Barockmusik mit romantischem Orchester, sie ist heute größtenteils verpönt, gilt als überholt und schwerfällig, veraltet und vorgestrig. Und doch wuchsen etliche Generationen mit eben derselben auf. Interpreten wie Karl Richter, Herbert von Karajan, Eugen Jochum und einige mehr nahmen von Bach (und primär soll es hier um Bach gehen) etliches auf.
Richter sowieso. Er ist ein Sonderfall. Zwar gibt es auch von ihm Aufnahmen aus anderen Epochen (Gluck, Mozart, Beethoven, gar Bruckner), doch war dies alles Randrepertoire. Er lebte Bach, sah sich vielleicht gar als seine Reinkarnation an. Kaum bezweifelt werden kann, daß gerade er sehr viel beigetragen hat zur Bach-Wiederentdeckung. Das große Jubiläumsjahr 1985 hat er gar nicht erlebt. Es hätte ihn gewiß gefreut zu sehen, daß seine Bemühungen Früchte trugen.
Die sog. "Universal-Dirigenten" spielten ebenfalls Bach ein. Hier muß nun der Name Karajan fallen. Er hat die h-Moll-Messe, das Magnificat, die Matthäus-Passion und andere besonders bekannte Bach-Werke z. T. sogar mehrfach eingespielt. Freilich großorchestral, wie auch Richter. Um nur noch einen Dritten in diesem Bunde zu nennen, wie gesagt, Jochum. Auch er nahm die Passionen, ja sogar das Weihnachts-Oratorium auf. Was Karajan und Jochum von Richter trennt, ist, daß Bach nicht ihren Kernbereich darstellte. Der lag bei beiden in der Klassik, mehr noch in der Romantik.
Die Frage, die in diesem Thread beantwortet werden soll, lautet: Sind diese Interpretationen von Barockmusik heute absolut unbrauchbar geworden? Macht man sich fast schon lächerlich, wenn man sich dieselben antut? Beweist man damit schlechten Geschmack? Bach, der wie Wagner oder Bruckner daherkommt, ist das nicht beinahe pervers?
Sicherlich: Dies war eine überspitzte Formulierung. Doch die Dogmatiker der HIP-Bewegung sehen das oftmals so. Oder zumindest scheint es so. Ihre Toleranz ist in der Frage oft auffällig gering. Komischerweise wird als "der" Sündenbock schlechthin nicht mal unbedingt Karl Richter (dem man ja – gewiß nicht zu unrecht – eine wahre Verbundenheit mit Bach attestiert), sondern Herbert von Karajan angesehen. Als einer, der Bach eben noch nebenbei einspielte, weil er alles abdecken wollte, ohne sich dieser Musik wirklich aus Herzen anzunehmen. Fünf Jahre Tamino stehen zumindest für diesen Eindruck. Dabei sprechen m. E. einige Fakten dagegen: Karajan hat beispielsweise niemals die Johannes-Passion aufgenommen, die Matthäus-Passion dagegen mehrfach. Ihm scheint also etwas an diesem Werk gelegen zu sein. Genauso die h-Moll-Messe wie auch auch die Brandenburgischen Konzerte nahm er in den 70ern bzw. Anfang der 80er noch einmal auf. Reines Kalkül? Er erwählte 1984 beim Silvesterkonzert (man höre und staune) das Bach'sche Magnificat. Nein, ich denke, daß Karajan durchaus auch zu dieser Musik einen Zugang hatte und sie nicht seelenlos mal eben einspielte.
Überhaupt: Höre ich mich bei Klassikhörern unter meinen Bekannten um, so finden viele die "romantisierten" Barock-Aufnahmen nach wie vor zumindest hörenswert, in etlichen Fällen haben sie gar einen höheren Stellenwert als die oft als spröde und kratzig empfundenen HIP-Aufnahmen (grad die frühen). Wer erreicht oder übertrifft etwa Karl Richters Bach-Kantaten mit ihren manieristisch anmutenden Steigerungen, die eine tiefe Verbundenheit mit dieser Musik ausdrücken, mit den wunderbaren Solisten? Richter lebte Bach, und das merkt man bis heute. Im Gesamteindruck ist mir Richters Bach noch heute lieber als jedweder HIP-Bach. Und auch Karajan hat seine Vorzüge. Man höre nur etwa das unglaubliche "Strecken" des "Fecit potentiam" im Magnificat – das offenbarte mir Facetten dieses Werkes, die ich nie zuvor kannte.
"http://www.youtube.com/watch?v=zuSg0abOP3c"
Doch genug der Worte, und auf eine interessante Diskussion.