Arnold Schönberg (1874-1951):
Gurrelieder - Oratorium in 3 Teilen 1900-11 (UA 1913)
für Sopran, Mezzosopran, 2 Tenöre, Baß, Sprecher, 3 vierstimmige Männerchöre, achtstimmigen gemischten Chor und großes Orchester
Uraufführungen
Uraufführung des I. Teils (in einer Bearbeitung für 2 Klaviere zu 8 Händen):
Ehrbar-Saal in Wien am 14. Januar 1910
Waldemar - Hans Nachod, Tenor; Tove - Martha Winternitz-Dorda, Sopran;
Etta Werndorf, Arnold Winternitz, Anton von Webern, Rudolf Weinrich, Klavier
Uraufführung der dreiteiligen Gesamtfassung:
Großer Musikvereinssaal, Wien; Sonntag, 23. Februar 1913
Waldemar - Hans Nachod, Tenor; Tove - Martha Winternitz-Dorda, Sopran; Waldtaube - Marya Freund, Alt; Klaus-Narr - Alfred Boruttau, Tenor; Bauer - Alexander Nosalewicz, Baß; Ferdinand Gregori, Sprecher;
Wiener Philharmonischer Chor, Wiener Kaufmännischer Gesangverein;
Wiener Tonkünstler-Orchester;
Leitung: Franz Schreker
Großer Musikvereinssaal in Wien, am Sonntagabend des 23. Februar 1913 um halb acht Uhr.
Vor der Uraufführung des Oratoriums 'Gurrelieder' des vom Großteil des Publikums als "Bürgerschreck" verschmähten Arnold Schönberg herrscht eine gespannte Atmosphäre. Immer wieder hatten Aufführungen der Werke des Komponisten in den vergangenen Jahren tumultartige Szenen und Skandale provoziert, so z. B. die Uraufführung seines 2. Streichquartetts (1907/08). Der Schöpfer der frühen symphonischen Dichtungen, Lieder und Kammermusik spätromantischer Prägung hatte sich konsequent - und von der ablehnenden Reaktion der zeitgenössischen Zuhörerschaft unbeeindruckt - zum eigensinnigen "Neutöner" entwickelt. Ein ebensolches eindrucksvolles Beispiel für seine tiefgreifende Radikalität hatte der Vater der 'Zweiten Wiener Schule' 1912 mit dem Melodram 'Pierrot Lunaire', opus 21 vorgelegt.
In Erwartung eines weiteren provozierenden "Events", das man nicht gewillt war, unkommentiert über sich ergehen zu lassen, hatte sich zur Uraufführung der 'Gurrelieder' unter die zahlreichen Zuhörer eine ganze Reihe von potentiellen Störenfrieden gemischt:
In hundert Augen lauert schon die Schadenfreude: heute wird man's ihm wieder einmal zeigen, ob er sich's wirklich erlauben darf, zu komponieren wie er will und nicht wie die anderen es ihm vorgemacht haben. Es kam jedoch gänzlich anders.
Das jubelnde Rufen, das schon nach dem ersten Teil losbrach, stieg zum Tumult nach dem dritten, ... Und als dann der machtvoll aufbrausende Sonnenaufgangsgruß des Chors vorüber war, ... kannte das Jauchzen keine Grenze mehr; mit tränennassen Gesichtern wurde dem Tondichter ein Dank entgegengerufen, der wärmer und eindringlicher klang, als es sonst bei einem "Erfolg" zu sein pflegt: er klang wie eine Abbitte.
Ein paar junge Leute, die ich nicht kannte, kamen mit schamglühenden Wangen und gestanden mir: sie hätten Hausschlüssel mitgebracht, um zu Schönbergs Musik die ihnen angemessen erscheinende hinzuzufügen, und nun seien sie so ganz zu ihm bezwungen worden, daß sie nun nichts mehr von ihm abbringen könne.
Nicht nur die Publikumsreaktionen, sondern auch die durchweg positiven Zeitungsberichte deuteten bereits an, daß dieses Uraufführungskonzert als einer der größten Erfolge des Komponisten in die Rezeptionsgeschichte der Schönbergschen Werke eingehen sollte.
Wie kam es aber nun dazu, daß ein derart publikumsfreundliches, im Schönklang der Spätromantik schwelgendes, opulent besetztes und umfangreiches Opus in einer Zeit präsentiert wurde, in der Schönberg längst die Grenzen der Tonalität hinter sich gelassen hatte? -
Wie sich im Folgenden zeigen wird, hatte sich der Komponist keinesfalls zum Romantiker zurückentwickelt, um sich einem konservativen Publikum anzubiedern, sondern es kam 1913 zur längst überfälligen Aufführung eines Werkes, dessen Komposition zwar lange vollendet worden war, deren Orchestrierung sich jedoch (mit Unterbrechungen) etwa zehn Jahre hingezogen hatte.
Autor und Text
Jens Peter Jacobsen (1847-1885)
Gurresange (Gurrelieder) aus der Sammlung: En cactus springer ud (Ein Kaktus blüht) - Novelle 1869/70 (1886 erschienen)
Deutsche Übersetzung: Robert Franz Arnold (1872-1938) (eigentlich: Levisohn)
Übersetzung 1897 entstanden und 1899 erschienen.
Der von Schönberg vertonte Text stammt aus der Feder des dänischen Botanikers und Dichters Jens Peter Jacobsen (1847-1885). Der überzeugte Darwinist war um die Jahrhundertwende ein vielgelesener, populärer Romanautor.
Die Versfolge 'Gurresange' hat Jacobsen mit weiteren, in impressionistischem Stil gehaltenen Jugendgedichten zu einer Novelle mit Rahmenhandlung zusammengefügt: In 'En cactus springer ud' ('Ein Kaktus blüht') vertreiben fünf junge Männer sich selbst sowie ihrem Gastgeber nebst Tochter die Zeit durch das Vortragen eigener Werke (darunter 'Gurresange'), während man auf das Aufblühen eines seltenen Kaktus wartet.
Der Inhalt der 'Gurresange'-Gedichte gründet sich auf den im 19. Jahrhundert sehr beliebten und in etlichen Fassungen überlieferten mittelalterlichen Sagenstoff (I. Teil) um die heimliche Liebe des dänischen Königs Valdemar (oder auch Volmer) IV. Atterdag zu dem schönen Mädchen Tovelille (kleine Taube) auf Schloß Gurre am Esrom-See (nördlich von Kopenhagen). Zum Ende des I. Teils verkündet die Stimme der Waldtaube den Tod Toves durch die rasend eifersüchtige Königin Helwig.
Der sehr kurz gehaltene II. Teil enthält eine wilde Gottes-Anklage Waldemars, in der er - verzweifelt über den Verlust der Geliebten - unverhohlen die allzu menschlichen Züge des tyrannischen Herrschers verurteilt.
Die im III. Teil geschilderte 'Wilde Jagd', nach der König Waldemar und seine Mannen dazu verdammt sind, als unerlöste Tote rastlos durch die Nacht zu reiten, entstammt einem eigenen Sagenkreis und wurde erst später mit der 'Gurre'-Legende verknüpft.
Mit Einführung der Figuren des abergläubischen Bauern und des Klaus-Narr erfährt die Geschichte, insbesondere bezüglich allzu naiver, irdisch-menschlicher Vorstellungen von Gott, Himmel, Sünde, Strafe und Erlösung eine ironische Brechung.
Der das Werk beschließende Abschnitt 'Des Sommerwindes wilde Jagd' beschreibt die im Tages- und Jahresrhythmus stets wiederkehrende Auferstehung der Natur. Und vor allem in der anschaulichen Schilderung der Pflanzen, der Tiere, des Windes und schließlich der aufgehenden Sonne zeigt sich überaus deutlich die exakte Beobachtungsgabe Jacobsens, des studierten Botanikers und Naturwissenschaftlers, der jedoch darüber hinaus von den zeitgenössischen spekulativen Theorien über das Seelenleben der Pflanzen beeinflußt war.
Und somit findet die Handlung des Werkes nicht wie bei Wagner im Liebestod ihr Ende, sondern - versinnbildlicht im strahlenden Aufgang der Sonne - in einer hymnischen Verklärung der allumfassenden Natur.
Im vorletzten Gesang des III. Teils spricht Waldemar die Vorstellung von der beseelten Natur aus. Tove und die Natur sind eins geworden:
Mit Toves Stimme flüstert der Wald,
mit Toves Augen schaut der See,
mit Toves Lächeln leuchten die Sterne ...
Entstehung
Schönberg lernte Jacobsens Gedichte in der Übersetzung des Wiener Philologen Robert Franz Arnold (1872-1938) kennen, die 1897 entstand und 1899 im Druck erschien.
Auf die Ausschreibung eines Komponistenwettbewerbes des Wiener Tonkünstler-Vereins hin begann Schönberg vom Jahre 1900 an, einige Gedichte als Liederzyklus für Gesang und Klavier zu vertonen. Weil er jedoch den Liedern wegen ihrer Neuartigkeit keine großen Erfolgschancen bei dem Wettbewerb einräumte, reichte er diese nicht ein, sondern verwendete sie als Grundlage zur Schaffung eines großen, dreiteiligen Oratoriums für Solisten, Chöre und Orchester, wobei die Komposition bereits 1901 vollendet wurde, die Umarbeitung und aufwändige Instrumentierung sich aber - verursacht durch längere Unterbrechungen - bis 1911 hinzog.
Besetzung
Soli:
Singstimmen: Sopran, Mezzosopran, 2 Tenöre, Baß; Sprechstimme: 1 Sprecher (Melodram)
Rollen: Waldemar - Tenor; Tove - Sopran; Waldtaube - Mezzosopran; Bauer - Baß; Klaus-Narr - Tenor
Chöre:
3 vierstimmige Männerchöre, 1 achtstimmiger gemischter Chor
Orchester:
Holzbläser: 4 Piccoloflöten, 4 Flöten, 3 Oboen, 2 Englischhörner, 3 Klarinetten in A oder B, 2 Klarinetten in Es, 2 Baßklarinetten, 3 Fagotte, 2 Kontrafagotte
Blechbläser: 10 Hörner, 6 Trompeten, 1 Baßtrompete, 1 Altposaune, 4 Tenorposaunen, 1 Baßposaune, 1 Kontrabaßposaune, 1 Kontrabaßtuba
Schlagzeug: 6 Pauken, Große Rührtrommel, Becken, Triangel, Glockenspiel, kleine Trommel, große Trommel, Xylophon, Ratschen, Tamtam, einige große eiserne Ketten
4 Harfen, Celesta
ca. 80 Streicher: Violinen I - zehnfach geteilt, Violinen II - zehnfach geteilt, Bratschen - achtfach geteilt, Celli - achtfach geteilt (sämtlich in mehrfacher Besetzung), Kontrabässe
Aufführungsdauer: ca. 1:50:00
Aufbau
I. Teil
Orchestervorspiel (Mäßig bewegt)
1. Waldemar: Nun dämpft die Dämm'rung jeden Ton von Meer und Land
2. Tove: Oh, wenn des Mondes Strahlen leise gleiten, und Friede sich und Ruh durchs All verbreiten
3. Waldemar: Roß! Mein Roß! Was schleichst du so träg! Nein, ich seh's es flieht der Weg hurtig unter der Hufe Tritten.
4. Tove: Sterne jubeln, das Meer, es leuchtet, preßt an die Küste sein pochendes Herz
5. Waldemar: So tanzen die Engel vor Gottes Thron nicht, wie die Welt nun tanzt vor mir.
6. Tove: Nun sag ich dir zum ersten Mal: "König Volmer, ich liebe dich!"
7. Waldemar: Es ist Mitternachtszeit, und unsel'ge Geschlechter stehn auf aus vergess'nen, eingesunknen Gräbern
8. Tove: Du sendest mir einen Liebesblick und senkst das Auge, doch der Blick preßt deine Hand in meine
9. Waldemar: Du wunderliche Tove! So reich durch dich nun bin ich, daß nicht einmal mehr ein Wunsch mir eigen.
Orchesterzwischenspiel (Ein wenig bewegter)
10. Stimme der Waldtaube: Tauben von Gurre! Sorge quält mich, vom Weg über die Insel her! Kommet! Lauschet!
II. Teil
11. Waldemar: Herrgott, weißt du, was du tatest, als klein Tove mir verstarb?
III. Teil: Die wilde Jagd
12. Waldemar: Erwacht, König Waldemars Mannen wert! Schnallt an die Lende das rostige Schwert
13. Bauer: Deckel des Sarges klappert und klappt, schwer kommt's her durch die Nacht getrabt.
14. Waldemars Mannen: Gegrüßt, o König, an Gurresees Strand! Nun jagen wir über das Inselland. Holla!
15. Waldemar: Mit Toves Stimme flüstert der Wald, mit Toves Augen schaut der See
16. Klaus-Narr: "Ein seltsamer Vogel ist so 'n Aal, im Wasser lebt er meist, kommt doch bei Mondschein dann und wann ..."
17. Waldemar: Du strenger Richter droben, du lachst meiner Schmerzen, doch dereinst beim Auferstehn des Gebeins
18. Waldemars Mannen: Der Hahn erhebt den Kopf zur Kraht, hat den Tag schon im Schnabel
Des Sommerwindes wilde Jagd
Orchestervorspiel (Langsam)
19. Melodram - Sprecher: Herr Gänsefuß, Frau Gänsekraut, nun duckt euch nur geschwind
20. Gemischter Chor: Seht die Sonne, farbenfroh am Himmelssaum, östlich grüßt ihr Morgentraum!
Die Komposition
"Verschwenderische Melodienvielfalt", "ausdrucksgesättigte Tonsprache", "romantischer Überschwang", "weit gespannte, expressive Melodiebögen", "hymnisch prachtvolle Klänge", "Riesenbesetzung", "differenzierteste Orchestrierung", "Wagner-Nachfolge", . . . - diese oder ähnliche Schlagworte begegnen dem Leser von Konzertkritiken, Einführungstexten und Werkbesprechungen bei dem Versuch, prägnante Charakterisierungen zu Schönbergs bedeutendem Oratorium zu formulieren. Attribute, die bereits einen sehr treffenden Einblick in die Klangwelt der 'Gurrelieder' vermitteln und die darüber hinaus die so ungemein große Begeisterung des Publikums während und nach der Uraufführung sowie nach zeitgenössischen konzertanten Darbietungen des Werkes nachvollziehbar macht.
In der Tat schöpft der zu Beginn der Komposition (im Jahre 1900) 26-jährige Schönberg in jeder Hinsicht aus dem Vollen. Die an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert vorherrschende Neigung zum Gigantismus offenbart sich bei den 'Gurreliedern' bereits im Hinblick auf das immense vokale wie instrumentale Aufgebot an Mitwirkenden. Ähnlich wie in Gustav Mahlers VIII., der sogenannten "Symphonie der Tausend" (1906/07) oder Havergal Brians I., der "Gothic Symphony" (1919-27), verlangt der Komponist der 'Gurrelieder' einen riesigen Aufführungsapparat von fünf Gesangssolisten, einem Sprecher sowie die erst im III. Teil hinzutretenden Chöre - bestehend aus drei, jeweils vierstimmigen, Männerchören und einem großen, achtstimmigen gemischten Chor. Und auch der instrumentale Aufwand ist, wie obige Orchesterauflistung zeigt, außergewöhnlich umfangreich und vielfältig. (Das Orchester soll eine Anzahl von mindestens 150 Musikern umfassen!)
Allerdings erliegt der noch junge Komponist in keiner Weise der Versuchung, angesichts solcher Möglichkeiten ungehinderter Klangentfaltung, eine ausschließlich auf äußerliche Effekte zielende, lärmig-bombastische Geräuschkulisse zu produzieren, sondern er erweitert das Wagnersche Orchester zwar einerseits zur heftigen Klangmassierung an bestimmten Punkten der Komposition (vor allem im III. Teil), reichert es aber vielmehr an, um feinste und differenzierteste Klangbilder von betörender Schönheit zu gestalten. Eine hoch entwickelte Kunst der Nuancierung also, die auch Schönbergs berühmte Komponistenkollegen zeitgleich zur Entstehung der 'Gurrelieder' entwarfen, z. B. das so überaus fein und raffiniert eingesetzte und in nur allen erdenklichen Farben schillernde und funkelnde Orchester eines Alexander von Zemlinsky in 'Die Seejungfrau' (1903), eines Franz Schreker in seinem ersten großen Bühnenerfolg 'Der ferne Klang' (1901-10) oder des 14-jährigen Erich Wolfgang Korngold in der 'Sinfonietta' von 1911/12.
Jedoch nicht nur bezüglich der Besetzung zeigt sich die ungeheure Fülle an Mitteln, derer sich Schönberg bedient - auch hinsichtlich der Wahl der Gattung offenbart sich bei genauerer Betrachtung ein vielseitiges Bild. So gibt der Komponist seinem großen, noch in spätromantischer Tradition stehenden Werk eine heterogene Form - gestaltet es aus Elementen eines Liederzyklus, eines Oratoriums, eines Musikdramas sowie eines Melodrams.
Stilistisch geht Schönberg in seinen 'Gurreliedern' von Richard Wagner aus. Die Prinzipien einer "schwebenden Tonalität" neben der fortschreitenden "Emanzipation der Dissonanz" sind ebenso präsent wie die Verwendung von Leit- und Erinnerungsmotiven, welche in abgewandelter Form und in immer neuen Kombinationen das ganze Werk durchziehen. Die dramaturgische Weiterentwicklung dieser musikalischen Themen und Motive beruht hingegen auf dem auf Johannes Brahms zurückgehende Prinzip der "entwickelnden Variation".
Eine 100 Seiten starke thematische und harmonische Analyse legt Alban Berg 1912 in dem ein Jahr später von der Universal-Edition verlegten 'Gurrelieder-Führer' vor, in dem er anhand von 129 Notenbeispielen das über die gesamte Komposition gesponnene, dicht gewebte Netz an thematischen Beziehungen, melodischen wie harmonischen Verknüpfungen offenlegt.
Wie bereits erwähnt, gliedert sich Schönbergs Oratorium in drei in sich geschlossene Teile, die jedoch durch Themen der Vorahnung (I. Teil) bzw. Erinnerung (III. Teil) miteinander verbunden sind. Die das Werk umrahmenden Naturbilder des Sonnenuntergangs zu Beginn und des Sonnenaufgangs am Ende sind auch musikalisch miteinander verklammert, vor allem durch den in unterschiedlichen Ausprägungen erklingenden Quintsextakkord, der eines der wichtigsten kompositorischen Elemente der 'Gurrelieder' bildet.
I. Teil
An den Beginn des I. Teils ist ein etwa siebenminütiges Vorspiel in Es-dur gesetzt, welches in seinen hoch differenzierten und wunderbar delikaten Orchesterklängen, die friedlich-beschauliche Atmosphäre eines Sonnenuntergangs schildert.
Bei der sich unmittelbar anschließenden Folge von neun Liedern handelt es sich um einander stetig abwechselnde Gesänge zwischen Tenor (Waldemar) und Sopran (Tove) - eine Reihung lyrischer Monologe, wie sie sich z. B. in Gustav Mahlers 'Lied von der Erde' (1907/08) oder Alexander von Zemlinskys 'Lyrischer Symphonie' (1922) findet, d. h. die beiden Solostimmen vereinen sich an keiner Stelle der Komposition zu einem Zwiegesang oder gar zu Ensembleszenen. Allerdings geht Schönberg in der Gestaltung seines Werkes mit der auch in diesem Punkt an Wagner erinnernden durchkomponierten Form über Mahlers Konzeption hinaus, indem er die einzelnen Lieder mithilfe von motivischen Verflechtungen sowie durch Überleitungen bzw. Zwischenspiele des Orchesters miteinander verbindet und diese somit zu einer weit gespannten Form zusammenfaßt.
Die paarweise angelegten Gesänge von Waldemar und Tove sind jeweils einem bestimmten Ausdrucksgehalt verpflichtet. Die ersten beiden, die Naturstimmungen der Dämmerung und der Nacht beschwörenden Lieder, sind in noch gänzlich kontemplativer Stimmung des Vorspiels gehalten. Dem entgegengesetzt, sind die ersten großen stürmischen Ausbrüche leidenschaftlicher Gefühle in den Gesängen III und IV, die Waldemars und Toves Vorfreude und erregte Erwartung auf die bevorstehende Begegnung widerspiegeln. Nach den beiden folgenden, vom Glück der Liebe handelnden Liedern (V und VI) schlägt die Stimmung in Nr. VII plötzlich in eine düstere Atmosphäre um. Waldemars "Es ist Mitternachtszeit ..." ist als - das Unheil vorausahnende - Todesvision bereits geprägt von den Motiven des Gespensterzuges aus dem III. Teil. Der letzte Gesang Toves (Nr. VIII) steht, mit der Idee der Verschränkung von verbotener Liebe und Todessehnsucht, ganz in der Tradition von Wagners 'Tristan und Isolde' (Tove: "So laß uns die goldene Schale leeren ihm, dem mächtig verschönenden Tod: Denn wir gehn zu Grab wie ein Lächeln, ersterbend im seligen Kuß!"). Nach einer nochmaligen Erwiderung Waldemars im IX. Gesang wird die Folge der lyrischen Monologe durch Toves Ermordung unterbrochen. Die schreckliche Tat erfährt der Hörer jedoch zunächst nicht aus dem Text, sondern mithilfe des Orchesters; denn der anschließende orchestrale Abschnitt hat nicht nur die Funktion eines die Gesänge verbindenden Zwischenspiels, sondern er erzählt die Geschichte, die die Worte verschweigen, eigenständig weiter. Die stetig gesteigerte Erregung gipfelt schließlich in einem gewaltigen Tutti-Schlag des Orchesters (in Takt 950), welcher dem Hörer den grausamen Angriff der rachesüchtigen Königin Helwig plastisch vor Ohren führt. In denkbar größtem Kontrast dazu erhebt sich unmittelbar anschließend die Stimme eines einsamen Englischhorns in fahlem, gebrochenem Tonfall. Die Waldtaube berichtet in ihrem Klagelied von Toves Tod und Waldemars Trauerzug. Ihr Gesang sowie der sie begleitende Orchesterpart steigern sich von kammermusikalischer Schlichtheit zum opernhaft dramatischen Höhepunkt und wirkungsvollen Abschluß des I. Teils.
An dieser Stelle ist für Aufführungen des Oratoriums eine Pause vorgesehen.
II. Teil
Im nur aus einer einzigen wilden Gottesanklage König Waldemars bestehenden II. Teil beherrschen vorrangig Trauer, Verzweiflung und Wut die Stimmung des etwa fünfminütigen Stücks. Aus einem zunächst zaghaft tappenden Trauermarsch zu Beginn entwickelt sich die Gangart über einen nobel dahinschreitenden Duktus (Waldemar: "Herrgott, ich bin auch ein Herrscher") hin zu einem unerbittlich vorwärtstreibenden Marsch-Rhythmus am Ende. Auch hier - wie im I. Teil - eine Vorausdeutung auf die im III. Teil von Waldemar selbst angeführte 'wilde Jagd'.
III. Teil
Der III. und letzte Teil der 'Gurrelieder' erscheint durch die von Schönberg verwendeten verschiedenen Gattungselemente (Lieder, Chöre, Opernattitüde, Melodram), die kontrastreichen Stimmungen (Schauerromantik, Ironie, Wiedererweckungsjubel) sowie die neu hinzukommenden Figuren (abergläubischer Bauer, skurriler Klaus-Narr, Sprecher als distanzierter Beobachter) als der heterogenste des Werks. In der Länge in etwa dem I. Teil zu vergleichen, unterscheidet er sich jedoch in vielen anderen Punkten radikal von diesem:
Ist der I. nach dem Muster eines symphonischen Zyklus von Orchesterliedern gestaltet, so nimmt der III. die Form einer dramatischen Kantate an.
Auch bezüglich der Orchesterbehandlung bestehen gravierende Unterschiede, als Schönberg im I. Teil - von Wagner ausgehend - das ihm zur Verfügung stehende gewaltige Instrumentarium als Palette für Farbmischungen verwendet und im Gegensatz dazu im III. die Instrumente öfter solistisch einsetzt und mit anderen Soloinstrumenten zu neuartigen Klangkombinationen in Verbindung bringt, also eine Entmischung der Farbpalette anstrebt.
Der III. Teil, mit der Überschrift 'Die wilde Jagd', steht - bis auf den verklärten Schluß - gänzlich im Zeichen einer seit Webers 'Freischütz' in die Musik eingegangenen Schauerromantik. Der Tonschöpfer zeigt auch an dieser Stelle eine exzellente Begabung für wirkungsvolle Effekte neben einer perfekten Beherrschung der kompositorischen Mittel. Der Beginn der düsteren Szene steht in der nächtlichen bzw. Todestonart es-moll und bildet in dieser Hinsicht den größt möglichen Kontrast zum strahlenden Chorfinale in der Sonnen- und Lichttonart C-dur. Die schaurig-gespenstische Atmosphäre des mitternächtlichen Schauplatzes wechselt mit wuchtig wilden Passagen der als unerlöste Tote durch die Luft dahin brausenden Mannen Waldemars. In diesem Abschnitt scheut Schönberg einerseits nicht den Einsatz von plakativeren Mitteln z. B. mit der Verwendung von klirrenden großen Eisenketten zur Untermalung der Gruselstimmung (ähnlich wie Richard Strauss in seiner 'Alpensymphonie' Wind- und Donnermaschine zur naturalistischen Darstellung von Sturm und Gewitter heranzieht), andererseits werden die mächtigen Chormassen in drei jeweils vierstimmige Gruppen gegliedert und deren Stimmen höchst kunstvoll polyphon in Kanontechnik geführt und verweisen damit auf den alten musikalischen Topos von Jagd - Flucht - Fuge.
Die in die Passagen der wilden Jagd und der immer wieder aufflammenden Klagegesänge Waldemars über den Verlust seiner Geliebten Tove eingefügten Abschnitte des abergläubischen Bauern, der sich vor dem Geisterspuk zu verbergen sucht sowie des einen skurrilen Humor anschlagenden grotesken Liedes des Klaus-Narr erhalten die Funktion, die jeweilige pathetische Atmosphäre der Trauer oder des Unheils ironisch kommentierend zu brechen.
Ein letzter Mannen-Gesang, der teils vom Orchester kammermusikalisch begleitet wird bzw. teils sogar a cappella erklingt, verflüchtigt sich kurz vor Anbruch des neuen Tages. An der Stelle, an welcher sich die Auflösung des Spuks vollzieht, verleiht Schönberg den Stimmen der nicht zur Ruhe kommenden Seelen einen wahrlich geisterhaften Klangcharakter, indem er die Tenöre in höchsten Lagen im Falsett singen läßt sowie die Bässe in tiefsten Regionen: "O, könnten in Frieden wir schlafen!"
Auch die Tönung im Orchester verdunkelt sich bis ins Schwarze (durch die Verwendung sehr tiefer Holz- und Blechbläser).
Der nach einer kurzen Pause einsetzende, letzte Abschnitt 'Des Sommerwindes wilde Jagd' beginnt in seinem Orchestervorspiel demgegenüber in den höchsten Regionen der Holzbläser. Beim Hören dieser ungewöhnlichen Klänge, die wie ein feines Lispeln und Wispern erscheinen, stellen sich Assoziationen eines zunächst leicht wehenden, durch Gräser und Pflanzen streichenden Windes ein.
Der am weitesten in die Zukunft vorausweisende Teil der 'Gurrelieder' stellt das unmittelbar anschließende Melodram dar, welches eine Schilderung der wiedererwachenden Natur am frühen Morgen enthält. Der Dichter und Botaniker selbst liegt am Gurresee und beobachtet die sich allmählich regenden Tiere, die sich öffnenden Blüten der Blumen unter seinem Vergrößerungsglas.
Als Vorbild für die von Schönberg übernommene Neuerung des Sprechgesangs darf wohl Engelbert Humperdincks Melodram 'Königskinder' (in der 1. Fassung von 1897) gelten. Danach ist neben dem Rhythmus auch die Tonhöhe der Sprechstimme durch eine eigene Notenschrift genau vorgegeben. Auch in späteren Werken greift der Komponist das Sprechen bzw. den Sprechgesang zu einer instrumentalen Begleitung - jedoch in ausdifferenzierterer Weise - immer wieder auf, z. B. in 'Pierrot Lunaire' (1912) oder 'Ein Überlebender aus Warschau' (1947).
Die letzte Passage des Sprechers, mit den Worten "Erwacht, erwacht, ihr Blumen zur Wonne!", mündet nahtlos in den gewaltigen, achtstimmigen Schlußchor. Das Nachtstück 'Gurrelieder' endet in einer hymnischen Begrüßung der aufgehenden, lebensspenden Sonne in C-dur, dem wohl strahlendsten und überwältigendsten Sonnenaufgang, der je komponiert wurde.
Seht die Sonne,
farbenfroh am Himmelssaum,
östlich grüßt ihr Morgentraum!
Lächelnd kommt sie aufgestiegen
aus den Fluten der Nacht,
läßt von lichter Stirne fliegen
Strahlenlockenpracht!
Einspielungen
Die folgende, nach Aufnahmedatum geordnete Auflistung enthält sämtliche (bis heute 18) auf Tonträger erschienenen Gesamteinspielungen der 'Gurrelieder'.
Die erste komplette Aufnahme des Werks entstand im Jahre 1932 mit dem Philadelphia Orchestra unter Leitung von Leopold Stokowski:
Waldemar - Paul Althouse, Tenor; Tove - Jeanette Vreeland, Sopran; Waldtaube - Rose Bampton, Mezzosopran; Klaus-Narr - Robert Bette, Tenor; Bauer - Abrasha Robofsky, Baß; Benjamin de Loache, Sprecher;
Princeton Glee Club, Fortnightly Club, Mendelssohn Club, Eight part mixed chorus;
Philadelphia Orchestra, Leopold Stokowski
Aufnahme: Live, Philadelphia, 04/1932, mono
Labels: RCA Victor / EMI / Pearl
Richard Lewis, Ethel Semser, Nell Tangeman, Ferry Gruber, John Riley, Morris Gesell;
Chorus & Orchestra of the New Symphony Society Paris, René Leibowitz
Aufnahme: Paris, 10/1953, mono
Labels: Haydn Society / Nixa / Erato / Vox / Lys / Preiser
Herbert Schachtschneider, Inge Borkh, Hertha Töpper, Lorenz Fehenberger, Kieth Engen, Hans Herbert Fiedler;
Chor und Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, Rafael Kubelik
Aufnahme: München, 03/1965, stereo
Label: Deutsche Grammophon
Alexander Young, Martina Arroyo, Janet Baker, Niels Møller, Odd Wolstad, Julius Patzak;
Danish State Radio Chorus, Danish Radio Symphony & Concert Orchestras, János Ferencsik
Aufnahme: Kopenhagen, 03/1968, stereo
Label: EMI
Arturo Sergi, Gundula Janowitz, Christa Ludwig, Murray Dickie, Herbert Lackner, Eva Pilz;
Chor der Wiener Singakademie, Wiener Schubertbund, Chorus Viennensis, Wiener Symphoniker, Josef Krips
Aufnahme: Live, Wien, 06/1969, stereo
Label: Arkadia
Jess Thomas, Marita Napier, Yvonne Minton, Kenneth Bowen, Siegmund Nimsgern, Günter Reich;
BBC Singers, BBC Choral Society, Goldsmith's Choral Union, Gentlemen of the London Philharmonic Choir,
BBC Symphony Orchestra, Pierre Boulez
Aufnahme: London, 11 & 12/1974, stereo
Labels: Columbia / CBS / Sony Classical
James McCracken, Jessye Norman, Tatiana Troyanos, Kim Scown, David Arnold, Werner Klemperer;
Tanglewood Festival Chorus, Boston Symphony Orchestra, Seiji Ozawa
Aufnahme: Live, Boston, 03 & 04/1979, stereo
Labels: Philips / Aquarius
Siegfried Jerusalem, Susan Dunn, Brigitte Fassbaender, Peter Haage, Hermann Becht, Hans Hotter;
Chor der St. Hedwigs-Kathedrale Berlin, Städtischer Musikverein zu Düsseldorf,
Radio-Symphonie-Orchester Berlin, Riccardo Chailly
Aufnahme: Berlin, 05 & 06/1985, stereo, DDD
Label: Decca
Manfred Jung, Eva-Maria Bundschuh, Rosemarie Lang, Wolf Appel, Ulrich Cold, Gert Westphal;
Rundfunkchor Berlin, Rundfunkchor Leipzig, Prager Männerchor,
Dresdner Philharmonie, Mitglieder des Rundfunk-Sinfonie-Orchesters Leipzig, Herbert Kegel
Aufnahme: Dresden, 08/1986, stereo, DDD
Labels: Eterna / Berlin Classics / Edel Classics
Paul Frey, Elizabeth Connell, Jard van Nes, Volker Vogel, Walton Grönroos, Hans Franzen;
Chor des NDR Hamburg, Chor des Bayerischen Rundfunks, Opernchor der Städtischen Bühnen Frankfurt a. M.,
Radio-Sinfonie-Orchester Frankfurt, Eliahu Inbal
Aufnahme: Frankfurt a. M., 05/1990, stereo, DDD
Labels: Denon / Brilliant Classics
Gary Lakes, Eva Marton, Florence Quivar, Jon Garrison, John Cheek, Hans Hotter;
New York Choral Artists, New York Philharmonic Orchestra, Zubin Mehta
Aufnahme: New York, 05/1991, stereo, DDD
Label: Sony Classical
Siegfried Jerusalem, Sharon Sweet, Marjana Lipovšek, Philip Langridge, Hartmut Welker, Barbara Sukowa;
Konzertvereinigung Wiener Staatsopernchor, Arnold Schönberg Chor, Slowakischer Philharmonischer Chor Bratislawa,
Wiener Philharmoniker, Claudio Abbado
Aufnahme: Live, Wien, 05/1992, stereo, DDD
Label: Deutsche Grammophon
Thomas Moser, Deborah Voigt, Jennifer Larmore, Kenneth Riegel, Bernd Weikl, Klaus Maria Brandauer;
Chor der Sächsischen Staatsoper Dresden, Chor des Mitteldeutschen Rundfunks Leipzig, Prager Männerchor,
Staatskapelle Dresden, Giuseppe Sinopoli
Aufnahme: Live, Dresden, 08/1995, stereo, DDD
Label: Teldec
Ben Heppner, Deborah Voigt, Waltraud Meier, Matthew Polenzani, Eike Wilm Schulte, Ernst Haefliger;
Philharmonischer Chor München, Herrenchor der Bamberger Symphoniker, Münchner Philharmoniker, James Levine
Aufnahme: Live, München, 07/2001, stereo, DDD
Label: Oehms Classics
Thomas Moser, Karita Mattila, Anne Sofie von Otter, Philip Langridge, Thomas Quasthoff, Thomas Quasthoff;
Rundfunkchor Berlin, MDR Rundfunkchor Leipzig, Männerstimmen des Ernst-Senff-Chors Berlin,
Berliner Philharmoniker, Simon Rattle
Aufnahme: Live, Berlin, 09/2001, stereo, DDD
Label: EMI Classics
Stephen O'Mara, Melanie Diener, Jennifer Lane, Martyn Hill, David Wilson-Johnson, Ernst Haefliger;
Simon Joly Chorale, Philharmonia Orchestra London, Robert Craft
Aufnahme: London, 10/2001, stereo, DDD
Labels: Koch International Classics / Naxos
Robert Dean Smith, Melanie Diener, Yvonne Naef, Gerhard Siegel, Ralf Lukas, Andreas Schmidt;
Chor des Bayerischen Rundfunks, MDR Rundfunkchor Leipzig,
SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg, Michael Gielen
Aufnahme: Freiburg i. Br. / Frankfurt a. M., 10/2006, stereo, DDD, Multichannel
Label: Hänssler Classic
Stig Andersen, Soile Isokoski, Monica Groop, Andreas Conrad, Ralf Lukas, Barbara Sukowa;
Philharmonia Voices, City of Birmingham Symphony Chorus,
Philharmonia Orchestra London, Esa-Pekka Salonen
Aufnahme: Live, London, 02/2009, stereo, DDD, Multichannel
Label: Signum
Schöne Grüße
Johannes