am Kammerorchester liegt. Die Academy of St Martin in the Fields ist da zu einigem fähig, was man unter der kundigen Stabführung von Sir Neville Marriner über Jahrzehnte hinweg sehen konnte. Gerade recherchierte ich, dass Marriner auch wirklich die Beethoven-Klavierkonzerte (ausgenommen Nr. 4) mit unterschiedlichen Pianisten eingespielt hat. Das Ergebnis gefällt mir selbst anhand kurzer Hörschnippsel bedeutend besser. Da ist wirklich eine Orchesterführung spürbar.



    Was wurde eigentlich aus Victor Emanuel von Monteton? Ewig nichts mehr gehört von ihm.

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Lieber Glockenton,


    ja, ganz genau! Im Zeitalter der medialen Reizüberflutung wird das Aufreizende immer wieder blass - also gibt es diesen Hyperbolismus des sich ständigen Überbietens und Übersteigerns (das, was Platon einst "Pleonexia" nannte, die Maßlosigkeit des "Immer-mehr-haben-wollens"). Entsprechend wird die Sensation dann auch verkauft: als erlesen natürlich überteuert. Für Sensationen zahlt man gerne Summen, die man sonst nicht ausgibt. Sensationen sind etwas für einen Hörer, der nicht reflektieren, sondern nur noch konsumieren will. Wehe, man versucht über Musik mal zu denken und nachzudenken, wie ich es mit meinen Ausführungen zur Waldstein-Sonate getan habe. Sowas fürchtet man wie der Teufel das Weihwasser. Und dann kommt genau als Begründung: Nachdenken und Reflektieren über Musik - das ist sowieso alles nur subjektiv beliebig und damit müßig. Da schlägt dann das Ressentiment zu: Wozu man selber nicht in der Lage ist, nämlich ein sachverständiges Urteil zu fällen, was ja nunmal einen Wert darstellt, wird zum Unwert erklärt, zum Überflüssigen und sogar Anmaßenden. Hauptsache man konsumiert ungestört und wird damit glücklich.

    Das ist ja wirklich schlimm. Beim Futurismus (Marinetti) war das noch symbolisch und nicht Ernst gemeint. Diese Typen machen damit Ernst - aber ganz unfuturistisch haben sie überhaupt nichts "Neues", was an die Stelle des Alten treten könnte. Der Futurismus war kreationistisch, das hier ist einfach nur destruktiv. Was da nur für ein Selbst- und Welthass dahinter steht! Es passt aber zur heutigen Zeit der hedonistischen Ich-Einsamkeit. Der Andere und sowas wie Respekt vor den Bedürfnissen und Leistungen Anderer kommt nicht mehr vor, Hauptsache man selbst hat sein "großes Erlebnis".

    Alfred Brendel sagte einmal, dass "pure Emotion" ja eigentlich nur ein Schreien, oder ein Schlagen aufs Klavier wäre, was mit Kunst aber nichts mehr zu tun habe. Man müsse es in Einklang bringen mit Regeln, mit dem Nachdenken über die Musik, mit dem Verständnis von Form und so vielem mehr. Erst dann wird es zur Kunst. Harnoncourt sagte einmal, dass es in der Kunst immer Regeln und damit Grenzen gäbe. Grenzenlosigkeit sei keine Kunst. Viel mehr sei es eben wirklich Kunst, wenn man innerhalb der Grenzen Großartiges zustande bringen könne. Dem stimme ich zu. Der extreme harmonische Ausdruck eines Bachchorals (z.B. Matthäus-Passion) entstand bei Beachtung aller Regeln des barocken vierstimmigen Satzes.

    Es ist ja interessant, dass die "Genialität" in der nationalsozialistisch umkippenden nationalistischen Beethoven-Rezeption genau das betont: Beethovens "Genie" als der große rücksichtslose Zerstörer von allen traditionellen Regeln, so, wie der Totalitarismus ja auch die Rechtsgrundsätze destruiert und die moralischen Prinzipien mit Füßen tritt. Da wird eine kleine Sinnverschiebung des Geniegedankens vorgenommen mit fatalen Folgen: Die traditionelle Genieästhetik betont das Positive, die Autonomie einer Selbstgesetzgebung - nun wird die abstrakte Negativität, die zynisch-inhumane Abrisskeule von allem Normativen, zur Genialität. Was diese Pop-"Künstler" machen, ist nur die gedankenlose Trivialisierung davon. Die große Ambition des Totalitarismus ist zwar nicht mehr da, aber das Resultat ist genauso destruktiv. Nur was ist eigentlich genial daran, alle Formen nur zu zertrümmern? Brendel und Harnoncourt haben völlig Recht: Die großen Künstler wie Bach oder Beethoven waren keine Bilderstürmer, sie haben die Regeln von innen heraus erneuert, sie in ihrer Verwandlung neu definiert. Das sehe ich ganz genauso. Ich finde immer, dass man sehr aufpassen muss, dass man bei solchen heiklen Gedanken wie dem Genie usw. Hermeneutische Sorgfaltspflicht ist da gefragt. Was Brendel und Harnoncourt schreiben, ist einfach klug. Gerade Brendel mochte ja keinen verknöcherten Wiener Akademismus, aber das hat seinen wachen Verstand nie getrübt - im Gegenteil.

    Ich erwähne das alles natürlich mit einem gewissen Augenzwinkern, wissend, dass Beethovens Musik ( der ja immerhin von Ex-Rockliebhabern innerhalb der Klassik wegen der unüberhörbar rebellischen Stellen oft sehr bevorzugt wird) solche oben angeführten kriminellen Taten höchstwahrscheinlich niemals motivieren wird, egal wie man ihn zukünftig ggf. malträtieren wird.

    Mit 12 habe ich übrigens auch so etwas wie Veitstänze in meinem Jugendzimmer zu Beethoven aufgeführt, ausgestattet mit Karajans 70er-Einspielung auf LP, einem Verstärker und einem AKG K340-Kopfhörer.

    Nach der Neunten musste ich regelmäßig durchgeschwitzt in die Badewanne.... 8-):D

    Veitstänze habe ich zwar nicht aufgeführt, aber ich kenne das natürlich auch. ^^ Unsere kindliche Psyche sieht alles wie durch ein Vergrößerungsglas aus der absoluten Nahperspektive. Deshalb ist das Erleben so intensiv. Ein bisschen davon sollte man sich ja durchaus bewahren - sonst verlieren wir die Begeisterungsfähigkeit. Nur in Maßen. Von Vladimir Horowitz gibt es den schönen Satz: "Im Konzert musst Du immer ein bisschen übertreiben!" Entscheidend ist aber, dass Horowitz sagt: ein bisschen - und eben nicht zuviel. Auf das rechte Maß kommt es an.

    Später habe ich dann mit zunehmenden Alter erkannt, dass man wesentlich mehr hört und erfährt, wenn man sich ruhiger verhält, und ggf. die Partitur mitliest. Je mehr ich wusste und anfing die Musik zu verstehen, desto tiefer das emotionale Erlebnis, weil die Bewusstseinsebene zusätzlich vorhanden ist. Es wäre tragisch, wenn man auf dem Stadium des jugendlichen Heißsporns stehenbliebe.

    Ja genau. Deswegen bin ich ein überzeugter Romantiker in diesem Punkt. ;) Die Romantiker haben genau das auch sehr schön beschrieben: Gefühlstiefe erreicht man nur, wenn man innerlich ruhig wird und die vordergründig-aufgeregte Affektiertheit überwindet.

    Nachtrag: Kurz in den Anfang der 5. hineingehört, mit Thielemann verglichen. Die gleichen Wiener Philharmoniker klingen bei Thielemann wesentlich dunkler, wärmer, voller und wuchtiger.

    Erstaunlich. Weiteres kann ich noch nicht sagen....

    Ich habe mich schon lange nicht mehr mit der 5. näher beschäftigt. Da ich ja momentan über Beethoven arbeite, werde ich das bestimmt nachholen. Ich werde mich da u.a. mit Furtwängler und Hermann Scherchen beschäftigen (die Abbado-Aufnahme habe ich auch noch nicht gehört) - Karajan werde ich mir auch nochmals vornehmen, die Aufnahme steht in meinem Schrank. Dann habe ich auch noch Paul Kletzki und Celibidache. Du hast Recht, mit Thielemann müsste ich mich auch endlich intensiver auseinandersetzen! :hello:


    Liebe Grüße

    Holger

  • Liebe Holger, nach einem vorläufigen Eindruck - ich habe die CD einmal gehört - bin auch ich ziemlich skeptisch. Die Begleitung empfinde ich vor allem als leicht. Leicht wie die Klavierkonzert. Das muss in diesem Fall kein Nachteil sein. Von Goerne bin ich ebenfalls enttäuscht. Er klang schon flexibler. Du hast das Vibrato beklagt. Andere, Du hast Namen genannt, setzten es ganz bewusst als Ausdrucksmittel ein und stelle es nicht als Verschleiß aus.. Das ist der Unterschied. Mir scheint, er muss bei jedem Lied erst sein stimmliches Zentrum suchen. Es fehlen mir der Kern und der feste Sitz. Die Farbe ist ziemlich grau. Hoffentlich hängt ihm nicht der Wotan zu sehr an, eine Rolle, die ich an seiner Stelle niemals gesungen hätte. Er sollte mehr Mozart singen.


    Lieber Rüdiger,


    das hast Du mir sehr gut erklärt! Da lag ich als absoluter Laie in Sachen Gesangskunst mit meiner Intuition dann doch nicht ganz daneben! :):hello:


    Liebe Grüße

    Holger

  • Diese Art des Musizierens hat offenbar keinen tieferen Sinn, aus vielleicht, dass hier ein zutreffendes Bild des kulturellen Zustands des Jahres 2020 abliefert.

    Wir sind heute wohl endgültig bei "Mahagonny" angelangt - eins der prophetischsten Kunstwerke des 20. Jhd., das unseren Zeitgeist zeigt, den absurden Hedonismus.

    Man fragt sich nur, wo das noch hinführen könnte, wenn sich auch diese "Sensationen" verbraucht haben werden

    Im Zeitalter der medialen Reizüberflutung wird das Aufreizende immer wieder blass

    Es passt aber zur heutigen Zeit der hedonistischen Ich-Einsamkeit.


    Ich finde Eurer Wehklagen über die ach so schlimme heutige Zeit höchst amüsant - bitte mehr davon ^^. Ohne Euch zu nahe treten zu wollen: Ihr selbst seht dabei ganz schön alt aus. Ich für meinen Teil bin zwar auch leider schon alt, fühle mich aber sehr wohl in dieser Zeit und genieße es, Kontakt mit jungen Leuten (okay, vor allem Frauen) zu haben, mit denen ich auch gerne Pop-Musik höre und mich medialer Reizüberflutung hingebe. :P Vielleicht gefällt mir auch deshalb das meiste, was ich bisher von Currentzis gehört habe. (Die 5. wartet allerdings noch darauf, gehört zu werden.)


    Glockenton hat an einer Stelle etwas sehr Richtiges gesagt:

    Es wäre naiv zu glauben, dass diese kulturellen-gesellschaftlichen Veränderungen keine Auswirkungen auf die Ästhetik des Vortrags von Klassikerwerken hätten.

    Jede Zeit hat ihre Klassiker auf unterschiedliche Weise interpretiert, und das ist auch gut so. Warum soll das nicht auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts erlaubt sein? Das muss nicht jedem gefallen, der in anderen Traditionen groß geworden ist. Aber der Erfolg von Currrentzis zeigt doch m.E. sehr deutlich, dass er einen Nerv getroffen hat.

    Der Traum ist aus, allein die Nacht noch nicht.

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  • Ihr selbst seht dabei ganz schön alt aus. Ich für meinen Teil bin zwar auch leider schon alt, fühle mich aber sehr wohl in dieser Zeit und genieße es, Kontakt mit jungen Leuten (okay, vor allem Frauen) zu haben, mit denen ich auch gerne Pop-Musik höre und mich medialer Reizüberflutung hingebe. :P Vielleicht gefällt mir auch deshalb das meiste, was ich bisher von Currentzis gehört habe. (Die 5. wartet allerdings noch darauf, gehört zu werden.)

    Klar doch, zur Pop-Kultur gehört der Jugendlichkeitswahn - passend zur kapitalistischen Leistungsgesellschaft, wo die Individuen immer schön fit, mobil und universell einsatzfähig sein müssen. ^^ Die permanente Reizsteigerung hält fit - so als eine Art emotionales Jogging, messbar mit dem Pulsmesser und überprüfbar mit der App. Dazu kommt dann aber leider MacDonalds HIP mit Burger und Currywurst. Und deshalb sehen dann die Yuppies mit 40 leider schon sehr alt aus. Macht nichts. Das junge Gemüse wächst ja ständig nach! Das Problem löst der Austausch. Die Alten werden ausgemustert und dürfen dann langweiligen Böhm hören! ^^


    Schöne Grüße

    Holger

  • Ich glaube, ich muss hier manches als Ironie auffassen, hier wird eine Mahlzeit zusammengerührt, die nur schwer verdaulich ist.

    Ich verstehe nur diese Rundumschläge und Verallgemeinerungen nicht, was soll das?

    Nicht reflektieren, nur konsumieren?

    Subjektivität ist beliebig, woher holte denn Herr Kaiser sein Reflektieren, oder hat der auch nur abgeschrieben?

    Sachverstand o.K., streitet niemand ab, aber das einzig selig machende?

    Es bewegt sich jemand auf ganz dünnem Eis, dessen Schreiben die Konsequenz hätte, das niemand mehr solche Rundumschläge liest und wirklich gute Hörempfehlungen schlicht ignoriert.

    Nun, ich finde das alles höchst unterhaltsam...

    Wenn sich hier jemand als Allgemein-Verurteiler der gegenwärtigen Zeit profilieren möchte, bitte schön, mich erreicht er damit nicht.

  • Klar doch, zur Pop-Kultur gehört der Jugendlichkeitswahn - passend zur kapitalistischen Leistungsgesellschaft, wo die Individuen immer schön fit, mobil und universell einsatzfähig sein müssen. ^^ Die permanente Reizsteigerung hält fit - so als eine Art emotionales Jogging, messbar mit dem Pulsmesser und überprüfbar mit der App. Dazu kommt dann aber leider MacDonalds HIP mit Burger und Currywurst. Und deshalb sehen dann die Yuppies mit 40 leider schon sehr alt aus. Macht nichts. Das junge Gemüse wächst ja ständig nach! Das Problem löst der Austausch. Die Alten werden ausgemustert und dürfen dann langweiligen Böhm hören! ^^

    Nun, im Zweifelsfalle huldige ich lieber dem Jugendlichkeitswahl, als zu vergreisen und nur noch der guten alten Zeit nachzuweinen, in der Brendel und Harnoncourt den Beethoven noch "richtig" interpretiert haben.

    Der Traum ist aus, allein die Nacht noch nicht.

  • Ich könnte mir vorstellen, dass man Scherchens und Leibowitz' seinerzeit modernen (heute: zukunftsweisenden) Beethoven-Ansatz damals ähnlich verständnislos beurteilt wie das heutzutage Currentzis widerfährt, den ich durchaus kritisch verfolge, den man aber nicht pauschal und generalisiert niedermachen sollte, weil man es sich damit viel zu leicht macht. Ich habe ihn auch bereits live mit einem wirklich fabelhaften reinen Rameau-Konzert erlebt. Es gelang ihm an diesem Abend, das Wiener Publikum für diesen doch recht im Schatten stehenden Komponisten zu begeistern.

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Ich könnte mir vorstellen, dass man Scherchens und Leibowitz' seinerzeit modernen (heute: zukunftsweisenden) Beethoven-Ansatz damals ähnlich verständnislos beurteilt wie das heutzutage Currentzis widerfährt, den ich durchaus kritisch verfolge, den man aber nicht pauschal und generalisiert niedermachen sollte, weil man es sich damit viel zu leicht macht.

    Du sagst es, lieber Joseph. Currentzis ist weder ein Heilsbringer, noch ein Nichtskönner.

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  • Du sagst es, lieber Joseph. Currentzis ist weder ein Heilsbringer, noch ein Nichtskönner.

    So ist es.


    Ich bin, soweit er mir musikalisch bekannt ist, schlicht wankelmütig bezüglich Currentzis. Er ist ein Pop-Star, das muss man anerkennen und schlucken, man muss es sich nicht voller Wohlwollen zueigen machen. Seine Mätzchen machen mich skeptisch, aber andere Musiker sind auch nicht frei davon. Paramusikalische Effekte können sinnvoll sein, müssen aber nicht, und Regietheater beispielsweise hat denn auch viele Seiten. Seinen Sacre finde ich durchaus mitreißend. Manch vorromantische Musik wirkt auf mich gehetzt. An der Mahler-Rezeption der Neunten bin ich bislang unbeteiligt, brauche aber keine ungefähr fünfte Einspielung des Werks, da ich es wirklich nicht wöchentlich höre, nicht wöchentlich hören kann angesichts dessen, was ich monatlich oder jährlich so hören möchte.


    Und sein Beethoven? Das weiß ich (noch) nicht. Die Preispolitik bei der entstehenden Sinfonien-Integrale finde ich arg frech und möchte da per physischem Tonträger nicht mitmachen. Currentzis wird daran nicht unschuldig sein - ich kann es mir eigentlich kaum vorstellen.


    Tendenziell geht es mir mit ihm ähnlich wie mit Patricia Kopatschinskaja, von der ich allerdings bereits eine gute Handvoll Aufnahmen kenne. Und sie ist mir schlicht viel sympathischer. Das könnte natürlich allein mein Problem sein ...


    Vielleicht sollten wir uns wieder in zehn Jahren unterhalten; dann hat so etwas wie Rezeption stattgefunden auch im engeren Sinne. Oder war es im weiteren ? mellow.png


    :)Wolfgang

    Lieber Fahrrad verpfänden denn als Landrat enden!

  • Und zur Nacht, der ersten Maiennacht mal wieder dieser, erst gut 10 Jahre alt und doch schon ein Klassiker und m. E. immer noch empfehlenswert:



    Was waren das noch für Zeiten, als ich mich mit dem lieben Liebestraum über das Tempo Järvis speziell bei der Fünften und bei der Eroica gestritten habe. Er hat das Tempo Järvis gerne mit dem französischen TGV verglichen, mit dem dieser (Järvi) durch die Partitur brauste (sagte Liebestraum).



    Angenehme Nachtruhe


    Willi:)

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

  • Werter Willi,

    Oh ja, Järvi mit den DKB gehört auf auf jeden Fall in diese Reihe empfehlenswerter Aufnahmen.

    Die GA der Symphonien ist ein Ausbund an Spielfreude.

    Grüße

    Thomas Sternberg

  • Nun, im Zweifelsfalle huldige ich lieber dem Jugendlichkeitswahl, als zu vergreisen und nur noch der guten alten Zeit nachzuweinen, in der Brendel und Harnoncourt den Beethoven noch "richtig" interpretiert haben.

    Du tust so, als seien Brendel oder Harnoncout schon 50 Jahre tot. Die Aufnahme von Harnoncourt, auf die ich mich bezogen habe, stammte aber aus dem Jahr 2015 - das sind nicht 50 Jahre, sondern 5 Jahre. Eine Aufnahme, die gerade mal 5 Jahre alt ist, gehört also für Dich schon zur "guten alten Zeit"? Also dann wird Currentzis im Jahr 2025 auch "gute alte Zeit" sein und was für Rentner-Staubis? Wie ist bei Dir die Verfallszeit - 1, 2, 3 oder 4 Jahre, wann eine Interpretation nicht mehr "aktuell" und relevant ist? Und Brendel hat im Jahr 2008 seine Konzertkarriere beendet und lebt immer noch. Und dann meinst Du allein deswegen, er hat nichts mehr zu sagen sondern ist sozusagen "historisch", d.h. seine Interpretationen dürfen nicht mehr als Maßstab herangezogen werden zur Beurteilung, an denen sich auch andere - heutige - Interpretationen zu messen haben? Brendel hatte Schüler übrigens, die seine Ratschläge noch heute befolgen.


    Und zweitens: Wer ist Currentzis? Du tust so, als sei Currentzis in Sachen Beethoven-Interpretation allein der Rede wert. Currentzis ist aber in Wahrheit ein Exot und in keiner Weise repräsentativ für die Dirigenten-Generation heute, wie sie Beethoven macht. Du bist da einfach auf die Marktmechanismen reingefallen. Die Plattenindustrie sucht nach Stars, die sie vermarkten kann mit großen Stückzahlen. Und dafür eignen sich perfekt solche Typen wie Currenztis, die auf den Effekt aus sind. Unauffällige Seriosität lässt sich eben nicht sensationell vermarkten.


    Und eine kleine philosophische Randbemerkung: Es gibt die schöne Schrift von Friedrich Nietzsche Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben. Nietzsche unterscheidet da drei Formen, wie das Leben die Geschichte betrachtet, als antiquarische, monumentalische und kritische Historie. Du willst also die antiquarische und monumentalische Historie abschaffen und nur die kritische Historie, welche das Vergangene verwirft, übrig behalten und bestreiten, dass es mit Nietzsche "monumentalische", also zeitlos gültige, vorbildliche Interpretationen gibt? Die betrachtest Du herablassend und abschätzig als sentimentale Antiquitäten (und mit ihnen Menschen wie mich und Glockenton, die sie schätzen, die Du als skurrile Typen ansiehst, die irgendwie nicht mehr in der Gegenwart sondern in der Vergangenheit leben) und leugnest ihren Vorbildcharakter? Das Monumentalische heißt eben, dass es eine "große" Vergangenheit gibt, vor der u.U. die schwache Gegenwart nicht besteht. Die Attitüde, mit der Geste des radikalen Neuanfangs aufzutreten, alles anders machen zu wollen und so "brand"-aktuell zu sein, ist ja nicht neu. Das ist - sagen wir Philosophen - ein "cartesianischer" Zug. Nur kann sich dieses Feuer, von der sich die zweifellos ebenso notwendige "kritische Historie" speist, eben auch sehr schnell als Strohfeuer herausstellen und die Originalitätsgeste als hohl und inhaltsleer, wenn man hinter die leuchtende Fassade schaut. Das hat nichts mit falscher Pietät zu tun, dass irgendwelche Heroen aus der Vergangenheit vergöttert werden, sondern mit kritischem Bewusstsein. Ich bin hier Anhänger von Nietzsche: Auch und gerade das Monumentalische gehört zum Leben und ist zu bewahren. Das Kritische muss sich vor dem Monumentalischen bewähren können und umgekehrt.


    Ich könnte mir vorstellen, dass man Scherchens und Leibowitz' seinerzeit modernen (heute: zukunftsweisenden) Beethoven-Ansatz damals ähnlich verständnislos beurteilt wie das heutzutage Currentzis widerfährt, den ich durchaus kritisch verfolge, den man aber nicht pauschal und generalisiert niedermachen sollte, weil man es sich damit viel zu leicht macht.

    Erst einmal ist nicht auszuschließen, dass Leibowitz und Scherchen auch heute noch genauso "modern" sind wie damals. Ich habe übrigens beide Aufnahmen. Und Glockenton zu unterstellen, er habe Currentzis "verständnislos beurteilt", ist das nicht ignorant und ein bisschen frech? Da hat jemand mit wirklichem Sachverstand eine sachlich fundierte Kritik gegeben, die völlig berechtigt ein Verriss geworden ist. Es geht nicht darum, Currentzis irgendwie niederzumachen, sondern es geht ganz konkret um diese Interpretation, wo eben ein krasses Missverhältnis festzustellen ist zwischen der dünnen musikalischen Substanz und der Art, wie diese Interpretation in der Vermarktung zum Jahrtausendereignis in Sachen Beethoven-Interpretation aufgebauscht wird. (Mit der Skurrilität, dass nur eine Symphonie auf der CD ist, die zum Vollpreis verkauft wird und die 7. hinterher dann auch nochmals. Man zahlt dann einen Sensations-Preis, den das sensationslüsternde Publikum offenbar zu zahlen bereit ist.) Das ist übrigens auch das Problem von Lang Lang, der als der "größte lebende Pianist" in den Medien dargestellt wird, und aber das, was er gerade bei Beethoven abliefert, einfach schwach ist - diesen überzogenen Anspruch also nicht erfüllt. Wer ein bisschen Sachverstand hat, kann prophezeien, dass diese Art des Zugangs zu Beethoven exotisch bleiben und keine Schule machen, eher als abschreckendes Beispiel fungieren wird, wie man es nicht machen sollte.

    Ich habe ihn auch bereits live mit einem wirklich fabelhaften reinen Rameau-Konzert erlebt. Es gelang ihm an diesem Abend, das Wiener Publikum für diesen doch recht im Schatten stehenden Komponisten zu begeistern.

    Der von Reinhard zitierte Kritiker aus Leipzig hatte auch Currentzis Mozart positiv erwähnt. Ich habe mich mit Currentzis als Phänomen, was er so alles macht, nicht beschäftigt. Ich unterstelle mal, dass er tatsächlich sehr begabt ist und vielleicht bei Mozart und Rameau wirklich überzeugend sein kann. Nur muss er sich bei den Klassikern, wie diese missratene Aufnahme zeigt, als jugendlicher Heißsporn, der er offensichtlich noch ist, erst einmal die Hörner abstoßen. Was er derzeit mit Beethoven macht - so geht es einfach nicht. Das ist meine und Glockentons Meinung. Und damit stehen wir sicherlich nicht alleine.


    Schöne Grüße

    Holger

  • RE: Beethoven 3 mit Paavo Järvi

    Was waren das noch für Zeiten, als ich mich mit dem lieben Liebestraum über das Tempo Järvis speziell bei der Fünften und bei der Eroica gestritten habe. Er hat das Tempo Järvis gerne mit dem französischen TGV verglichen, mit dem dieser (Järvi) durch die Partitur brauste (sagte Liebestraum).

    Lieber Willi,


    hauptsache wir mögen diese famosen Aufnahmen der Beethoven-Sinfonien von Paavo Järvi, die als Krönung der vorgegangenen Konzerte und CD-Aufnahmen zum Beethovenfest 2010 in der Beethovenhalle Bonn aufgenommen worden sind. (Die YT-Datei in Beitrag 52 ist eines der Konzerte in der Beethobenhalle 2010.)

    Die voran erfolgten CD-Aufnahmen mit der DKB (RCA) habe ich auch vorliegen. Leider finde ich diese RCA-CD-Aufnahmen nicht ganz so gelungen, wie 2010 LIVE in der Beethovenhalle, weil die mir einfach orchestral zu dünn erscheinen.


    Die Tempi von Järvi empfinde ich als rund und absolut stimmig.



    RE: Currentzis

    Was er derzeit mit Beethoven macht - so geht es einfach nicht.

    Lieber Holger,


    das ist schon interessant, wie sehr diese Aufnahme der Fünften polarisiert ... und zu Deinen und Glockentons ellenlangen Ausführungen führte.

    Allerdings möchte ich Dir widersprechen, das das was Currentzis macht nicht geht !

    Er hat als aktueller Dirigent seine Auffassung, seine Emotionen, sein Gefühl und von mir aus auch seine exotischen Extras. Die darf und kann er umsetzen ... und wie man sieht hat er auch Erfolg damit. Bei wem er damit Erfolg hat und mit welchem Sachverstand das geschieht ist dabei egal.


    Ich muss sagen, dass mich seine Int beim ersten Hören auch begeistert hat, auch wenn ich das jetzt mehr hinterfrage, da ich auch eher Fan der Altmeister von Solti über Karajan bis Leibowitz bin.

    ;) Ist doch alles kein Drama - alle machen Musik und erreichen in der heutigen Zeit den Hörer für dieses grosse Meisterwerk.

    :) Schon das ist ein Erfolg ... auch für Currentzis.

    Gruß aus Bonn, Wolfgang

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  • Er hat als aktueller Dirigent seine Auffassung, seine Emotionen, sein Gefühl und von mir aus auch seine exotischen Extras. Die darf und kann er umsetzen ... und wie man sieht hat er auch Erfolg damit. Bei wem er damit Erfolg hat und mit welchem Sachverstand das geschieht ist dabei egal.

    Lieber Wolgang,


    wenn man den Sachverstand - und damit immerhin die Frage der Werkgerechtigkeit (!) - ausblendet und allein vom Rezeptionsgesichtspunkt die Dinge aus betrachtet, kann man das freilich so sehen. Nur ist das letztlich einseitig und sehr fragwürdig. Denn dann musst Du auch die heroisierende, ideologische Beethoven-Deutung in der Zeit des Nationalsozialismus akzeptieren. Auch die hatte bei den Zeitgenossen großen "Erfolg". :hello:


    Ich muss sagen, dass mich seine Int beim ersten Hören auch begeistert hat, auch wenn ich das jetzt mehr hinterfrage, da ich auch eher Fan der Altmeister von Solti über Karajan bis Leibowitz bin.

    Klar, dass Du begeistert sein darfst. Aber vielleicht fragst Du Dich mal, woran das liegt, wenn das meine Wenigkeit und Glockenton so ganz anders erleben! ;)


    Schöne Grüße

    Holger

  • Lieber Holger,


    …. ohne mich in diese Diskussion weiter einschalten zu wollen, möchte ich mich für Deine Beiträge zum Thema, insonderheit die #43 und #54, sehr herzlich bedanken. Dieser Dank gilt auch Glockenton für seine Ausführungen. Ich habe mir heute morgen Currentzis Beethoven 5 bei Youtube angehört - ich kann jeden eurer Sätze nur unterstreichen. Hier fühlt sich jemand berufen, es um jeden Preis anders zu machen. Und diese Aufnahme mit 30 Minuten Spielzeit als Vollpreis-CD zu verkaufen, ist schlicht gesagt eine Frechheit. Das hat die DGG in den 1980er Jahren mit Carlos Kleibers Beethoven Nr. 5 auch versucht, ist aber kläglich damit gescheitert. Wenig später kam sie in der "Originals"-Serie zusammen mit der Nr. 7 heraus. Im Unterschied zu Currentzis war aber Kleibers Interpretation eine Offenbarung - und keine Selbstdarstellung.


    LG und schönen Feiertag,

    Nemorino

    Die Welt ist ein ungeheurer Friedhof gestorbener Träume (Robert Schumann).

  • RE: Kleiber


    Lieber nemorino,


    :hello:erst einmal beste Grüsse zum 1.Mai. Wir hatten ja schon lange keinen Meinungsaustausch mehr.


    Ich habe die Kleiber - CD mit den Sinfonien Nr. 5 und 7 auch vor langer Zeit gekauft. GRund war damals die teils überschwängliche Kritik.

    Von den Aufnahmen war ich allerdings nie so "dolle" begeistert. Das fing einmal mit der recht flauen Klangqualität an, die nicht gerade das gelbe vom Ei ist.

    Meine Favoriten, wie Karajan (DG), Solti (Decca, 1958), Bernstein/Bayerisches RSO (DG) , Leibowitz (Chesky) geben und gaben mir durchweg mehr, als es diese Kleiber-Aufnahmen der Fünften und Siebten jemals vermochten.


    Ich könnte noch weitere aktuelle Aufnahmen aufzählen, die ebenfalls Kleiber eher alt aussehen lassen - wie z.Bsp Paavo Jävi (SONY-DVD, 2010).



    Von daher möchte da in einige hier bei Tamino gelesenen Meinungen einstimmen:

    8) Die Kleiber-Aufnahmen sind schon etwas überschätzt !!!

    Gruß aus Bonn, Wolfgang

  • Da Holger ja zu Beginn auch dazu eingeladen hatte, auf neue Aufnahmen im Beethoven-Jahr hinzuweisen, möchte ich eine nennen: Sinfonien einer Bearbeitung des Beethoven Trios Bonn. Im Deutschlandfunk habe ich soeben zwei Sätze aus der "Pastorale" gehört. Erschien auf CD ist wohl vorerst nur die 2. Sinfonie.



    Solche Bearbeitung, die man auch kritisch beurteilen kann, haben mich immer fasziniert. Im konkreten Fall hört man Beethoven zwar nicht neu. Überraschend fand ich ehr die unglaubliche Transparenz und Durchsichtigkeit der Musik.

    Es grüßt Rüdiger als Rheingold1876


    "Was mir vorschwebte, waren Schallplatten, an deren hohem Standard öffentliche Aufführungen und zukünftige Künstler gemessen würden." Walter Legge (1906-1979), britischer Musikproduzent

  • Da Holger ja zu Beginn auch dazu eingeladen hatte, auf neue Aufnahmen im Beethoven-Jahr hinzuweisen, möchte ich eine nennen: Sinfonien einer Bearbeitung des Beethoven Trios Bonn. Im Deutschlandfunk habe ich soeben zwei Sätze aus der "Pastorale" gehört. Erschien auf CD ist wohl vorerst nur die 2. Sinfonie.

    Lieber Rüdiger,


    ein toller Tip! Ich mag sowas sehr! :hello:


    Schöne Grüße

    Holger

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