Pelleas et Melisande, unbestritten eines der Meisterwerke des 20. Jahrhunderts, ist einzigartig. Keine andere Oper spielt derart in einer eigenen Sphäre, in einer Zwischen-, einer Traumwelt, erreicht mit der gewollten Beschränkung der Mittel so viel.
Mehrere Gesichtspunkte machen die Besonderheit aus:
1) Abgrenzung zu Wagner und „alter“ Singtechnik.
Debussy negiert die machtvolle, große, Leitmotiv-plakative Orchester- und dramatische Singsprache Wagners. Das Orchester klingt im Vergleich deutlich zurückgenommen. Die Sänger singen keine ausufernden, dramatischen Arien, sondern befinden sich nahezu durchgehend im Rezitativ. Die „alte“ Gesangskunst erschien Debussy für sein Werk nicht mehr geeignet. Seiner Auffassung nach werde in der Oper zuviel gesungen (!). Hinzuarbeiten sei auf ein engstmögliches Nachzeichnen der französischen Sprechsprache, auf einen natürlichen Sprachfluss. In der Mitteilung von 1902 mit dem Titel: „Warum ich Pelleas geschrieben habe“, erklärt Debussy: „Ich habe auch versucht, einem Gesetz der Schönheit nachzukommen, das seltsamerweise in Vergessenheit gerät, wenn es sich um dramatische Musik handelt: Die Personen dieses Dramas sind bemüht, wie natürliche Menschen zu singen und nicht in einer beliebigen Sprache, die aus überholten Traditionen stammt. Das ist die Ursache für den Vorwurf, den man mir wegen meiner angeblichen Bevorzugung einer monotonen Stimmführung, in der niemals so etwas wie eine Melodie erscheint, gemacht hat. Das ist erstens falsch und darüber hinaus können sich die Gefühle eines Menschen nicht ständig auf melodische Art ausdrücken.“
So wird es verständlich, dass manche Opernfreunde, die sich vorrangig für die Gesangskunst als solche, den Belcanto im engeren Sinne begeistern, Pelleas et Melisande als unbefriedigend empfinden. Für mich gilt das nicht. Mich nimmt die einzigartige Atmosphäre des Pelleas immer aufs Neue gefangen.
2) Abgrenzung zum Naturalismus / Hinwendung zum Symbolismus
Der Symbolismus entstand als Gegenbewegung zum Naturalismus. Während die Naturalisten Übersinnliches als nicht wirklich verneint hatten, vertraten die Symbolisten die Gegenauffassung, nach der es auf der Welt mehr gibt, als das sinnlich Erfahrbare. Dieses hinter den Dingen Liegende, das Unbestimmte ist ihrer Auffassung nach wesentlicher Teil der Wirklichkeit. Es kann nur annäherungsweise erfahren, erraten werden. Das Mittel hierzu ist die Kunst, wobei der Kunstadressat unbedingt frei sein muss, nicht eingeengt werden darf. Die Kunst muss sich also lösen von den hergebrachten Regeln. Weg also von der Logik, der Bestimmtheit, der Stringenz der Handlung, weg vom formalen Aufbau, hin zur Andeutung, zur Unbestimmtheit, zur Symbolik.
Debussy gelingt es, diese Denkweise kompositorisch umzusetzen. Er lässt die hergebrachten Regeln der Kompositionstechnik außer Acht, setzt Akkorde nebeneinander, die funktionsharmonisch nicht nebeneinander stehen dürfen, hält sich nicht an die Regeln der Melodieführung und versetzt den Hörer so in Orientierungslosigkeit. Das Ende einer musikalischen Phrase beispielsweise lässt sich nicht mehr sicher bestimmen.
Debussys Musik wirkt vor allem durch unterschiedliche, aufs Feinste nuancierte Farbigkeit; Parallelharmonik, Ganztonreihen, Kirchentonarten, fernöstliche Klänge werden immer wieder als neue Mittel Debussys genannt. Selbst Leitmotive verwendet der Komponist, er tut dies aber anders als Wagner derart subtil, dass der Hörer diese Motive kaum wahrnimmt, nur erahnt.
Erstaunlicherweise, darin liegt meines Erachtens seine große Kunst, erreicht Debussy trotz des Verzichts auf die genannten musikalischen Orientierungsmarken eine deutliche Vertiefung des Bühnengeschehens. Die Musik bereichert das Verständnis des Geschehens immens. Sie eröffnet dem Hörer eine neue Bedeutungsebene des Textes, die allerdings ganz im Sinne der Symbolisten mehr erahnt, als gedanklich klar erfasst wird.
Die Symbolhaftigkeit des Bühnengeschehens ist derart offensichtlich, dass ich hier darauf verzichte, sie zu beschreiben. Nur ganz kurz der Hinweis: Äußerlich geschieht kaum etwas. Das hauptsächliche Geschehen bleibt außerhalb des Sichtfeldes, so wie der Hörer nie erfährt, ob das Schiff, das in den Sturm fährt, untergeht. Das eigentliche Geschehen findet im Inneren der Figuren statt – insoweit dem Tristan sehr ähnlich. Dieses Geschehen wird allerdings nicht psychologisierend im Gespräch, gar im dramatischen Konflikt beleuchtet, sondern bleibt unausgesprochen, wird nur symbolisch dargestellt. Und die Musik tut das ihre, um das Geheimnis der Seelen unterschwellig zu erkunden.
Zwei Threads gibt es bereits zu Aufführungen dieses Werks: Debussy: Pelléas et Mélisande, Berlin, SO udL, 13. April 2008 (Ruth Berghaus, Sir Simon Rattle)... Debussys Pelleas et Melisande in Darmstadt, 14.10.2007. In einem anderen wird Melisande sehr schön charakterisiert: Die Geheimnisse der Mélisande
Aufnahmen gibt es viele, 33 verzeichnet Ommer bis 2005. Regelmäßig wird bei der Empfehlung von Aufnahmen auf die französische Vergangenheit verwiesen, auf die damalige französische Gesangskunst. Ich kann da nicht mitreden, ich besitze nur die Aufnahme Boulez´ mit Söderström aus dem Jahre 1969/70. Die aber finde ich sehr gut. Für Empfehlungen anderer Aufnahmen - und natürlich auch für sonstige Stellungnahmen - dankbar wäre ich trotzdem.
Viele Grüße
Thomas