Quo Vadis Liedgesang?
diese Frage stelle ich mir seit ich am 12. August 2019 Günther Groissböck, Bass zusammen mit Alexandra Goloubitskaia, Klavier als Liedersänger im Markgräflichen Opernhaus Bayreuth erleben durfte. Prachtvoll und ungewöhnlich wie das Ambiente und die Atmosphäre des Aufführungsortes war auch dieser Liederabend. Bereits die "Vier ernsten Gesänge" von Johannes Brahms gestaltete Groissböck mit beeindruckender Klangfülle. Durch die ihm in höchstem Maße zur Verfügung stehenden unterschiedlichen Farben und Differenzierungen erhielten diese Lieder und auch alle nachfolgenden Stücke den Charakter von sorgfältig modellierten Mikro-Opern. Die 12 Gesänge aus Robert Schumanns "Liederkreis" Op. 39 gestaltete der Bass inniger und variabler. Doch wieder war es unverbrauchte, jugendliche Kraft, der in allen Lagen makellos strömenden Stimme, die außerordentlich beeindruckte und die Zuhörer magnetisch in ihren Bann zwang. Bereits zur Pause gab es für einen Liederabend erstaunlich starken Beifall und Bravorufe des anspruchsvollen Bayreuther Festspielpublikums. Im zweiten Teil, mit sorgfältig ausgewählten russischen Liedern, die Tschaikowsky und Sergej Rachmaninoff gewidmet waren, gelang sogar noch eine Steigerung. Der Sänger gestaltete die russichen Melodien mit enormer Leidenschaft und emotionaler Ausdruckskraft. Er ließ seinen Prachtsbass, der in der Tiefe noch an voll tönendem Volumen zugenommen hat, mit perfektem Legato und weit ausschwingenden Belcanto-Bögen strömen. Vorbildlich auch die klare Artikulation und dadurch erreichte hohe Textverständlichkeit. Zu all diesen Tugenden kam noch das nahezu blind funktionierende Zusammenwirken mit der versierten Liedbegleiterin Alexandra Goloubitskaia. Insgesamt ein restlos begeisternder Liederabend mit Ausnahmecharakter. Bei der unerwarteten Zugabe mit Wotans Abschied kannte der Jubel kaum mehr Grenzen. Dieses Stück war mehr als ein Appetitanreger für den Wotan, den Günther Groissböck im nächsten Festspielsommer gestalten wird. Es war das Versprechen auf eine spektakuläre Gestaltung der vielschichtigen Götterfigur. Die Frage, die meine Frau und ich nach diesem Erlebnis engagiert und ausführlich diskutierten war: Deutet dieses intensiv glühende Singen mit seinem nie versiegenden Kraftstrom einen Paradigmenwechsel im Liedgesang an? Kommt nach der langen Periode, in der beim Lied auf das Wort, die Ausformung des Textes der größte Wert gelegt wurde - Protagonisten dieser Auffassung waren Elisabeth Schwarzkopf und Dietrich Fischer-Dieskau - nun wieder eine stärkere Betonung der Musik und des Gesanglichen? Der überwältigende Liederabend von Günther Groissböck könnte in diese Richtung deuten. Gerade dieser Bassist konnte 2014 mit seinem Ochs bei den Salzburger Festpielen, der außergewöhnlichen Autorität, mit dem er den Pogner in Wagners "Meistersingern" zum gleichwertigen Partner des Sachs profilierte und ganz aktuell mit einem völlig andersartigen Kezal in der "Verkauften Braut" in München, wo er laut Presse ein "Bühnenurereignis" kreierte, völlig neue unerwartete Rollencharaktere schaffen. Wird diesem Ausnahmesänger, der noch nicht im Zenit seines Könnens steht und deshalb noch weitere ungeahnte Entwicklungsmöglichkeiten hat, eine weiterführende Evolution auch im Liedgesang gelingen? Die Latte der Herausforderung ist gerade in dieser Königsdisziplin des Gesangs hoch gelegt. Bisher konnte der Überflieger im Bassfach noch jede Hürde problemlos schaffen. Quo vadis Liedgesang?
Herzlichst
Operus (Hans)