Noch habe ich die für Hannover wirklich ganz ungewöhnlichen Beifallsorkane im Ohr! Die Premiere der Neuinszenierung von Verdis Traviata wurde vom Publikum so enthusiastisch gefeiert, dass man nicht glaubte, im Operhaus der biederen niedersächsischen Landeshauptstadt zu sitzen. Die Begeisterung galt in erster Linie gewiß der Interpretin der Titelpartie aber sicher auch der Inszenierung.
Viel über die Inszenierung zu schreiben, dürfte gerade in diesem Klassikforum, in dem doch die Mehrzahl der User das sogenannte Regietheater eher verdammt, nicht wirklich einladend wirken. Aber wenn man die Leistung der Nicole Chevalier würdigen will, kommt man nicht daran vorbei, zumindest anzudeuten, was der Regisseur Benedikt von Peter da auf die Bühne und in den Zuschauerraum bringt.
Er inszeniert nämlich La Traviata als die Tragödie einer unerfüllten Liebe mit einer atemberaubenden Radikalität. Das Orchester sitzt auf der Bühne. Spielfläche ist der davor liegende abgedeckte Orchestergraben. Auf dem stehen nur ganz wenige Requisiten: Türrahmen mit Tür, Garderobenständer Spiegel, Schminktisch - später noch Tisch und zwei Stühle: Und auf dieser Bühne agiert einzig und allein zwei Stunden und zwanzig Minuten lang (Das Werk wir ohne Pause gespielt.) Nicole Chevalier. Der Chor steht auf dem zweiten Rang, alle übrigen Protagonisten und Komprimari singen vom ersten oder zweiten Rang, mal von rechts, mal von der Mitte, dann auch von links. Sie treten als Figuren gar nicht in Erscheinung, sind gleichsam Stimmen, die Violetta hört oder aus ihrer Erinnerung hervorholt oder zu hören sich ersehnt.
So steht also Violetta in einem Maße im Zentrum der Produktion, wie ich das so noch nie erlebt habe (Und immerhin habe ich im Laufe der Jahrzehnte weit über 100 Aufführungen des Werkes gehört und dabei (die gute Buchführung gibt Auskunft! - 52 Interpretinnen der Partie live genießen können.) Und diese Violetta erlebt und durchlebt alle Stationen ihrer unerfüllten Liebe, sie berauscht sich an den Glücksmomente und erleidet und zerbricht an den Enttäuschungen, sie steigert sich in den Rausch des Genusses und kostet die Intimität und die Wonnen der - vergangenen oder immer nur ersehnten? - Zuwendungen Alfreds aus, sie wird zerrissen zwischen Lebensgier und Leiden am Leben... Die unglaubliche Spannung der Aufführung rührt daher, dass der Zuhörer/Zuschauer ganz intensiv erfährt, wie leidenschaftlich diese Violetta nach der Erfüllung ihrer Liebe verlangt, ja geradezu giert, und zugleich begreift, dass es die Unerfülltheit der Liebe ist, die ihr Kraft gibt und sie davor bewahrt zu einer banalen Figur zu werden. Man erlebt also eine ungewöhnliche Dialektik von Selbstzerstörung und Leben! - Genug der Worte über die Inszenierung. Sie ist absolut sehenswert und auf sie können sich gewiss auch Opern-Enthusiasten einlassen, die sonst nichts mit Regietheater am Hut haben und am liebsten Traviata-Inszenierungen von Zeffirelli oder Sellner besuchen würden.
Dass der Abend aber ein so sensationeller Erfolg wurde, war gewiss nicht allein Verdienst des Regisseurs (der natürlich von 2 oder 3 Besuchern mit Buhrufen bedacht wurde), sondern nur möglich, weil sein Konzept von der Violetta vollkommen realisiert wurde - und weil die ihre Partie schlichtweg großartig singt! Nicole Chevalier hat hier in den letzten Jahren mit Konstanze, Lucia, Alice und der Contessa di Folleville schon einige wirklich gute gesangliche Leistungen geboten, aber ihre Violetta hat schon noch mal eine andere Qualität. Ihre Stimme ist von der Anlage her lyrisch, klingt rund, weich und warm und das Timbre erinnert oft an die junge Moffo. Die Tiefe ist nicht allzu ergiebig aber wird sicher beherrscht. Aber die Mittellage ist ausgesprochen schön und der Überang zur Höhe ist glänzend beherrscht, die Höhe selbst klingt hell und strahlend. Im ersten Akt - zumal in der Arie - beweist sie eine gute Koloraturtechnik. Mit dem sempre libre hat sie keine Probleme. Auch wenn sie nicht eine Virtuosa im engeren Sinne ist, hat ihr Singen Brillianz und drückt Lebensfreude und Lebensgier gleichermaßen überzeugend aus. Das abschließende hohe Es war brillant! Wirklich erste Klasse aber ist Frau Chevalier in den lyrischen Passagen - vor allem wenn sie im Piano oder Mezzoforte wundervoll intensiv gestaltete Bögen und oft frappierend weiträumig disponierte Linien singt. Für die wenigen dramatischen Ausbrüche, die von Violetta verlangt werden, hat sie genügend Kraft und Fülle. Somit ist sie tatsächlich eine der wenigen Sopranistinnen, die den ja doch sehr verschiedenen Anforderungen der Partie überzeugend gerecht wird. Und sie wird ihnen nicht nur gerecht, sie gibt den Koloratoren genauso Leben und Sinn wie sie die lyrischen oder dramatischen Passagen mit Intensität und Ausdruck füllt. Das Hannöversche Publikum würdigte diese Leistung mit einer Standing Ovation! Recht hatte es. Allerdings hat es damit selbst vermutlich dafür gesorgt, dass dieses Talent nicht mehr lange an der Leine singen wird.
Alle anderen Partien hatten es natürlich nicht leicht, in dieser Inzenierung, in der sie ja nicht zu sehen sondern nur zu hören sind, Profil zu gewinnen.
Immerhin sang Philipp Heo den Alfredo sehr kultiviert, mit vielen klug gestalteten lyrischen Bögen und einem vorzüglichen Legato. Die Stimme ist in der Mittellage schön timbriert und sicher beherrscht, bricht aber in der Höhe etwas aus, verliert nicht nur den italienischen Schmelz sondern auch die Intonationssicherheit. Hoffen wir, dass er das in den Griff bekommen kann. Immerhin macht Hoffnung, dass er die heikle Cabaletta durchaus souverän bewältigte und nur mit dem Ansatz des abschließenden Spitzentones Probleme hatte. Vielleicht wird er im italienischen Fach doch eine wertvolle Bereicherung des schmalen Angebots an kultivierten und geschmackvollen Tenören.
Brian Davies sang Giorgio Germont - wie man das von ihm gewohnt ist - vorzüglich. Nur leider klingt die Stimme inzwischen doch recht knarzig und ungeschmeidig. Und die teils unbequeme, hohe Tessituro brachte das noch mehr heraus als andere Partien.
Orchester und Chor waren besser als zuletzt in italienischen Werken. Ganz sicher ein Verdienst des Dirigenten Gregor Bühl, der ja Endes des vorherigen Jahrhunderts in Hannover lange 1. Kapellmeister war und nach wie vor immer mal wieder hier auftritt! Nicht genug zu loben ist sicher, dass es ihm gelang, Orchester, Chor und Solisten zusammenzuhalten obwohl die - wie gesagt - im ganzen Opernhaus verteilt waren. Aber ihm gelang auch eine sehr intensive Gestaltung der Partitur, die bei ihm oft bitterer und schmerzvoller klangt als gewohnt!
Also: Ein Opernabend über den zu reden ist - und über den zu reden lohnt! Sonst hätte ich mir gewiß nicht die Mühe gemacht, darüber zu schreiben!
Euer Caruso41