Steht die Integrität von Operntexten zur Disposition?

  • Aus der Mehrzahl der Beiträge zum Thema geht eher hervor, dass ich hierbei offene Türen einrenne - wo sind diese Türen: alle im Urlaub?

    Lieber Sixtus,


    ich bin nicht in Urlaub.


    Allerdings gehe ich auf philosophische Fragen nicht mehr ein, wozu das führt, kann man in einem inzwischen geschlossenen Thread lesen. Hier scheint sich ja eine ähnliche Entwicklung anzubahnen.


    In meinen jungen Jahren sah ich das Musical "Kiss me Kate", und darin war einer der Hits "Schlag nach bei Shakespeare". Nach den originalen ins Deutsche übersetzten Texten von den Spewacks kamen neue Verse hinzu, die das aktuelle vorwiegend politische Geschehen karikierten. Das fand ich damals als sehr witzig und hätte auch sicher heute noch seine Berechtigung. Danach ging es aber im Original weiter.. jedenfalls mit dem, was wir für das Original hielten.


    Das ging im Musical, und bei dem Lied besonders. Auf die Oper ist das meines Erachtens nicht anwendbar, und ich stehe hier voll konform mit Deiner Meinung und auch ausdrücklich mit den Aussagen von Helmut Hofmann.


    Meine heutige Abneigung gegen neue Texte hat allerdings eine Ursache. In den 50-ern war es ja in D üblich, auch Kompositionen fremdsprachiger Komponisten ins Deutsche zu übertragen. Walter Felsenstein sah sich an der Komischen Oper genötigt, vielen Opern einen neuen deutschen Text zu verpassen und damit viele Jahre existierende Translationen völlig umzugestalten. Ich habe nicht verstanden, warum darin eine neue Aussage getroffen wurde, es hat sich mir nicht erschlossen. Wahrscheinlich war ich damals schon konservativ und habe meine Einstellung bis heute nicht ändern können und wollen.


    Auch wenn ich wahrscheinlich nicht merken würde, wenn man Simone Boccanegra einen neuen italienischen Text überstülpen würde fände ich das schlecht. Ich hätte aus Prinzip etwas dagegen. Viele heutige Opernbesucher würden allerdings auch nicht merken, wenn aus "la donna e mobile" etwas neues würde. So viel zum von mir angenommenen Bildungsniveau heutiger Opernbesucher.


    Herzlichst La Roche


    PS Vor Kurzem sah ich auf Servus-TV eine Doku über italienische Opern, am Beispiel von Rigoletto. In Parma fragte man Straßenpassanten, was sie sich unter "la donna e mobile" vorstellten, wohlgemerkt Italiener in der Heimat Verdis. Einge meinten, es wäre die Adresse eines Friseurs, andere glaubten an eine neue Pizzakreation. Natürlich kannten auch viele das Lied und konnten es sogar singen. Interessant war es auf jeden Fall, denn von Rigoletto hatte die Mehrzahl schon mal gehört.

    Ich streite für die Schönheit und den edlen Anstand des Theaters. Mit dieser Parole im Herzen leb' ich mein Leben für das Theater, und ich werde weiterleben in den Annalen seiner Geschichte!

    Zitat des Theaterdirektors La Roche aus Capriccio von Richard Strauss.

  • Die Idee, einer Oper ein anderes Libretto unterzuschieben, um sie für möglich breite Schichten der heutigen Gesellschaft eher zugänglich werden zu lassen, halte ich für schlechterdings indiskutabel und unsinnig. Sie ignoriert das Wesen der Opernmusik, bei der es sich ja doch nicht um absolute, sondern genuin textgenerierte Musik handelt. Der Text stellt ja nicht einfach eine Basis dar, über die dann die Musik gelegt wird, sondern diese reflektiert ihn in seiner Semantik und seiner sprachlichen Struktur, ist also eine unauflösliche Einheit mit ihm eingegangen. Eine Wegnahme des Textes und eine Ersetzung desselben durch einen anderen macht sie damit sinnleer, beraubt sie ihrer Aussage und hat eine Destruktion der ganzen Oper zur Folge.


    Auch wenn die unauflösliche Einheit zwischen Musik und Text wohl nicht für alle Opern in gleichem Maße gilt, so stimme ich dieser Aussage doch grundsätzlich zu. Dennoch wäre es interessant, hier einmal genauer hinzuschauen. Man wird in der Musikgeschichte wahrscheinlich genug Beispiele finden, bei denen der Text einer Vokalkomposition durch einen anderen ersetzt wurde, ohne das Werk damit zu destruieren.

    Der Traum ist aus, allein die Nacht noch nicht.

  • Viele heutige Opernbesucher würden allerdings auch nicht merken, wenn aus "la donna e mobile" etwas neues würde.

    Ich schon, lieber La Roche, ganz sicher.


    Meine Meinung zu dem Thema: Wenn der Sinn des Textes beibehalten wird, Worte nur umgeändert /angepaßt werden - nichts dagegen und richtig.
    Ein sehr gutes Beispiel hat Sixtus in seinem Btr. 3 angeführt, Zitat:
    Bei gesungenen Texten haben sich an manchen Stellen kleine Varianten ergeben, die niemandem Weh tun und keinen Schaden anrichten, z.B.
    Tamino: Dies Bildnis ist bezaubernd schön, / wie noch kein Auge je geseh´n! (Alternative: so schön, wie keines ich geseh´n!)
    Hier käme diese Veränderung nach m. M. sogar der Aussage direkt näher und wäre zu befürworten.
    Es kommen ja in früheren Texten auch Worte /Bezeichnungen vor, die kennt normalerweise heutzutage bestimmt kein Mensch mehr. Frag´mal jemanden, was "Zähren" sind.
    Gemeint ist - Herzog im Rigoletto - Ich seh´heiße Zähren... Das läßt sich doch bestimmt besser mit "Tränen" ersetzen. Überhaupt finde ich, der altbekannte deutsche Text im
    Rigoletto ist stellenweise grauenhaft. Im Zusammenspiel mit Gilda sagt /singt Rigoletto - was "frommt" es Dir... Auch ein Wort, was heute keiner mehr spricht.
    Richtig ist auch, daß Solisten zugunsten eines besser singenden und klingenden Vokals bei hohen schwierigen Stellen den Text verändern, auch im Italienischen..
    Beispiel Cavaradossi in Tosca: La vita mi costasse. Ich weiß von einem Tenor, der wohl lieber den Ton mit dem Vokal auf i gesungen hat - also gedreht ... la vi...ta...


    Herzliche Grüße
    CHRISSY

    Jegliches hat seine Zeit...

  • So manche Äußerung hier finde ich schwer nachvollziehbar.


    Wieso werden Opernaufführungen von heute der "Intention" des Komponisten weniger gerecht als solche aus vergangen Jahrhunderten, die auch Textkürzungen, Textänderungen vorgenommen haben? Worauf stützt sich ein solches Pauschalurteil?


    Was ist denn die "Intention des Komponisten"? Dazu gehört ja wohl, dass er für ein ganz bestimmtes Publikum schreibt, das er damit vergnügen, unterhalten, aufrütteln, bilden und was auch immer will. Wie will man also die "Intention des Komponisten" feststellen, wenn nach 200 oder 300 Jahren das Publikum, für das der Komponist die Oper einst geschrieben hat, nicht mehr existiert und auch nicht mehr die dazugehörige feudalistische Gesellschaft? Wenn Künstler von heute dann Textänderungen vornehmen, damit das Stück in der Welt von heute nicht einfach unaufführbar ist, wieso ist das dann der Intention des Komponisten zuwider?


    Und worauf stützt sich die Behauptung, dass das Theater von heute "popularisiert"? Es gibt die postmodernen Cross-over-Programme, von denen ich auch nicht viel halte, weil in den allermeisten Fällen nur Kommerz dahinter steckt. Das scheint mir aber bei der Oper so gut wie gar keine Rolle zu spielen, denn wir haben heute - in Soziologensprache gesprochen - eine höchst "ausdifferenziertes" Unterhaltungsangebot, das auch wahrgenommen wird. Es gibt z.B. das populäre, anspruchslose Musical, zu dem Lieschen Müller als Touristin fährt für viel Geld. (Die Karten sind oft erheblich teurer als subventionierte Oper vor Ort, aber die Zuschauerzahlen weit höher!) Da kann keine Oper bestehen als Konkurrenz. Jeder auch nur mäßig kluge Regisseur weiß das und wird sich hüten, damit konkurrieren zu wollen. Ist "Oper für alle" also nur ein Konstrukt in den Köpfen von RT-Gegnern? RT-Theater hält man gerne vor, zu intellektuell und esoterisch zu sein, dann aber wieder, es sei populistisch. Was ist denn nun richtig? Im übrigen stammt der Anspruch, dass Musik eine Universalsprache sein soll, die alle Menschen verstehen und nicht nur bestimmte Klassen oder Schichten, aus der Romantik. Die Vorstellung, dass nur die höheren Schichten "Kunst für Gebildete" genossen hätten, ist sowieso historisch falsch. Das Bürgertum, das sich der Adelsgesellschaft gegenüber emanzipieren wollte, hat sich gebildet. Das war ein mit entscheidender Schritt zum gesellschaftlichen Aufstieg. Dasselbe gilt für die alte Arbeiterklasse. Auch dort haben sich viele Menschen fleißig gebildet aus ähnlichen Motiven.


    Und: Wieso wird die "Integrität" von Opern durch Textänderungen zerstört, wenn die Oper nun mal eine so gar nicht "integre" Gattung ist? Gehört das nicht einfach zur Opern-Realität?


    Schöne Grüße
    Holger

  • Zitat

    Zitat von Sixtus: Aus der Mehrzahl der Beiträge zum Thema geht eher hervor, dass ich hierbei offene Türen einrenne - wo sind diese Türen: alle im Urlaub?

    Lieber Sixtus,


    auch ich bin nicht in Urlaub. Aber ich habe meine Meinung dazu schon unter Nr. 13 und 19 gesagt. Kleine Veränderungen, die den Sinn nicht entstellen und trotzdem auf die Musik passen, wie das schon hier genannte "Dies Bildnis ist bezaubernd schön" nehme ich durchaus hin. Auch wenn gesprochene Dialoge gekürzt oder ohne den Sinn zu verändern, leicht abgewandelt oder in modernere Sprache übertragen werden, ist wohl dagegen nicht unbedingt etwas einzuwenden. Ich vermute aber, dass dieser Vorschlag eher dahin zielt, dass neue Texte dem Sinn der von den Regisseuren entstellten Handlung angepasst werden sollen und dann haben wir eine noch weitergehende Zerstörung der Werke, wie sie es heute schon ist.
    Natürlich finde ich deine Argumente und die einiger anderen, völlig richtig und kann häufig nur meine Zustimmung geben. Auf diejenigen, die immer noch irgendwo etwas ausgraben, was für solche Veränderungen sprechen soll, einzugehen, sträubt sich inzwischen meine Tastatur.


    Liebe Grüße
    Gerhard

    Regietheater ist die Menge der Inszenierungen von Leuten, die nicht Regie führen können. (Zitat Prof. Christian Lehmann)

  • Zitat

    Zitat von La Roche: Natürlich kannten auch viele das Lied und konnten es sogar singen. Interessant war es auf jeden Fall, denn von Rigoletto hatte die Mehrzahl schon mal gehört.

    Lieber La Roche,


    ich habe in meinen vielen Urlauben in verschiedenen Teilen Italiens - weil ich mir die Sprache ein wenig angeeignet habe - mich häufig mit Leuten auf der Straße unterhalten, und habe festgestellt, dass viele Leute in Italien - auch einfache Handwerker - in Kultur weit mehr "beschlagen" waren, als Leute gleichen Standes bei uns, und viele Melodien - auch aus Opern, allerdings nur den italienischen - kannten. Ich habe hier italienische Freunde, Leute, die als einfache Arbeiter in unser Land gekommen sind, und mir manche Lieder (teilweise sogar aus deutschen Opern und Operetten) vorsingen konnten. Sie wussten, wenn auch im groben, mit manchen Opern italienischer Komponisten etwas anzufangen und waren auch begierig, etwas mehr darüber zu hören. Bei den deutschen Texten habe ich hier und da schon mal ein wenig nachhelfen müssen.
    Erst kürzlich traf ich in einer italienischen Gaststätte einen älteren italienischen Musiker, der mit Gitarre und Gesang zur Unterhaltung der Gäste beitrug, darunter manches Klassische auf Lager hatte und sich damit seine Rente aufbessern wollte. Weil das unser kleinen Gesellschaft so gut gefiel, gaben wir zusätzlich eine Spende. Er hat dann sein Soll um etwa eine halbe Stunde überzogen und kam zu uns an den Tisch. Als ich ihm einige Stichworte gab, hat er alles das auch vortragen können. So etwas findest du bei uns wohl selten.


    Liebe Grüße
    Gerhard

    Regietheater ist die Menge der Inszenierungen von Leuten, die nicht Regie führen können. (Zitat Prof. Christian Lehmann)

  • Dann dürfte die Bregenzer Carmen auch nicht werkgerecht sein, da der Regisseur in die Handlung eingegriffen hat und die Dialoge alle weggelassen hat.

  • Zit. rodolfo39: "Dann dürfte die Bregenzer Carmen auch nicht werkgerecht sein,"


    So ist es, - nach allem, was man von seriösen Kritikern darüber lesen kann: Eine "Carmen"-Inszenierung, die sich nicht primär dem Werk verpflichtet fühlt, sondern den Anforderungen einer effektvollen Show. Die FAZ titelte trocken:
    "Ein gischtspritzendes Wasserballett"


    Und ihre Kritikerin Eleonore Büning meinte dazu u.a.:
    "Der Regisseur Kasper Holten zeigt in Bregenz eine aufs Dekorative reduzierte Fassung. Er hat die Nummernfolge auf die unentbehrlichen Wunschkonzerthits zusammengekürzt (das sind etliche) und trägt im Übrigen Sorge, dass etwaige Details der Personenführung im Lauf der zwei Stunden die Wirkung des spektakulären, von Es Devlin entworfenen Bühnenbilds nicht mindern."


    Das ist wohl - so scheint mir - der Geist, der dem Konzept des Regisseur-Theaters zugrunde liegt und der, in letzter Konsequenz, auch die Idee hervorbringt, das Libretto eben mal so durch einen anderes auszutauschen und in massiver Weise in die Partitur einzugreifen. Man versteht "Opern-Inszenierung" nicht als als ein Ins-Werk-Setzen der kompositorischen Vorlage, wie sie in Gestalt von Libretto und musikalischer Partitur verbindlich gegeben ist, sondern als Nutzung einer Verfügungsmasse für eine in ganz und gar subjektivem Gestus inszenierte Show, die mit möglichst massiven, die Seele des Rezipienten wohlig streichelnden oder sie elementar verschreckenden Effekten zu erreichen und ihn auf primär emotionaler Ebene für sich einzunehmen versucht.
    Wenn hier von einem Mitglied die Auffassung vertreten wird, Oper sei "eine so gar nicht >integre< Gattung", so reflektiert das eben diesen Geist.

  • Ich glaube nicht, dass man Bregenz als repräsentativ für das Regie-Theater ansehen kann. Das ist ein Event und wohl kaum einer der namhaften Regisseure wird davon viel halten.


    Wenn es in der Oper seit je her üblich ist, dass Arien aus dem einen Stück in einem anderen verwendet werden, dann muss man einfach konstatieren, dass es zu dieser Praxis kein Äquivalent etwa bei einer Beethoven-Klaviersonate gibt. Wer käme schon auf die Idee, in die "Appassionata" einen Satz aus der Mondscheinsonate einzufügen? D.h. da gibt es einen Unterschied, was die Integrität angeht.


    Schöne Grüße
    Holger

  • Ich möchte an dieser Stelle gern kurz innehalten, um auf die begrenzten Möglichkeiten eines gegenseitigen Verstehens bei diesem Thema hinzuweisen:


    Erfreulich finde ich, dass doch nicht alle am Thema Interessierten im Urlaub sind. Andererseits gestehe ich, dass ich selber auch keine lückenlose Präsenz garantieren kann. Hinzu kommen kleine Pannen wie vergessene Buchstaben, die einen Satz ins Gegenteil verkehren - oder die Unwägbarkeiten das Forum-Apparats, die manchmal die vorgesehene Reihenfolge der Beiträge vertauschen. Ich hoffe, dass sich manches davon im Nachhinein von selber klärt. Wir können auch nicht erwarten, dass beim gegenwärtigen Tempo jeder Beitrag persönlich gewürdigt wird.


    Zu einigen der letzten Beiträge fällt mir aber einiges ein:
    Die aktuelle Bregenzer Carmen-Premiere wurde erstaunlicherweise von einem Kritiker u.a. mit dem Satz kommentiert: "Mit Oper hat das alles nicht viel zu tun." (Er meinte die zur Bühnen-Show mutierte Inszenierung.) Was hätte er erst schreiben müssen, wenn der Regisseur dem Stück einen "zeitgemäßen" Text verpasst hätte?
    Ich kenne einige Opernfreunde, die um Open-air-Produktionen einen großen Bogen machen, weil dabei oft die Stücke, um sie "attraktiver" zu machen, aufgemotzt werden, damit mehr Publikum angelockt wird. Andere gehen bevorzugt in solche Produktionen, weil ihnen das eigentliche Stück weniger bedeutet als die Show.
    Ich glaube, beides hat seine Berechtigung. Nur sollte man die Eingriffe als solche kenntlich machen und nicht so tun, als spiele man das Original. Das gilt erst recht für Eingriffe in Text und Handlung, weil dabei das Stück in seiner Substanz verändert wird.
    Wer sich auf diesen gemeinsamen Nenner nicht einlassen kann, wäre der nicht besser beraten, einen eigenen parallelen Thread zu starten, in dem sich dann ähnlich Denkende austauschen können? Ich glaube, es gäbe innerhalb der beiden noch genügend unterschiedliche Haltungen, aber sie stünden einander nicht so unversöhnlich gegenüber wie in der Vergangenheit - und auch hier. Wenn die gegenseitigen Argumente zu verhärteten Waffengängen schrumpfen, verliert eine Diskussion, meine ich, ihren Sinn.


    Herzliche Grüße von Sixtus

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  • Ich lese gerade, was ich gestern zu der Bregenzer Carmen-Aufführung kritisch angemerkt habe, und denke: Das hättest du besser nicht getan. Erstens verstehe ich viel zu wenig von Oper und Opern-Inszenierung und werde mich deshalb künftig aus allen Threads mit diesem Thema heraushalten. Und vor allem: Man sollte sich nur äußern zu etwas, was man selbst gesehen und erlebt hat.
    Womit ich beim Anlass für diesen Nachtrag bin: Heute wird, wie ich gerade sehe, im ZDF um 22 Uhr diese Carmen-Aufführung übertragen.- Ich werde sie mir ansehen und mir dann ein wirklich fundiertes Urteil über sie bilden können.

  • Und ihre Kritikerin Eleonore Büning meinte dazu u.a.:
    "Der Regisseur Kasper Holten zeigt in Bregenz eine aufs Dekorative reduzierte Fassung. Er hat die Nummernfolge auf die unentbehrlichen Wunschkonzerthits zusammengekürzt (das sind etliche) und trägt im Übrigen Sorge, dass etwaige Details der Personenführung im Lauf der zwei Stunden die Wirkung des spektakulären, von Es Devlin entworfenen Bühnenbilds nicht mindern."


    Das ist wohl - so scheint mir - der Geist, der dem Konzept des Regisseur-Theaters zugrunde liegt und der, in letzter Konsequenz, auch die Idee hervorbringt, das Libretto eben mal so durch einen anderes auszutauschen und in massiver Weise in die Partitur einzugreifen. Man versteht "Opern-Inszenierung" nicht als als ein Ins-Werk-Setzen der kompositorischen Vorlage, wie sie in Gestalt von Libretto und musikalischer Partitur verbindlich gegeben ist, sondern als Nutzung einer Verfügungsmasse für eine in ganz und gar subjektivem Gestus inszenierte Show, die mit möglichst massiven, die Seele des Rezipienten wohlig streichelnden oder sie elementar verschreckenden Effekten zu erreichen und ihn auf primär emotionaler Ebene für sich einzunehmen versucht.


    Hier werden m.E. zwei grundverschiedene Haltungen gegenüber der Oper miteinander vermengt. Die Bregenzer Carmen, so wie sie hier beschrieben wurde, ist Event-Theater. Da geht es darum, dem Publikum eine effektvolle Show zu bieten, ohne es zu überfordern. Pointiert (und sicher auch übertrieben) könnte man sagen: Es ist eine maximale Unterwerfung unter (oder: Anbiederung an) die kulinarischen Ansprüche des Publikums. Alles, was nicht diesem Ziel dient, wird geopfert. Der Respekt gegenüber dem Kunstwerk Oper ist gering bis nicht vorhanden. Das typische "Regietheater" hat einen diametral entgegengesetzten Ansatz. Leitend ist ein bestimmtes Verständnis des Stückes, ein Konzept, das der Regisseur möglichst konsequent szenisch umzusetzen versucht. Erwartungen und kulinarische Ansprüche des Publikums spielen dabei kaum keine Rolle, werden sogar manchmal bewusst unterlaufen. Der Respekt gegenüber dem Werk ist bei gutem "Regietheater" sehr groß, nur steht dahinter ein anderes Werkverständnis als die naive Gleichsetzung von Werk und Libretto.

    Der Traum ist aus, allein die Nacht noch nicht.

  • Historisch ist schlicht unhaltbar, die Oper sei eine "integre" Gattung, in dem Sinne, dass dort brav irgendwelche 100 oder 200 Jahre alten Vorgaben umgesetzt werden. Das gab es praktisch nie und es gab auch sehr unterschiedliche Vorstellungen über die Relation von Text und Musik etc. Wie schon gesagt, kann man es nicht über einen Kamm scheren. Richard "Gesamtkunstwerk" Wagner konnte sich ebensowenig den Pariser Vorgaben für Tannhäuser entziehen wie Verdi beim Don Carlo(s). Es was also nicht nur im Zeitalter der angeblich austauschbaren Seria-Arien und Libretti üblich, auf lokale Verhältnisse zu reagieren.


    Es gibt sehr gute Gründe, die bereits in anderen Threads ad nauseam erörtert wurden, dass für Theater überhaupt es ein falscher Ansatz ist, zu meinen, es würde hier in erster Linie eine (alte, tendenziell sakrosankte) Vorgabe umgesetzt. Aber was am Ende herauskommt, ist idealerweise immer ein Gesamtkunstwerk im weiteren Sinne, dass Text, Musik, Bühnenaktion etc. zusammenspielen. Weil der Zuschauer ja auch alles gleichzeitig aufnimmt. Daher ist es nahezu immer problematisch, sich an Details zu klammern, wie z.B. einen bestimmten Strich oder Kostümen usw. und den Rest außer Acht zu lassen. Weil eben nur in der Gesamtheit beurteilt werden kann, ob und inwieweit etwas gelungen ist.


    Dass natürlich oft Mist herauskommt, wenn man unkundig und unfähig herangeht und wild streicht, ändert usw. ist eine ganz andere Sache. Was Brembek über die angebliche Obsoletheit der meisten Opernstoffe fantasiert, halte ich größtenteils auch für Unsinn. (Was er dort zu einzelnen Opern schreibt, ist oft auch bestenfalls oberflächlich, oft einfach falsch, jedenfalls nicht annähernd eine gute Begründung der These, die meisten Opernstoffe seien hoffnungslos veraltet.)
    Eine deutlich mildere (da meiner Erinnerung nach keine familiären Zwänge im Hintergrund) Traviata-Variante war um 1990 bekanntlich einer der erfolgreichsten Filme überhaupt (Pretty Woman). (Und es glaubt wohl kein Mensch, dass es heute kein Skandal wäre oder von der Familie diskret abgenickt würde, wenn ein Oetker-Erbe o.ä. ein Luxus-Callgirl heiraten wollte.)


    Wenn man meint, dass ein Stück obsolet sei, soll man es nicht spielen/inszenieren. Es gibt ja genug andere Stücke.


    Für mich ist die erstaunlich erfolgreiche Wiederbelebung der Barockoper, die etwa 200 Jahre lang in nahezu jeder Hinsicht (stofflich, textlich, dramaturgisch) als veraltet und musikalisch als stereotyp und langweilig galt (und bei vielen "gebildeten Opernliebhabern" nach wie vor gilt), ein Indiz dafür, dass man bzgl. der Obsoletheit leicht oberflächlichen Urteilen zum Opfer fallen kann.


    Das scheint aber eine Ausnahme. Bei anderen angeblich textlich/stofflich problematischen Stücken wie der Zauberflöte hat es der Bühnenwirksamkeit seit 200 Jahren keinen Abbruch getan (freilich wurde und wird der gesprochene Dialog dort seit eh und je (oft stark) gekürzt), daher leuchtet auch nicht ein, dass man hier nun auf einmal was ändern müsste. Bei anderen Stücken wie Euryanthe oder den Schubert-Opern haben selbst erhebliche textliche und dramaturgische Eingriffe/neue Handlungen etc. nicht dazu geführt, dass sich diese Werke im Repertoire etablieren konnten. D.h. die Wirksamkeit solcher Eingriffe muss ebenfalls bezweifelt werden.


    Insofern scheint mir Brembeks Diagnose erstens falsch und zweitens die Wirksamkeit der vorgeschlagenen Medizin fragwürdig. ;)

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Hallo Sixtus,


    auf Grund deiner Ausführungen möchte ich dir eine Frage stellen:


    Bist du der Auffassung, daß die Oper eine Angelegenheit der Bildung ist?


    Es grüßt


    Karl

  • Historisch ist schlicht unhaltbar, die Oper sei eine "integre" Gattung, in dem Sinne, dass dort brav irgendwelche 100 oder 200 Jahre alten Vorgaben umgesetzt werden. Das gab es praktisch nie und es gab auch sehr unterschiedliche Vorstellungen über die Relation von Text und Musik etc. Wie schon gesagt, kann man es nicht über einen Kamm scheren.
    Es gibt sehr gute Gründe, die bereits in anderen Threads ad nauseam erörtert wurden, dass für Theater überhaupt es ein falscher Ansatz ist, zu meinen, es würde hier in erster Linie eine (alte, tendenziell sakrosankte) Vorgabe umgesetzt. Aber was am Ende herauskommt, ist idealerweise immer ein Gesamtkunstwerk im weiteren Sinne, dass Text, Musik, Bühnenaktion etc. zusammenspielen. Weil der Zuschauer ja auch alles gleichzeitig aufnimmt. Daher ist es nahezu immer problematisch, sich an Details zu klammern, wie z.B. einen bestimmten Strich oder Kostümen usw. und den Rest außer Acht zu lassen. Weil eben nur in der Gesamtheit beurteilt werden kann, ob und inwieweit etwas gelungen ist.



    Wenn man meint, dass ein Stück obsolet sei, soll man es nicht spielen/inszenieren. Es gibt ja genug andere Stücke.


    Ein sehr einleuchtender und sachlich gut begründeter Beitrag. Das bestätigt mich in meiner Position, die darin besteht, jede einzelne Inszenierung gesondert zu betrachten. Das heißt, dass ich Regietheater nicht grundsätzlich ablehne, dass ich aber gegen ästhetische Grausamkeiten bin. Das bedeutet: Ich will keine Klos auf der Bühne und keine Nackten, und völlig unakzeptabel ein Bild (bei mir gespeichert), bei dem Tristan Isolde durch die Unterhose zwischen die Beine fasst.

    Was ist der Unterschied zwischen der SPD und der Titanic? Die SPD kann den Eisberg jetzt schon sehen!

  • Lieber Karl,


    du fragst mich, ob ich der Meinung bin, Oper sei eine Frage der Bildung.
    Das kann ich nicht einfach mit ja oder nein beantworten. Aber ich glaube zu wissen, was du meinst.


    Meine Antwort:
    Opernfreunde gibt es in allen Bildungsschichten. Goethe hat es einmal (sinngemäß) so beschrieben: Die Zauberflöte kann sowohl einen Gelehrten erfreuen als auch ein Kind entzücken. Aber:
    Je mehr Bildungshintergrund und Sachverstand jemand mitbringt, desto tiefer wird er in den Don Giovanni, den Otello oder den Tristan eindringen - und desto mehr seelisch-geistigen Genuss wird ihm das Stück bereiten. Kopf und Herz zusammen erschließen ein Werk (nicht nur eine Oper, sondern jedes Kunstwerk) dem Rezipienten reicher als nur eines von Beiden.


    Herzliche Grüße von Sixtus

  • Ich glaube nicht, dass man Bregenz als repräsentativ für das Regie-Theater ansehen kann. Das ist ein Event und wohl kaum einer der namhaften Regisseure wird davon viel halten.


    Ich glaube nicht, dass man das so pauschal sagen kann. Schließlich gibt es neben der Seebühne ja auch noch das Festspielhaus, welches als Ausgleich durchaus ambitionierte und zum Teil selten gespielte Werke bietet (siehe hier). Insofern dient die Seebühne mit ihrem "Otto Normal-Programm" wohl auch als ein Vehikel der Quersubventionierung, was ich für vollkommen in Ordnung halte. - Ärgerlich ist dann aber tatsächlich, dass nur die Aufführungen der Seebühne und nicht (auch) die des Festpielhauses im TV zu sehen sind :cursing:

  • Der Moses in Ägypten von Rossini aus dem Bregenzer Festspielhaus würde wohl im TV übertragen, aber ich weiß leider nicht auf welchem Sendet. Vielleicht können andere Taminos weiterhelfen.
    ORF 3 hat die Premiere live übertragen. Kann vielleicht jemand einen Link des Videos hier reinkopieren, auch wenn der Thread dafür eigentlich nicht gedacht ist.

  • Hallo Sixtus,


    Zitat

    Je mehr Bildungshintergrund und Sachverstand jemand mitbringt,....


    es gibt Leute, die das in der Kunst als Danaergeschenk ansehen.


    Es grüßt


    Karl

  • Es ging ja hier von Anfang an vor allem um Eingriffe in Operntexte, um ihre (Nicht-)Zulässigkeit bzw. den Schaden, den sie anrichten. Der Aufhänger war der kämpferische Leitartikel in der Süddeutschen, in dem Brembeck zum Frontalangriff gegen den Text von Mozarts später Seria Tito und auch gegen die Meistersinger blies, aus Anlass der bevorstehenden Premieren der Salzburger und Bayreuther Festspiele.


    Beide Premieren sind nun vorbei. Heute las ich Brembecks Rezension des Tito, der wohl zu seiner Zufriedenheit ausgefallen ist - hat Regisseur Sellars doch den versöhnlichen Schluss der seria in ein tödliches Ende des Kaisers umfunktioniert (und sicher auch umgedichtet). Dabei bleibt nicht unerwähnt, dass er sich zum Schluss sterbend ziemlich deutlich als homosexuell outet. Das lässt Rückschlüsse auf das Privatleben des Regisseurs zu. Was Mozart dazu gesagt hätte, bleibt, gelinde gesagt, offen.


    Was die Bayreuther Meistersinger betrifft, so habe ich mit meiner Beurteilung gewartet, bis ich nicht nur die Übertragung im Rundfunk, sondern auch die Fernseh-Aufzeichnung gesehen habe. Das ist letzte Nacht geschehen. Hier mein Eindruck:


    Musikalisch überwiegend gut bis hervorragend, vor allem zu Beginn Behles großartiger David, der alle Klippen dieser schwierigen Partie souverän umschifft hat. Vogt sang einen Stolzing, der zum Besten gehört, was ich von ihm gehört habe soweit er überhaupt zu hören war. Aber für seine Verhältnisse war er in Hochform. Seine Eva war leider fehlbesetzt: Anne Schwanewilms ist eher der Gegentyp dieses Mädchens - und wurde auch noch von der Regie übertrieben hysterisch karikiert. Pogner Groisböck war ein sehr solider, Legato singender Goldschmied
    Die besten gesanglichen und darstellerischen Leistungen boten aber die Kontrahenden Sachs und Beckmesser. Volle sang farbenreich, ohne Ermüdungserscheinungen, und spielte geradezu schmerzlich intensiv. Was mir etwas fehlte, ist ein Timbre, das ich mit dem Schusterpoeten verbinde: die unverkennbare Mischung von Derbheit und sonorem Glanz. Ohne Einschränkung überzeugte mich J.M.Kränzle, der keine Wünsche offen ließ, der darstellerisch brillierte und dem Schreiber auch die nötige stimmliche Autorität verlieh. Die skurrilen Gefechte der Beiden im 2.und 3.Akt waren ein Genuss.
    Pilippe Jordan am Pult müsste eigentlich für die Eingriffe der Regie in die Ouvertüre Schmerzensgeld bekommen. Ich habe kaum je so wenig davon mitbekommen, vor lauter Gewusel auf der Wahnfried-Bühne, die hier das Kirchenschiff ersetzt. Leider scheint sich der Dirigent von dieser Ablenkungs-Orgie nicht mehr ganz erholt zu haben; denn die Lautstärke, in die er sich flüchtete, setzte den Sängern gewaltig zu.


    Damit komme ich zum Kern dessen, was hier verhandelt wird - und das ja die Meisten von euch sicher ganz oder teilweise gesehen haben:
    Regisseur Barrie Kosky, im Vorfeld als genialer Alleskönner angepriesen, lieferte vor allem virtuose Slapstick-Nummern, die oft bis zum Klamauk gingen. Das ist zwar oft gewöhnungsbedürftig, löst oft Kopfschütteln aus. Aber es ist harmlos gegen das, was er mit erhobenem Zeigefinger (teils auch mit dem Holzhammer) aus den Schauplätzen, den Figuren und damit auch aus dem ganzen Stück macht (das immerhin, mit dem Freischütz, eine deutsche Nationaloper ist):
    Der 1.Akt spielt (statt in der Katherinenkirche nach dem Gottesdienst) in der Villa Wahnfried, wohin das gesamte Personal (Kirchenbesucher, Meister und alle Besucher der Villa wie Liszt, Levi etc. hineingepfercht werden.

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  • Eine falsche Bewegung hat meinen Bericht abrupt unterbrochen. Jetzt also weiter:
    Der 2.Akt spielt (statt in der Nürnberger Altstadt) in einer Art vergammeltem Innenhof, offenbar Teil des Gebäudes der späteren Kriegsverbrecherprozesse, natürlich ohne blühenden Fliederbaum. Die Atmosphäre der Mittsommernacht fehlt, Stolzing und Eva müssen sich hinter einer Kompostlege verstecken.
    Der 3.Akt findet zur Gänze (statt in der Schusterstube und später auf der Festwiese) im Gerichtssaal dieses Gebäudes statt. Also 2 Stunden leere Bühne, möbliert von Gerichtsbänken, die dann zuerst durch das Personal der Schusterstube, dann von der Nürnberger Bevölkerung gestürmt werden.
    Die Einzelheiten der dadurch verfremdeten Handlung zu beschreiben, erspare ich mir. Es funktioniert nach der Methode: Reim dich, oder ich fress dich. Die politisch unkorrekten Sätze von der deutschen Kunst muss Sachs vor leerem Saal sprechen, weil das Publikum rechtzeitig zwischengelagert wurde.


    Nicht ersparen kann ich mir die Feststellung:
    Wagner war zwar Antisemit (wie sehr viele seiner Zeitgenossen!). Aber er ist nicht verantwortlich zu machen für das, was lange nach seinem Tode aus seinem Werk gemacht wurde. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein Künstler wie er sich mit den tonangebenden Nazis auf eine Stufe gestellt hätte. (Was seine Familienmitglieder nach ihm getan haben, hat er nicht zu verantworten.) Deshalb sind die hier beschriebenen Zuordnungen willkürliche Manipulationen, die mit seinem Werk nichts zu tun haben - auch wenn derartige Zuordnungen heute Hochkonjunktur haben - meint Sixtus

  • Es ging ja hier von Anfang an vor allem um Eingriffe in Operntexte, um ihre (Nicht-)Zulässigkeit bzw. den Schaden, den sie anrichten.


    Lieber Sixtus!
    Das ist ein Thema, das unausweichlich auf die abschüssige Bahn zur Regietheater-Diskussion führt und deshalb habe ich mich daran auch bisher (fast) nicht beteiligt.
    In Deinem Text nimmst Du kurz auf den Salzburger "Titus" Bezug. Den habe ich inzwischen in Salzburg gesehen und gehört.
    Dass für Peter Sellars "die Integrität des Operntextes" kein Imperativ ist, von dem er seine Phantasie und sein Mitteilungsbedürfnis eingrenzen läßt, war ja vorher schon klar. Darüber will und werde ich nicht weiter reden.


    Was mich viel mehr beschäftigt ist die Erfahrung, dass auch ein (auch hier im Forum) hochgelobter Musiker wie Theodor Currentzis dem Notentext nicht traut!
    Er streicht, stellt um und fügt einfügt! So bekommt man im "Titus" Teile der Maurerische Trauermusik, der c-moll-Messe und aus dem Adagio und Fuge in c-moll. Viel moll also in einem Werk, in dem Mozart auffällig fast demonstrativ wenig in moll schreibt.
    Aber damit nicht genug! Currentzis begnügt sich nicht mit den Eingriffen in den Text! Er unterwirft das, was er aufführt, auch einer Ästhetik des schamlosen Herauskitzelns aller Reize.
    Das fängt gleich in der Ouvertüre an: die Eingangsakkorde wollen nicht von Fleck kommen und haben ein Gewicht, wie in einer Bruckner-Sinfonie. Dann auf einmal bricht es los in rasendem Tempo. Wie ein Sturzbach! Bei dem zweiten Thema wird wieder so hart abgebremst, dass man fast mit dem Kopf an die Windschutzscheibe zu prallen glaubt. Und dieses stop-and-go herrscht den ganzen Abend. Es ist oft gar nicht einzusehen, wann und warum gedehnt wird und wann und warum die Musik wieder vorangetrieben wird.
    Aber damit nicht genug. Auch die Klangregie ist extrem eigenwillig. Ruppige und grobe Effekte stehen neben empfindsamen, extrem ausgekosteten Momenten. Manchmal glaubt man in einem peitschenden Sturm von Berlioz zu sein und dann wieder in einer bitter-süßen Liebesszene von Massenet! Und immer wieder überrumpelt Curretzis mit unvermittelten Zäsuren und nie gehörten Effekten! Ob man die hören wollte, wird man natürlich nicht gefragt. Und ob sie Mozart hätte haben wollen, sowieso nicht.


    Ein solches Musizieren macht erst mal mächtig Wirkung. Entsprechend war die Begeisterung im Publikum.


    Ich habe in diesem Jahr gleichsam im Kontrast auch den "Titus" in Glyndebourne gehört. Unter der Leitung von Robin Ticciati. Das war ein völlig anderes Musizieren! Aber davon will ich jetzt nicht weiter berichten. Ich käme unweigerlich in hymnischen Schwärmen.


    Was mir hier in diesem Zusammenhang wichtig ist, wäre etwas anderes. Nämlich die Frage, ob durch Libretto und Notentext wirklich festgeschrieben ist, wie die Oper aussehen und klingen soll?
    Ich habe da meine Zweifel. Aber dazu habe ich mich ja in einem ganz anderen Zusammenhang recht ausführlich am Beispiel einer Mahler-Sinfonie geäußert.


    Beste Grüße


    Caruso41

    ;) - ;) - ;)


    Wer Rechtschreibfehler findet, darf sie behalten!

  • Ich habe in diesem Jahr gleichsam im Kontrast auch den "Titus" in Glyndebourne gehört. Unter der Leitung von Robin Ticciati. Das war ein völlig anderes Musizieren! Aber davon will ich jetzt nicht weiter berichten. Ich käme unweigerlich in hymnischen Schwärmen.


    Lieber Caruso, ich finde es sehr schade, dass Du uns nie an Deinen Opern-Besuchen teilhaben lässt. Du gehst so oft in die Oper, dass es aus Zeitgründen sicherlich unmöglich ist, jedesmal eine Besprechung zu verfassen. Aber zu herausragenden Ereignissen wie offenbar dem "Titus" in Glyndebourne oder auch dem Salzburger Pendant (für Dich offenbar herausragend schlecht, jedenfalls im Hinblick auf das Dirigat) wären Berichte doch sehr wertvoll. Ich würde sie jedenfalls mit großem Interesse lesen und mich dadurch auch zu eigenen Opernbesuchen inspirieren lassen.

    Der Traum ist aus, allein die Nacht noch nicht.

  • Ich zitiere einmal den letzten Abschnitt von Helmut Maurós (SZ) Rezension der neuen "Lady Macbeth von Mzensk" bei den Salzburger Festspielen. "Hier (gemeint ist der Schluss) hätte der Regisseur auch mal ein bisschen abweichen können von seinem realistischen Bühnensozialismus, der zudem absurde Details hervorbringt: während Katerina ihre Nebenbuhlerin Sonetka die lange Betontreppe hochschleift, um sich mit ihr in den Tod am Strick zu stürzen, singt ein Sergeant im Brustton der Überzeugung: `Beide sind ertrunken, die Strömung ist zu stark`. Ein paar Lagerinsassen laufen noch vorbei. Gut, dass jetzt der Vorhang fällt. Schade, dass die Musik nicht ein bisschen weitergeht!"
    Das gleiche Problem haben übrigens die Regisseure der Katja Kabanowa, die am Schluss in die Wolga springt und nass wieder herausgezogen wird. Ich habe das nur einmal vernünftig inszeniert gesehen, vor Jahren in Münster, da sprang die Katja, und nass wurde sie herausgezogen und nass auf die Bühne gelegt, bevor die Kabanicha ihren Schlusssermon aufsagt.

    Was ist der Unterschied zwischen der SPD und der Titanic? Die SPD kann den Eisberg jetzt schon sehen!

  • Lieber Caruso, ich finde es sehr schade, dass Du uns nie an Deinen Opern-Besuchen teilhaben lässt. Du gehst so oft in die Oper, dass es aus Zeitgründen sicherlich unmöglich ist, jedesmal eine Besprechung zu verfassen. Aber zu herausragenden Ereignissen wie offenbar dem "Titus" in Glyndebourne oder auch dem Salzburger Pendant (für Dich offenbar herausragend schlecht, jedenfalls im Hinblick auf das Dirigat) wären Berichte doch sehr wertvoll.


    Lieber Berarido,


    ganz abgesehen davon. dass mir die Zeit fehlt, Berichte über herausragende Opernaufführungen zu schreiben, ist mir die Lust dazu abhanden gekommen, als nach solchen Berichten immer nur die Inszenierung attackiert wurde und zwar durchweg von Leuten, die sie nicht gesehen hatten sondern allenfalls Bilder davon.
    Ich versuche deshalb lieber über die Leistungen einzelner Sänger, die ich bei meinen Opernbesuchen erlebt habe, in den dafür vorgesehenen Threads zu berichten. Demnächst werde ich vielleicht mal in dem "Neue Stimmen"-Thread über Alicia Coote schreiben, die ich jetzt im Glyndebourne-"Titus" als Vitellia überragend fand und schon in Hamburg als ungemein ausdrucksstarken Ariodante sehr genossen habe. Die (einzige???) herausragende Gesagsleistung im Salzburg-"Titus" kam eigentlich von Marianne Crebassa. Die hatte ich schon vor etlichen Monaten im "Neue Stimmen"-Thread vorgestellt!

    Überhaupt "Neue Stimmen": Die Sänger, die ich vorgestellt habe oder zu denen ich meinen Kommentar in diesem Thread gegeben habe, sind ja alles Sänger, die ich bei meinen Opernbesuchen in den letzten Monaten gehört habe. Der Bezug wird eigentlich immer deutlich thematisiert.


    Beste Grüße


    Caruso41

    ;) - ;) - ;)


    Wer Rechtschreibfehler findet, darf sie behalten!

  • ganz abgesehen davon. dass mir die Zeit fehlt, Berichte über herausragende Opernaufführungen zu schreiben, ist mir die Lust dazu abhanden gekommen, als nach solchen Berichten immer nur die Inszenierung attackiert wurde und zwar durchweg von Leuten, die sie nicht gesehen hatten sondern allenfalls Bilder davon.


    Das verstehe ich sehr gut, aber es ist trotzdem schade.

    Der Traum ist aus, allein die Nacht noch nicht.

  • Was mich viel mehr beschäftigt ist die Erfahrung, dass auch ein (auch hier im Forum) hochgelobter Musiker wie Theodor Currentzis dem Notentext nicht traut!
    Er streicht, stellt um und fügt einfügt! So bekommt man im "Titus" Teile der Maurerische Trauermusik, der c-moll-Messe und aus dem Adagio und Fuge in c-moll. Viel moll also in einem Werk, in dem Mozart auffällig fast demonstrativ wenig in moll schreibt.


    Zum Thema zurück: Ich würde das Einfügen anderer Werk-Teile nicht unbedingt als "dem Notentext nicht trauen" bezeichnen. Es kann ja ein interessantes und schlüssiges Konzept dahinter stecken, eine Mozart-Oper durch Teile anderer Werke zu ergänzen. Nach dem, was ich über diese Produktion gelesen habe, kann man diese Entscheidung wohl auch nicht losgelöst vom Konzept des Regisseurs Peter Sellars sehen, über das zu diskutieren mir die eigene Anschauung fehlt (und hier im Forum auch sinnlos wäre). Ob das ganze gelungen ist, muss man dann im Einzelfall beurteilen. Ich finde aber nicht, dass so etwas "verboten" ist.

    Der Traum ist aus, allein die Nacht noch nicht.

  • Ich finde aber nicht, dass so etwas "verboten" ist.


    Lieber Bertarido!


    Verboten ist nichts!
    Die Vorstellung von der intégrité eines musikalischen Werkes ist an sich absurd, da musikalische Werke darauf angewiesen sind, durch Menschen aufgeführt zu werden. Diese Menschen sind nicht einfach Ausführende sondern immer auch Gestaltende! Wie weit sie sich dabei von dem lösen, was den Librettisten und Komponisten eigentlich vorgeschwebt haben mag, im Einzelfall zu bestimmen, ist höchst subjektiv! Texte - zumal Notentexte - sind nie eineindeutig !!


    Es wäre interessant mal zu hören, wann genau die Vorstellung von der Integrität, ja Heiligkeit musikalischer Werke aufkam. Vielleicht weiss das Holger Kaletha das? Ich vermute, dass diese Vorstellung vor der Hochromantik den Autoren sehr sonderbar vorgekommen wäre.


    Liebe Grüße


    Caruso41

    ;) - ;) - ;)


    Wer Rechtschreibfehler findet, darf sie behalten!

  • Verboten ist nichts!
    Die Vorstellung von der intégrité eines musikalischen Werkes ist an sich absurd, da musikalische Werke darauf angewiesen sind, durch Menschen aufgeführt zu werden. Diese Menschen sind nicht einfach Ausführende sondern immer auch Gestaltende! Wie weit sie sich dabei von dem lösen, was den Librettisten und Komponisten eigentlich vorgeschwebt haben mag, im Einzelfall zu bestimmen, ist höchst subjektiv! Texte - zumal Notentexte - sind nie eineindeutig !!


    Lieber Caruso, 100% Zustimmung!

    Der Traum ist aus, allein die Nacht noch nicht.

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