"Spannende" Interpretationen - eine Mode von heute ?

  • Mir erschließt sich der Mehrwert nicht, den ich von der Zigsten Aufnahme der Beethoven-Sinfonien haben soll, um nur ein Beispiel zu nennen. Letztlich zählt nur ein Kriterium: erreicht mich ein Werk, erreicht es mein Inneres oder tut es das eben nicht. Insofern sind Hörerlebnisse nicht oder nur kaum verhandelbar. "Spannend" stammt aus dem gleichen Sprachreseservoir wie "gegen den Strich gebürstet", "keine Kanten geglättet", "auf Siedehitze dirigiert".

    Lieber Thomas,


    :huh: da bin aber jetzt überrascht über Deine Aussagen.

    Es ist doch wahnsinnig interessant gerade von den Beethoven - Sinfonien mehrere Sichtweisen zu hören, zu vergleichen und diese auch zu Verfügung zu haben. Es gibt kaum einen Zyklus von dem ich mehr Auswahlmöglichkeiten zur Verfügung habe ... ich wollte schon lange aufhören einen weiteren zu kaufen, aber ma wird ja durch Neuerscheinungen und Taminowerbung immer wieder angeregt ... es dürften auf CD bereits so um die 20 sein - und auf DVD (was ich besonders Klasse finde) habe ich 3 (Karajan 73, Bernstein / WPH, Paavo Järvi, Bonn 2000). Mit der Zeit kristallisiert sich dann auch heraus, welche Zyklen mir am hörenswertesten erscheinen; oder noch besser, welche abgesetzt werden können !

    Und jetzt kommts: Weil sie eben zu lasch sind und nicht "auf der Stuhlkante" musiziert !

    Beethovenbrahmsbrucknermozarthaydnschubertstraussbachvivaldihändelmendelsohnundbruch und wenn man in diesem Hamsterrad mitläuft mag es vielleicht wirklich hilfreich sein, wenn eine Aufnahme "Spannend, gegen den Strich gebürstet, kantig und ungeglättet und idealerweise noch auf Siedehitze dirigiert" ist. Und wenn man sowas mag und braucht.

    8) JA, ich brauche es ! :jubel:Das Vergleichen und das Suchen nach dem für mich idealen Zyklus (oder je nach Komponist auch DER Einzelaufnahme) macht mir jedenfalls unheimlich Spass.


    In diesem Thread war von HIP die Rede ... und das das "spannend" sein soll !?!

    Ich bin nicht der grosse HIP-FAN, weil mir der HIP-Sound zu dünn ist ... bei Beethoven, Schumann und Brahms (um nur mal die Drei zu nenn) wäre HIP für mein Klangempfinden fürchterlich ...

    ;) für Werke der Frühklassik kann ich es ja noch verstehen, weil die dann ggf mehr "zack" bekommen ...



    Die Zusammensetzung der Tamino-Mitglieder war damals eine andere und man konnte immer wieder lesen, diese oder jene Aufnahme sei "auf der Stuhlkante" gespielt worden - oder eben nicht. Und damit verbanden einige (oder viele ?), daß

    eine Aufnahme "spannend" oder "langweilig" sei. Mein Ärger über diese "Klassifizierung" sollte in diesem Threadtitel Ausdruck verliehen bekommen .......

    Ich finde durchaus an allen Ecken und Enden der KLassik, dass es sowohl "langweilige", wie auch "spannende" Aufnahmen in der Klassik gibt.

    Da gibts kein Grund für Ärger für diese Klassifizierung.


    :?: Warum sollte ich mich mit einer Aufnahme langweilen, wenn ich im voraus weiss, dass die langweilig ist ?

    8) Dann nutze ich doch meine wertvolle Hörzeit lieber sinnvoll und lege lieber gleich die auf, die mich anspricht, auffwühlt und ... ja, spannend ist !

    Gruß aus Bonn, Wolfgang

  • Bei der Beurteilung von Aufnahmen behelfe ich mich mit "Dr. Pingel´s Rasiermesser". Das ist ein Anklang an Occams Rasiermesser, aber natürlich theoretisch Lichtjahre darunter; ich brauchte bloß einen praktischen Begriff.

    Bei vielen Stücken habe ich bestimmte Teile oder Sätze, von denen ich das Hören oder Erwerben abhängig mache. Beispiel 1: Mahlers 4. Da höre ich den 4. Satz. Wenn da eine Opernstimme statt einer "Mädchenstimme" erklingt, muss ich den Rest auch nicht haben. Das gilt auch für die Titelrolle der Klugen. Also Lucia Popp statt Schwarzkopf. Beim Rosenkavalier ist es umgekehrt.

    Mahlers 10.: dieser fulminante Ausbruch (nachkomponiert) muss mich umhauen; ich nenne das auch Supernova (es gibt hier einen eigenen thread darüber). Monteverdis Marienvesper (hier fiel mir das zuerst auf): die Nr. 7, "Nisi Dominus", muss einen mitreißen, vor allem im Sopran. Hier sind für mich Gardiner und Ralf Otto der Maßstab. Herreweghe lässt das z.T. solistisch machen.

    Dieses Prinzip ist nicht immer anwendbar, etwa im großen Kanon der Sinfonien: da sitzt mein Rasiermesser eher hier bei bestimmten Taminos, von denen ich weiß, dass sie mehr Ahnung haben als ich. Bei der Alten Musik kann man sich zumeist auf das Renommée der Ensembles verlassen, falls man die überhaupt schon kennt.

    Canada is the US running by the Swiss (Richard Ford)

  • In diesem Thread war von HIP die Rede ... und das das "spannend" sein soll !?!

    Ich bin nicht der grosse HIP-FAN, weil mir der HIP-Sound zu dünn ist ... bei Beethoven, Schumann und Brahms (um nur mal die Drei zu nenn) wäre HIP für mein Klangempfinden fürchterlich ...

    ;) für Werke der Frühklassik kann ich es ja noch verstehen, weil die dann ggf mehr "zack" bekommen ...

    Als Liebhaber von HIP stimme ich dir da absolut zu. Das nervende Beispiel dazu war vor Jahren Norrington mit Bruckner 3.

    Solche Aufnahmen bekommen dann gute Freunde unter der Bedingung, dass sie sie mir nie zurückgeben dürfen.

    Bei Haydn kommt die Subtilität seiner Sinfonien besser mit einem kleinen Orchester heraus. Die müssen noch nicht mal auf alten Instrumenten spielen, das hat z.B. Simon Rattle mit einer kleinen Besetzung der Berliner Philharmoniker in Luzern gemacht, ein absolut "spannendes" Haydn-Pasticchio.

    Canada is the US running by the Swiss (Richard Ford)

  • Der Threadtitel ist natürlich etwas reißerisch, aber das ist soweit in Ordnung. Würde die These pauschal stimmen, so hätte es früher also keine spannenden Interpretationen gegeben. Das zu widerlegen ist nicht schwierig. Nervenaufreibender als manche Kriegsaufnahme unter Wilhelm Furtwängler dürfte beispielsweise weniges in der Diskographie sein.

    Das sehe ich ähnlich. Meiner Ansicht nach gab es etwa ab den 1960er Jahren, u.a. aufgrund der Reproduktion auf Schallplatten und daher nachhörbarer Genauigkeit bzw. Ungenauigkeit eine Tendenz zu eher ausgeglichenen, "mittleren" und hauptsächlich wohlklingenden Interpretationen. Dagegen findet man vorher ein breites Spektrum, inkl. "Extreme" wie Mengelberg, Furtwängler, Scherchen etc. (Es gab freilich schon in der ersten Hälfte des 20. Jhds. auch die andere Seite eher "exakter" und geradliniger Interpreten wie Szell, Reiner, Toscanini...)

    Bei Sängern und Pianisten hat man für "Exzentrisches" länger mehr Verständnis gehabt

    HIP ist erstmal nur anders, nicht "extrem". Es ist ja interpretatorisch nicht extrem oder "spannend", Knabenstimmen und alte Instrumente zu verwenden. Freilich war der andersartige Klang schon etwas Besonderes. Die Spielweise war lange weniger "rhetorisch", oft eher nüchtern und geradlinig. (Taruskin hat mal bzgl. vieler historisierender Interpretationen der 80er behauptet, sie spielten Bach eher wie neoklassischen Stravinsky, während Casals oder Furtwängler Bach im Grunde ebenso spielten wie sie Brahms spielten.) Das stimmte zugegeben bei Harnoncourt nie, bei neueren Interpreten oft auch nicht mehr.

    Einige der mitunter beklagten Extreme der letzten ca. 20 Jahre sind m.E. in erster Linie eine Folge der immer wieder neuen Einspielungen desselben Repertoires.* Man muss einfach irgendwas deutlich hörbar anders machen, um etwas Neues zu sagen. Teilweise ist es auch eine, vielleicht fragwürdige, aber nicht abwegige, neue Sichtweise auf bestimmte Musik. Barockmusik wurde halt lange mit wenigen Ausnahmen ignoriert; vieles davon ist, verglichen mit Bach, eben auch recht einfach gestrickt, d.h. man muss fantasievolle, abwechslungreiche Interpretationen bringen, sonst kann man es gleich lassen. Man muss eben auch sehen, dass die Musik oft dafür komponiert war, wenige Male gespielt zu werden bzw. ggf. ausgeziert zu werden (und wir wissen, dass das nicht nur ein paar Pralltriller waren).


    * Das trifft nicht auf alles zu, m.E. gäbe es, um bei sehr bekannten Komponisten zu bleiben, für etliche Werke Händels und Haydns durchaus noch Luft für herausragende Interpretationen, die nicht durch Manierismen auffallen müssten, um sich von den schon Vorliegenden abzuheben.

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Hingegen hat mich die etwa zu gleicher Zeit entstandene Aufnahme der Mozart-Konzerte KV 488 & KV 537 mit Friedrich Gulda restlos überzeugt, und das sowohl was den Pianisten als auch Harnoncourt betrifft. Für mich die überzeugendste Leistung Harnoncourts auf Platten außerhalb der Barockmusik:

    Diese Aufnahme mit Harnoncourt und Gulda gehört auch mit zu meinen schönsten Mozart Konzerten. Erstaunlich langweilig dagegen die Aufnahme von Harnoncourt und Aimard mit Beethoven Klavierkonzerten, nicht schlecht, aber auch nicht spannend ;).

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  • Erstaunlich langweilig dagegen die Aufnahme von Harnoncourt und Aimard mit Beethoven Klavierkonzerten, nicht schlecht, aber auch nicht spannend

    Lieber astewes,


    diese Aufnahmen kenne ich gar nicht. Ich weiß aber, daß die Kritik seinerzeit recht verhalten reagiert hat, weshalb ich mich gar nicht um sie bemüht habe.

    Dagegen ist der Mozart mit Friedrich Gulda ein ganz großer Wurf!


    LG Nemorino

    Die Welt ist ein ungeheurer Friedhof gestorbener Träume (Robert Schumann).

  • Diese Aufnahme mit Harnoncourt und Gulda gehört auch mit zu meinen schönsten Mozart Konzerten. Erstaunlich langweilig dagegen die Aufnahme von Harnoncourt und Aimard mit Beethoven Klavierkonzerten, nicht schlecht, aber auch nicht spannend ;).

    Die habe ich persönlich zwar aussortiert, aber sie war relativ originell anders. Langweilig fand ich die nicht, aber mir insgesamt zu langsam und nicht energisch genug. Wenn Harnoncourt die Beethovenkonzerte 10-15 Jahre vorher mit Argerich (es gab immer mal Gerüchte, es sei mit Argerich was geplant gewesen, aber die ist halt auch sehr besonders und hat ja letztlich nur Konzerte 1-3 gespielt) hätte das eine der besten Einspielungen werden können, so wurde es eher eine Kuriosität.

    Das Tripelkonzert habe ich erstmal noch behalten, das Violinkonzert mit Kremer ist besser/geradliniger vom Dirigat, aber das habe ich wegen der unerträglichen Kadenz aussortiert (eine Mischung aus der Klavierfassung, es taucht auf einmal ein Klavier auf).


    M.E. führt bei Interpretationen von Konzerten der notwendige Ausgleich zwischen Dirigent und Solist sehr oft zu "mittigen" Interpretationen. Vielleicht deswegen gibt es bis heute so gut wie keine Interpretation von Beethovenkonzerten (oder jedenfalls kenne ich keine, seit ca. Aimards verfolge ich das nicht mehr so) von der "Extremität" etwa Scherchens oder einiger HIP-Aufnahmen der Sinfonien. Bzw. wenn es mal so etwas gibt (Gould), wird es richtig exzentrisch.

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  • Spannung ist ja durchaus nicht gleich Spannung!


    (1) "Die Spannung nicht verlieren" heißt soviel wie: Die Konzentration lässt nicht nach, so dass man sich zerstreuen würde. Das bezieht sich dann auf die angespannte Aufmerksamkeit und Konzentration.


    Es gibt aber auch den spannenden Krimi. Hier meint Spannung, dass man auf das Ende und die Auflösung erwartungsvoll fixiert ist. Das ist dann etwas anderes als (1), nämlich ein dramatisierender Effekt. Dazu gehört eine Dynamisierung durch eine Straffung der Tempi, Kontrastsschärfung usw. So etwas ist aber unangebracht bei Musik von eher epischer Breite, die einen gelassenen Erzählduktus verlangt oder aber lyrischer Intimität.


    Wenn man diese Unterschiede bedenkt, dann kommt man dem näher, warum das künstliche "Aufpeppen" eben effekthascherisch wird, wenn es nicht mehr der Charakterisierung dient, sondern nur noch Wirkung, Effekt erzielen will.


    Schöne Grüße

    Holger

  • Spannend wird in meinem Umfeld sehr häufig benutzt, mehr am Rande desselben, weniger bei den Nahestehenden. Ich benutze es bisher (noch ?) nicht.

  • "Spannend" stammt aus dem gleichen Sprachreseservoir wie "gegen den Strich gebürstet", "keine Kanten geglättet", "auf Siedehitze dirigiert".Zumeist wirkt das auf mich abwertend, da mit diesen Beschreibungen das Exzeptionelle einer Aufnahme (zumeist ein Studiomachwerk mit unzähligen Schnitten wie auf dem Tisch eine Schönheitschirurgen oder eine nachbearbeitete Live-Aufzeichnung) unterstrichen und Vorhandenes in den Bereich des Biederen, Allgemeinen geschoben wird.

    Ganz genau, lieber Thomas. Das sagt dann auch mehr über den betreffenden Hörer aus, der ständig musikalische Aufputschmittel braucht, um sich nicht zu langweilen, weil er die eigentlichen musikalischen Qualitäten der Aufnahme, die durchaus spannend sind, aber sich eben im Unspektakulären verbergen, nicht mehr wahrnehmen kann. Wer die Verwandlung der Musik in ein Hörspektakel braucht, um an Musik überhaupt noch Gefallen zu finden, dessen Sinne sind im Grunde abgestumpft. Das ist dann so wie bei Leuten, die Kokain nehmen müssen, um sich aufzuputschen, weil sie sonst nicht mehr begeisterungsfähig sind. =O ^^

    Auch ich finde Harnoncourt gar nicht übel, aber Deinen Einwand betr. Beethoven kann ich gut nachvollziehen. Mir ging es ähnlich bei Mozart: Die Teldec-Aufnahmen der Sinfonien mit dem Concertgebouw-Orchester mögen ihre Meriten haben, vor allem was die exakte Beachtung der Wiederholungszeichen angeht, aber die Interpretation schien mir über weite Strecken kalt und ziemlich - lieblos. Da schätze ich doch sehr meinen "alten Böhm".

    Lieber Nemorino,


    ich habe Böhm - vor allem seinen Mozart - noch nie als langweilig empfunden. Harnoncourt nehme ich aber auch in Schutz, dass er anders als Currentzis etwa nie nur den Effekt um des Effekts willen im Sinn hatte. Bei Harnoncourt geht es um den eigentlich wahren Kern von HIP, nämlich die Wiederentdeckung der musikalischen Rhetorik. Deren Grundsinn ist die Wortverdeutlichung durch Affektverstärkung. D.h. die "dramatische" Kontrastschärfung hat hier einen Sinn, nämlich den Sinn der Sinnverdeutlichung, ist also kein nur wirkungsrhetorischer Selbstzweck. Die Achillesverse des rhetorischen Stils ist allerdings, dass er immer auf der Kippe zum Manierismus steht - wenn die gewollte Übertreibung wirklich übertrieben und dann unnatürlich und künstlich wirkt. Aber das passiert bei Harnoncourt eigentlich kaum. Das Problem bei Harnoncourt ist allerdings bisweilen für meinen Geschmack, wenn die Akzente alle rhetorisch überverdeutlicht werden, dass eine gewisse Monotonie entsteht. Es wird irgendwie berechenbar, was kommt, weil dann die Kunst der individuellen Differenzierung von Akzenten wegfällt, die unvorhersehbar ist, wenn alles sozusagen ins grelle affektive Scheinwerferlicht gerückt wird. So ging es mir bei seinem Mozart - insofern verstehe ich, was Du meinst. ^^ Die Ästhetik der Klassik und Romantik, in der Böhm steht, ist anders: Sie betont die Integration und die Homogenität, die Einheit der Stimmung. Ich finde Harnoncourts letzte Aufnahme mit Beethovens 4. und 5. interessant - aber das einmalige Hören reicht mir. Wenn nämlich die Pauken knallen und die Trompeten schmettern wie bei Händels Feuerwerksmusik, dann denke ich: Beethoven ist nun doch keine Barockmusik! Der Barock zielte auf den Affekt - die klassisch-romantische Tradition wollte gerade keine Affektiertheit. Dafür steht der Novalis-Aphorismus: "Poesie soll keine Affekte machen. Affekte sind so etwas wie Krankheiten!" Es ist sicher so, dass Beethoven oder Mozart im Sinne des romantischen Klassizitätsideals oft zu sehr geglättet wird. Da kann ich Harnoncourts Protest verstehen. Nur sollte die Klassizität auch nicht verschwinden... ;) :hello:


    Liebe Grüße

    Holger

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  • ich habe Böhm - vor allem seinen Mozart - noch nie als langweilig empfunden. Harnoncourt nehme ich aber auch in Schutz, dass er anders als Currentzis etwa nie nur den Effekt um des Effekts willen im Sinn hatte.

    Lieber Holger,


    mit beiden Sätzen gehe ich vollkommen einig. Es würde mir nie einfallen, Harnoncourt mit Currentzis auf eine Stufe zu stellen. Bei letzterem scheint mir das Wort "Blender" durchaus angebracht, aber nicht bei Harnoncourt (und auch nicht bei Horowitz).

    wenn die Akzente alle rhetorisch überverdeutlicht werden, dass eine gewisse Monotonie entsteht.

    Genau das ist auch mein Problem mit Harnoncourt. Deshalb habe ich nur relativ wenig von ihm, wenn man vom Barockbereich absieht (der allerdings bei mir nur eine Nebenrolle spielt). Die Mozart-Sinfonien mit dem, übrigens vorzüglich besetzten, Concertgebouw-Orchester beeindrucken durch ihre Geradlinigkeit, aber sie berühren (mich) nicht. Ich habe mir seinerzeit die komplette Reihe zugelegt, weil ich von den Mozart-Konzerten mit Friedrich Gulda, die ja fast gleichzeitig, ca. 1981/83, entstanden sind, so sehr begeistert war. Doch diese Begeisterung hat sich bei den Sinfonien nicht eingestellt. Neben Böhm schätze ich da am höchsten Krips, Mackerras, Szell und (in Teilen) Karajan,mehr seine EMI- als seine DGG-Aufnahmen, vor allem aber die Nr. 40 & 41 mit den Wiener Philharmonikern von 1959/60 (Decca).

    Im übrigen vielen Dank für Deine detaillierten Ausführungen, die sich mit meinen Eindrücken decken. Harnoncourt kann selten ganz verleugnen, daß er von der Barockmusik geprägt ist.

    Bei der Gelegenheit eine Frage, lieber Holger: Hast Du meinen Beitrag Nr. 90 eventuell übersehen, was leicht möglich ist, weil er als letzter auf Seite 3 steht. Ich hatte da einen alten ZEIT-Artikel von 1959 über "Das Wesen der Interpretation" eingestellt, der mir recht interessant und in Teilen auch heute noch aktuell erschien. Da hatte ich ziemlich sicher mit einer Stellungnahme von Dir gerechnet.


    LG nach Münster,

    Nemorino:hello:

    Die Welt ist ein ungeheurer Friedhof gestorbener Träume (Robert Schumann).

  • Ich habe vor einiger Zeit mal Beethovens Fünfte mit Teodor Currentzis gehört. Das mag ja modern und vor allem sensationsträchtig sein, aber mit Beethovens Musik und Intentionen hat das m.E. wenig bis gar nichts zu tun. Auffallen um jeden Preis, scheint mir hier die Devise zu sein.

    Das trifft es eigentlich sehr trefflich auf den Punkt, lieber nemorino. Currentzis haut einen teilweise regelrecht um. Nur fragt man sich bei längerem Nachdenken, ob dies nun etwas Gutes oder doch etwas Oberflächliches, um nicht zu sagen Effekthascherisches ist. Ich habe ihn ja einmal live erlebt mit einem kompletten Rameau-Programm. Zugegebenermaßen hat das Konzerterlebnis einen so gehörigen Eindruck hinterlassen, dass ich mich in der Folge mit diesem Komponisten vermehrt beschäftigt habe. Dabei entdeckte ich dann allerdings auch, dass es eben auch andere Ansätze als jenen von Currentzis gibt, etwa, um nur einen Namen zu nennen, den von Frans Brüggen. Mir ist es beinahe so, als würde einen Currentzis' Ansatz regelrecht "anspringen" und man hat (zumal im Live-Erlebnis) kaum eine andere Chance, als überwältigt zu sein. Aber es fehlt bei genauerer Betrachtung das Tiefergehende. Eine Szene bei besagtem Rameau-Konzert bleibt mir unvergessen, nämlich als im letzten Stück vor der Pause der Contredanse en rondeau aus "Les Boréades" erklang, der ja schon an sich eine hypnotische Wirkung ausstrahlt. Jedenfalls setzte sich Currentzis an die Spitze seines Ensembles und begann auf einmal durch den Saal zu marschieren, hinter ihm ein Musiker nach dem anderen, wie im Gänsemarsch, dabei unablässig diese ohrwurmartige Melodie spielend, schließlich aus dem Saal hinaus und nicht aufhörend, dann aufgrund der Entfernung immer leiser und leiser werdend. In dem Moment dachte ich mir: Wie der Rattenfänger von Hameln! Als habe sich Currentzis über das Publikum insgeheim lustig machen wollen, das seiner Show ja ähnlich erlegen war. Der Applaus im Wiener Konzerthaus war jedenfalls geradezu orgiastisch.

    Gemeint ist dieses Stück:


    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Die habe ich persönlich zwar aussortiert, aber sie war relativ originell anders. Langweilig fand ich die nicht, aber mir insgesamt zu langsam und nicht energisch genug. Wenn Harnoncourt die Beethovenkonzerte 10-15 Jahre vorher mit Argerich (es gab immer mal Gerüchte, es sei mit Argerich was geplant gewesen, aber die ist halt auch sehr besonders und hat ja letztlich nur Konzerte 1-3 gespielt) hätte das eine der besten Einspielungen werden können, so wurde es eher eine Kuriosität.


    Der Begriff langweilig war von mir sicher etwas unpräzise gewählt. Aber irgendwie war ich überrascht. Das Orchester klingt ja schon interessant, aber es sprang kein Funke über. Es war bei mir nach langer Zeit ein Versuch mit Beethovens Konzerten, mit denen ich sowieso nicht wirklich warm werde. Ausnahmen sind einige Einspielungen von Argerich ...


    Dabei entdeckte ich dann allerdings auch, dass es eben auch andere Ansätze als jenen von Currentzis gibt, etwa, um nur einen Namen zu nennen, den von Frans Brüggen. Mir ist es beinahe so, als würde einen Currentzis' Ansatz regelrecht "anspringen" und man hat (zumal im Live-Erlebnis) kaum eine andere Chance, als überwältigt zu sein.


    Ich kenne nicht viel von Currentzis aber würde diesen Eindruck teilen. Nur halte ich ihn auch erstmal für einen ernstzunehmenden Musiker und würde mich hüten, ihn sofort als Blender abzustempeln. Vielleicht kommen solche apodiktischen Verurteilungen auch aus einer Unsicherheit, mit derlei Anderssein umgehen zu können. Das Gespräch zum Silvesterkonzert 2020-21 war zumindest von seiner Seite ziemlich erhellend. Nicht alles, was auffällig ist, muss auch gleich oberflächlich sein.

  • Es würde mir nie einfallen, Harnoncourt mit Currentzis auf eine Stufe zu stellen. Bei letzterem scheint mir das Wort "Blender" durchaus angebracht, aber nicht bei Harnoncourt (und auch nicht bei Horowitz).

    Lieber nemorino,


    ich würde nicht soweit gehen Currentzis als Blender zu bezeichnen. Da würde ich mich Axels Worten im letzten Absatz anschliessen.

    Er ist schon ganz sicher "Anders" und extreemer, als gewohnt. Aber auch er lebt die Musik eben in seiner für manchen ungewohnten aber ernst zu nehmenden Art ... es versteht es die Zuhörer LIVE zu fesseln und hat damit grossen Erfolg. Dazu benutzt er Mittel die eben total nicht konventionell sind: Wenn die Musiker zum Beispiel Beethovens Fünfter und Siebter (wie ich es im TV gesehen habe) stehend spielen lässt. Das Ergebnis war schon beeindruckend.


    :) Aber ich verstehe was Du meinst.

    Ich würde mir wegen der ungewohnten Spielweisen zum Beispiel auch von ihm keinen Beethoven auf CD zulegen wollen ... das käme mir zu fremd vor. Da bin ich auch zu konservativ.

    Ausserdem liegen die Beethoven Sinfonien Nr 5 und 7 mit "Curri" nur auf 2 Einzel-CDs vor (die ja auf eine CD passen würden); zu einem Einzelpreis bei dem man schon eine GA bekommen würde ... das alleine ist schon ein Witz !

    Aber sich das LIVE mal ansehen/anhören ist schon .... ja, "spannend" !



    Harnoncourt

    ** Ich bin auch nicht der Harnoncourt - Fan, aber seine Haydn-Londoner Sinfonien (Warner-CD-Box) haben bei mir dazu geführt, die mir zu konservativ klingenden Karajan-Aufnahmen (DG) gar nicht mehr anzurühren. (Abgesehen davon ist Bernstein mit den New Yorker PH auf SONY mein Favorit bei den Haydn - Sinfonien !)

    ** Anderes Beispiel, bei dem mich Harnoncourt positiv überrascht hat, sind seine frischen Interpretationen von Schubert Sinfonien Nr.1 -6 (Ausnahme die Sinfonien Nr. 8 und 9, die bei ihm fürchterlich zerdehnt und spannungslos gelingen) ... mein Empfinden ! Da (bei 8 und 9) bin ich ja bekanntlich wieder 100% bei Karajan (DG) !

    Warum erwähne ich das:

    Weil die Favorisierten eben viel spannender und kurzweiliger sind !

    Gruß aus Bonn, Wolfgang

  • Ich habe Currentzis bisher dreimal gehört. Ich kann gar nicht anders, als in einem "guten" Konzert überwältigt zu sein, so sehr hinziehend oder -reissend ist es dann. Ganz anders dagegen ist es bei Hörsitzungen zuhause, wo ich mich regelrecht von einer Aufführung distanzieren kann, sie überkritisch höre.


    Ohne das jetzt gross zu begründen, ist die erste Ablehnung einer neuen oder sonstwie besonderen Interpretation manchmal mehr psychologisch bedingt, macht dann ggf. einer wohlwollenderen Sicht- und Fühlweise platz, wenn Zeit ins Land geht...


    (man sollte auch die Wirkung eines (neuen) Dirigenten auf die Mitglieder eines Orchesters bedenken)

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  • Nur als kleines Zwischenspiel:

    Auch wenn ich die "Blender" - wer dazugehört - und wer nicht - das wird individuell verschieden beurteilt werden. Bei mir gehört z.B (ich höre schon den Aufschrei !!) Glenn Gould definitiv dazu.

    ABER - solche "Selbstdarsteller" und "charismatischen Lichtgestalten" braucht die Klassikszene - und es hat sie immer gegeben (Paganini, Liszt, Gulda,Tartini, etc etc.

    Und die Tonträgerbranche lebt geradezu davon - Da wird gerne ein fiktives "Genie" generiert, das den Umsatz heben soll

    UND das generelle Interesse an "klassischer Musik" wird gefördert - wenn auch auf eine etwas eigenartige Weise.....


    mfg aus Wien

    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Bei der Gelegenheit eine Frage, lieber Holger: Hast Du meinen Beitrag Nr. 90 eventuell übersehen, was leicht möglich ist, weil er als letzter auf Seite 3 steht. Ich hatte da einen alten ZEIT-Artikel von 1959 über "Das Wesen der Interpretation" eingestellt, der mir recht interessant und in Teilen auch heute noch aktuell erschien. Da hatte ich ziemlich sicher mit einer Stellungnahme von Dir gerechnet.

    Lieber Nemorino,


    der Artikel ist sehr schön! Das hat noch Niveau - interessant das Jahr 1959, also zum Ende der Mono-Zeit und dem Beginn der Stereo-Ära. Dem Autor ist die musikalische Substanz wichtiger als die Technik! Interessant wäre zu wissen, wer ihn geschrieben hat!


    Dir noch einen schönes Wochenende - das Sturmtief hat uns zum Glück ja wieder verlassen! :hello:


    Liebe Grüße

    Holger

  • ähh

    Currentzis haut einen teilweise regelrecht um. Nur fragt man sich bei längerem Nachdenken, ob dies nun etwas Gutes oder doch etwas Oberflächliches, um nicht zu sagen Effekthascherisches ist.

    Nein, dieses Umgehaut-Werden von dem, was er interpretatorisch aus klassischer Musik macht, hat mit Effekthascherei nicht das Mindeste zu tun. Das Gegenteil ist der Fall: Man fühlt sich tief angesprochen und berührt von dem, was er interpretatorisch aus der Musik herausholt und unsereinen als Hörer damit konfrontiert.


    Ich hatte ein ähnliches Erlebnis, wurde stutzig, sah mich einer Reihe von ähnlichen Fragen wie Joseph II. ausgesetzt und tat das, was man in solchen Fällen tun muss: Partitur her, konzentriert Hinhören und Vergleiche mit mit anderen Aufnahmen des betreffenden Werkes anstellen. Das geschah - und geschieht noch - am Beispiel seiner Mahler-Interpretationen.

    Auf der Grundlage des zurzeit vorliegenden Materials bin ich zu der Erkenntnis gelangt:


    Dieser Currentzis ist alles andere als ein "Blender". Er ist ein radikal analytisch, weil an an der Aussage der einzelnen instrumentalen Orchester- Stimmen ansetzender Dirigent, der auf diese Weise dem musikalischen Werk Aussagen zu erschließen vermag, die man - so jedenfalls ging mir das - bislang nicht vernommen hat. Und es sind musikalische Aussagen, die ich in der Partitur vorfinde.

    Die Frage, mit der ich mich allerdings im Augenblick noch ein wenig herumplage, ist die, ob der in diesem interpretatorisch-dirigentischen Konzept zuweilen nicht ein wenig übertreibt und damit die in der fließenden Entfaltung sich generierende innere Einheit der Musik gefährdet.

    Ich sitze dabei, gleichsam exemplarisch, an einer Stelle am Anfang des letzten Satzes von Mahlers "Dritter Symphonie" , und komme nicht recht weiter.


    Aber so etwas gehört - wie ich es inzwischen empfinde - nicht ins Tamino-Forum.

  • Aber so etwas gehört - wie ich es inzwischen empfinde - nicht ins Tamino-Forum.

    Aber ja doch. Wohin denn sonst?

    Einer acht´s - der andere betracht´s - der dritte verlacht´s - was macht´s ?
    (Spruch über der Eingangstür des Rathauses zu Wernigerode)