Alle sprechen über dasselbe Musikwerk

  • Die beruhigende Rückkehr zum Grundton "D" am Ende des letzten Liedes - Helmut Hofman hat das in seinem thread alles sehr genau beschrieben (Gustav Mahler. Seine Lieder, vorgestellt und besprochen in der Reihenfolge ihrer Entstehung und Publikation) finde ich in ihrer Schönheit und tröstenden Wirkung außerordentlich verstörend.

    So etwas darzustellen ist wohl nur mit einem starken Glauben möglich. Gleichwohl liegt in der Musik selbst kein Glaube - und es bleibt nur der Trost.

    Ganz aufgelöst bekomme ich diesen Widerspruch für mich nicht.

  • Ist dieser Trost nicht doch etwas wie "Abfinden" und schließlich "Akzeptanz"?

    Man kann das so sehen und verstehen. Ich will mich nicht um dieses Wort streiten.

    Bitte aber zu bedenken:

    "Akzeptanz" stellt einen rational bewusst vorgenommenen, also aktiven Akt des Hinnehmens eines Sachverhalts und des Eiverstanden-Seins damit dar. Zu einem solchen Akt ist das lyrische Ich in den "Kindertotenliedern" nicht in der Lage. Das macht das so Bedrückende an diesen Gedichten Rückerts aus. Sie beinhalten ein permanentes und nicht Enden wollendes Sich-Herumquälen und nicht Fertigwerden mit der Kindestod-Erfahrung.


    Das, was sich in der letzten Strophe des fünften Liedes ereignet, ist eben gerade nicht ein bewusstes Hinnehmen und Einverstanden-Sein mit dem Sachverhalt, der Unabänderlichkeit der Gegebenheiten, Akzeptanz also. Vielmehr stellt es eine, wenn man es psychologisch sieht und entsprechend formuliert, emotionale Flucht aus der Unerträglichkeit der situativen Immanenz in die Tröstllichkeit der Transzendenz dar, ein Ruhe und Frieden Finden im Glauben.

    Mahler hat das auch so gesehen und verstanden, wie seine Musik sehr deutlich zu vernehmen und erkennen lässt.


  • Mal schnell gegoogelt:


    Anne Schwanewilms über ihre Annäherung an den Liederzyklus

    Überzeugt mich bei Nr. 3 & 4 tatsächlich nicht ganz. Ich sehe in dem Imaginieren, dem Selbstbetrug von Nr. 4 eine Art inneres Verhandeln. Sie könnten "nur ausgegangen" sein. In Nr. 3 überwiegt für mich eher die tiefe Trauer und somit Depression.

    Aber interessante Verknüpfung allemal!

    Beste Grüße von Tristan2511


    "Glaubt er, dass ich an seine elende Geige denke, wenn der Geist zu mir spricht?"

    (Beethoven zu Schuppanzigh)

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  • Das, was sich in der letzten Strophe des fünften Liedes ereignet, ist eben gerade nicht ein bewusstes Hinnehmen und Einverstanden-Sein mit dem Sachverhalt, der Unabänderlichkeit der Gegebenheiten, Akzeptanz also. Vielmehr stellt es eine, wenn man es psychologisch sieht und entsprechend formuliert, emotionale Flucht aus der Unerträglichkeit der situativen Immanenz in die Tröstllichkeit der Transzendenz dar, ein Ruhe und Frieden Finden im Glauben.

    Das finde ich überzeugend argumentiert. Es ist keine rationale Entscheidung, in diesem Sinne also keine Akzeptanz.

  • Aber dennoch: der persönliche Erfahrungshintergrund der beiden ist ähnlich

    Ist er das? Mahlers Tochter ist doch zum großen Bedauern biographistischer Interpreten zu spät gestorben, nämlich erst drei Jahre nach der Komposition der Lieder. Da bleibt als Behelfskonstruktion leider nur noch so etwas wie "vorausahnende Trauer". Mahler selbst soll ja rückblickend gesagt haben, dass er die Lieder nach der persönlichen Kindstod-Erfahrung nicht mehr hätte schreiben können, während Rückert seine eigene Trauer in den Gedichten künstlerisch verarbeitete. Insofern würde ich eher sagen, dass der Erfahrungshintergrund der beiden entgegengesetzt ist.

  • Ist er das? Mahlers Tochter ist doch zum großen Bedauern biographistischer Interpreten zu spät gestorben, nämlich erst drei Jahre nach der Komposition der Lieder.

    Das hatte ich auch nicht gemeint. Es geht um die Zeitgenossenschaft in einer Zeit, die medizinisch weit von den heutigen Möglichkeiten entfernt war. Die Kindersterblichkeit lag erheblich höher als heute (auch die der niederkommenden Mütter), riskant waren die ersten beiden Jahre. Angesichts des unterschiedlichsten Umgang mit Kindern von Kindstötungen bei außerehelichen Kindern, Kinderarbeit bei Heimarbeitern, Landwirtschaftsbetrieben und in der Industrie (für die Industrie erst 1903 abgeschafft) und einem insgesamt schwammigen Begrioff von Kindheit trifft der Tod zweier seiner Kinder bei Rückert auf einen ausgesprochen affektiven Vater. Wie Mahler affektiv zu dem Verlust seiner Geschwister gestanden hat weiß ich nicht. Aber offenkundig haben ihn die Rückert-Gedichte affektiv stark berührt. Wahrscheinlich ist der Begriff Errfahrungshintergrund unglücklich gewählt, gemeint ist die gemeinsame Zeitgenossenschaft im langen 19. Jahrhundert und der von beiden durchlebte Verlust von Kindern resp. Geschwistern im Kindsalter. Und das in einer Zeit, die dem Kinde gegenüber in der Breite eher gleichgültig war.


    Liebe Grüße vom Thomas :hello:

    Früher ist gottseidank lange vorbei. (TP)
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  • Die beruhigende Rückkehr zum Grundton "D" am Ende des letzten Liedes (...) finde ich in seiner Schönheit und tatsächlich tröstenden Wirkung außerordentlich verstörend. So etwas darzustellen ist wohl nur mit einem starken Glauben möglich. Gleichwohl liegt in der Musik ja kein Glauben - und es bleibt nur der Trost.

    Ganz aufgelöst bekomme ich diesen Widerspruch für mich nicht.

    Hierzu eine Anmerkung, Mahlers Musik in Lied fünf und insbesondere ihren Schluss betreffend:


    In vielerlei Hinsicht ist diese Komposition das Finale einer Folge von nur wenigen, eben mal gerade fünf Liedern, die sich zwar schon zuvor als Zyklus ausgewiesen hat, im letzten Lied sich aber als solcher definitiv konstituiert, - und das als einer, der den anderen großen Zyklen der Liedgeschichte würdig zur Seite treten kann. Seine Finale-Funktion zeigt sich unter rein formalem Aspekt schon darin, dass dieses fünfte Lied die Tonart des ersten aufgreift, das d-Moll nämlich. Aber das ist ja doch nur die Oberfläche dessen, was sich hier ereignet: Es greift auch die Thematik des ersten Liedes in unmittelbarer Weise auf, die sich in der erschreckend lapidaren und darin elementare existenzielle Hilflosigkeit ausdrückenden Feststellung lyrisch artikuliert: „Das Unglück geschah nur mir allein, / Die Sonne, sie scheinet allgemein.“

    Diese Rat- und Hilflosigkeit des lyrischen Ichs, wie sie das erste Lied mit dieser in ihrem konstatierenden Gestus tatsächlich erschreckenden und mit einer in d-Moll schwer fallenden Liedmusik zum Ausdruck bringt, wird in den nachfolgenden Liedern zu bewältigen versucht, wobei der Kindestod nur eine behutsame, teilweise metaphorisch eingekleidete Erwähnung erfährt und das lyrische Ich sich in Erlösung verheißende transzendente Visionen flüchtet, ohne dass sich diese erlösende Befreiung vom Schmerz des Verlusts der Kinder wirklich einstellt. Jetzt aber, in diesem liedkompositorischen Finale, wird das Leid auf direkte, harte, geradezu brutale Weise bei seinem Namen genannt: „Ich sorgte, sie stürben morgen, das ist nun nicht zu besorgen.“ Und die Liedmusik bringt das mit einer klanglichen Schroffheit und orchestral geradezu lärmenden Direktheit zum Ausdruck, die der Hörer zwar als schmerzlichen Kontrast zum vorangehenden Lied erfährt, sie aber gerade deshalb als in einem tiefen Sinne wahr, weil den inneren Zustand des lyrischen Ichs schonungslos reflektierend empfindet.

    Aber seinen eigentlichen Kern als Finale, eigentlich im Hinblick auf die musikalisch-künstlerische Aussage des Zyklus in seiner Ganzheit, offenbart dieses Lied erst in seinem zentralen liedmusikalischen Ereignis: Es ist der Schluss, in dem die Singstimme nun zum fünften Mal mit den Worten „In diesem Wetter…“ einsetzt. Dieses Mal aber tut sie es in einem fundamental anderen, aus Dur-Harmonik hervorgehenden klanglichen Umfeld und in der Weiterführung der melodischen Linie mit einer ganz und gar gewandelten, nämlich in den Schmelz der Streicher gebetteten orchestralen Begleitung. Die dreifachen Anschläge des Glockenspiels deuteten ja schon an, was sich nun ereignen wird. Und auch darin besteht ein dezenter Bezug zum ersten Lied. Denn im Zwischenspiel, bevor die Singstimme dort zur Deklamation der Worte „Du musst nicht die Nacht in dir verschränken“ übergeht, meldet sich das Glockenspiel drei Mal. Und es ist im kompositorischen Schaffen von Mahler grundsätzlich ein klangliches Sich-zu-Wort-Melden der Transzendenz.

    Und das ist es ja auch, was den Kern dieses musikalischen Ereignisses ausmacht: Das Hereintreten der „anderen Welt“ in die reale Welt des abgrundtiefen Schmerzes und hoffnungslosen Leidens, wie sie der Verlust der Kinder mit sich gebracht haben. Das Neue an diesem Ereignis, und das, was es zu einer Antwort auf die im Zyklus aufgeworfenen existenziellen Grundfragen werden lässt, besteht in der Art und Weise, wie es sich ereignet. War die klangliche Verzückung, in der das vorangehende vierte Lied sich am Ende steigert, letzten Endes das Ergebnis eines autosuggestiven Sich-Hineinsteigerns in das visionäre Bild, das sich in den Worten „Der Tag ist schön auf jenen Höh´n“ lyrisch sprachlich verdichtet, die Folge eines aus Verzweiflung und Hilflosigkeit hervorgehenden subjektiven Willensakts also, so mutet das, was sich mit dem letzten deklamatorischen Auftritt der Singstimme ab Takt 99 ereignet und von Mahler mit den Anweisungen „Leise bis zum Schluß“ und „Langsam wie ein Wiegenlied“ versehen ist, an wie ein Geschenk, - wie ein dem leidenden Menschen unverhofft und unerwartet zuteilwerdender Akt der Gnade.

    Hört man genau auf die Musik dieses Liedschlusses, einschließlich des Nachspiels, dann fällt auf:

    Darin finden sich Anklänge an das Lied „Urlicht“, dem vierten Satz der Zweiten Symphonie also, und an das Finale der Dritten Symphonie. Und sie erweisen sich als höchst aufschlussreich, die musikalische Aussage dieses letzten Liedes des Zyklus betreffend. Die melodische Linie auf den Worten „In diesem Wetter, in diesem Saus“ (Takte 99-104) ähnelt auffällig der auf den Worten „Da kam ich auf einen breiten Weg“ in „Urlicht“ (Takte 38-41). Und überdies ähneln sich auch die zugehörigen melodischen Figuren der ersten, bzw. der Solo-Violine. Und im Nachspiel des Liedes stimmen die Celli in Takt 128f. eine mit den Anweisungen „senza sord. unis.“, und „hervortretend“ versehene melodische Figur an, die an die Takte eins bis fünf des Finales der Dritten Symphonie erinnert.

    Zu diesem Finale bemerkte Mahler in einem Brief an Anna von Mildenburg (1.7.1896): „Ungefähr könnte ich den Satz auch nennen >Was mir Gott erzählt!<. Und zwar eben in dem Sinne, als ja Gott nur als >die Liebe< gefaßt werden kann“. Und nimmt man den von Mahler kompositorisch ganz gewiss nicht zufällig hergestellten Bezug zu „Urlicht“ hinzu, dann kann man sich ganz sicher sein, wie Mahler dieses letzte Lied seines Zyklus „Kindertotenlieder“ verstanden wissen wollte:

    Als musikalische Evokation des Glaubens an die Überwindung des Todes durch die Liebe in der Gewissheit der Existenz eines die Liebe verkörpernden Gottes.

  • 5 Trauerphasen.

    Sind das nicht die fünf Sterbephasen (nach Kübler-Ross)? Bei Verena Kast ("Abschied als Anfang") sind es vier Trauerphasen (S. 92 ff).


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  • Sind das nicht die fünf Sterbephasen (nach Kübler-Ross)?

    Ja, in ihrem Buch "On Death and Dying" sind es die fünf Phasen, wie das Sterben erlebt wird, z.B. nach einer eindeutigen Diagnose. Aber in diesem Buch bezeichnet sie diesen Vorgang als "übergeordneten Trauerprozess" und das Sterben als die "Trauer um das Leben". Diese fünf Phasen sind durchaus auch Phasen des Trauerns.

    Auf die Kindertotenlieder angewendet geht es ja durchaus um die Trauer des Sterbens. Und wenn die Kinder sterben, dann sterben die Eltern ein bisschen mit.

    Beste Grüße von Tristan2511


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  • Auf die Kindertotenlieder angewendet geht es ja durchaus um die Trauer des Sterbens. Und wenn die Kinder sterben, dann sterben die Eltern ein bisschen mit.

    Die Costa Blanca in Spanien hat viele Ausländer, die dorthin emigriert sind und deren Kinder auch dort aufwachsen. Deutsche und Engländer sind in diesem Teil Spaniens gut vertreten, auch auf den spanischen Friedhöfen. Auf einem dieser Friedhöfe fand ich ein Grab von einem kleinen Mädchen aus England (6). Dort hatten die Großeltern diesen Text auf den Grabstein gesetzt: "She died, and so did we!"

    Was ist der Unterschied zwischen der SPD und der Titanic? Die SPD kann den Eisberg jetzt schon sehen!

  • Der Schluss des letzten Satzes ist mir trotz eurer Erklärungen immer noch nicht klar. Erst aus einem Beitrag von Helmut habe ich erfahren, dass der Rückert-Text mit "von Gottes Hand bedecket" endet.

    Ich habe dann versucht, den Schluss zu singen und stellte fest, dass der Schluss "sie ruhen als wie in der Mutter Haus", den Mahler samt dem abschließenden Orchesterstück zugesetzt hat, sich bei mir absolut nicht "abschütteln" lässt. D.h.: bei Rückert steht nach "bedecket" ein Punkt, bei Mahler ein Doppelpunkt.

    Was aber aber bedeutet das? Hat Gott oder die Mutter das letzte Wort, wobei ja in den meisten menschlichen Populationen die Mutter eine zentrale Rolle hat (der Katholizismus hat seiner Lehre ja eine weibliche Gottheit hinzugefügt.) Jedenfalls scheint mir das ein tragender Eingriff in Rückerts Aussage zu sein, der so aus dem frommen Lied ein humanes macht, also durchaus eine Art subtile Religionskritik. Das ist eine echte Aporie bei mir; vielleicht seht ihr klarer.

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  • Was aber aber bedeutet das? Hat Gott oder die Mutter das letzte Wort, wobei ja in den meisten menschlichen Populationen die Mutter eine zentrale Rolle hat (der Katholizismus hat seiner Lehre ja eine weibliche Gottheit hinzugefügt.) Jedenfalls scheint mir das ein tragender Eingriff in Rückerts Aussage zu sein, der so aus dem frommen Lied ein humanes macht, also durchaus eine Art subtile Religionskritik. Das ist eine echte Aporie bei mir; vielleicht seht ihr klarer.

    Muss das wirklich eine Bedeutung jenseits des Musikalischen haben? Bei Sterbenden auf dem Feld hat man oft gehört, dass sie nach ihrer Mutter rufen, weniger nach Gott. Die Hinwendung zur Mutter mag durchaus ach etwas Irdisches haben. Dass der Katholizismus der Lehre eine weibliche Gottheit hinzugefügt hätte weise ich ja zurück. Eher hat wohl Luther aus dem Religiösen herausgestrichen, was ihm nicht biblisch erschien, etwa die Heiligenverehrung. Und die der Gottesmutter. Mahler war allerdings Jude und ist später zum Katholizismus konvertiert, wohl vornehmlich aus Opportunitätsgründen. Da alle drei abrahamitischen Religionen dem arabischen Raum entstammen würde ich den innigen Bezug zur Mutter im ursprünglich religiösen jenseits protestantischer Rationalisierungen suchen, bei dem Orientalisten Rückert gewiss beeinflusst durch seine Auseinandersetzung mit dem Islam, bei Mahler mit jüdischer Tradition oder schlichtweg in seiner eigenen Mutterbindung.


    Ein Wort vielleicht noch zu den Gedichten Rückerts: die allermeisten sind aus dem Nachlass veröffentlicht worden. Rückert selbst nannte das "Liedertagebuch". Der Nachlass umfasst etwa 10.000 solcher "Lieder", allesamt nicht zur Veröffentlichung bestimmt, darunter auch die "Kindertodtenlieder". Ein Gedicht wie "In diesem Wetter" etwa sehe ich als zunächst als erinnterte Beschreibung eines Vorgangs. Es ist Ende Dezember Anfang Januar, als die beiden Rückert-Kinder ihren Kampf gegen die Krankheit verlieren. Die Wohnungen haben nur Kerzenlicht oder Kienspäne, Straßenbeleuchtung gibt es auch nicht. Der Bestatter wird wohl mit einer Pferdekutsche vorgefahren sein. Eine Szenerie, die den Kummer der Eheleute Rückert noch verstärkt haben dürfte, verbunden mit der Angst, noch weitere Kinder verlieren zu können. All das steckt in diesen Versen "In diesem Wetter, diesem Braus, nie hätte ich gelassen die Kinder hinaus." Ein gespenstisches Szenario, das Rückert da aufschreibt, beim Schreiben vielleicht noch einmal den wegfahrenden Pferdewagen sieht, um sich dann selbst zu beruhigen. "Sie ruhen als wie in der Mutter Haus, von keinem Sturm erschrecket, von Gottes Hand bedecket, sie ruhn wie in der Mutter Haus". Alles Noteate, die Rückert für sich aufgeschrieben hat. Bei Mahler -ich habe gestern Abend nacheinander drei verschiedene Aufnahmen der "Kindertotenlieder" gehört scheint das Ankerwort des letzten Verses "ruhen" zu sein, in der Verbindung mit der Mutter Haus die glückliche, auch musikalische Wendung ins Tröstliche, Geborgenheit.


    Liebe Grüße vom Thomas:hello:

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  • Als musikalische Evokation des Glaubens an die Überwindung des Todes durch die Liebe in der Gewissheit der Existenz eines die Liebe verkörpernden Gottes.

    Jens Malte Fischer schreibt zu dieser Thematik, dass Mahler nicht christusgläubig im Sinne des Christentums war, dass er sich innerlich zum Christentum distanziert verhielt, wie er sich auch zur jüdischen Religion distanziert verhielt.
    „Unbezweifelbar aber ist, dass er einen Begriff von Gott hatte.“ (482)

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  • ...scheint das Ankerwort des letzten Verses "ruhen" zu sein, in der Verbindung mit der Mutter Haus die glückliche, auch musikalische Wendung ins Tröstliche, Geborgenheit.

    So ist es. Dieses Wort erfährt, zusammen mit "wie in der Mutter Haus" eine mehrfache Wiederholung, und dies entweder in Gestalt einer melodisch bogenhaften Aufgipfelung oder einer langen Dehnung in tiefer Lage:

    sie ruh´n, sie ruh´n als wie in der Mutter, der Mutter Haus,
    von keinem Sturm (R.: Sturme) erschrecket,
    sie ruh´n, sie ruh´n wie in der Mutter Haus, wie in der Mutter Haus.

    Das komparative "als wie", das beide Worte, bzw. Wortgruppen miteinander verbindet, macht deutlich, dass dieses "Ruhen" eines unter Gottes Hand ist, das in seinem Beschützt- und Behütetsein dem in Mutters Haus gleicht. (Dies zu der von Dr. Pingel aufgeworfenen Frage)


    Für Mahler ist das die zentrale Aussage, auf die der ganze Liederzyklus hinausläuft, auf die er kompositorisch-intentional ausgerichtet ist. Deshalb der ungewöhnlich große Raum, den sie im letzten Lied in Gestalt von mehrfachen Variationen des lyrischen Textes einnimmt.

  • Jens Malte Fischer schreibt zu dieser Thematik, dass Mahler nicht christusgläubig im Sinne des Christentums war, dass er sich innerlich zum Christentum distanziert verhielt ...

    In der Mahler-Literatur ist das nicht die einhellige Meinung.

    Immerhin gibt es die Aussage von Alma Mahler: "Er (Mahler) war christusgläubig und hatte sich keineswegs nur aus Opportunismus taufen lassen". In ihren "Erinnerungen" berichtet sie, dass Mahler "mit Inbrunst" ihre freigeistige, von Schopenhauer und Nietzsche geprägte Gesinnung bekämpfte und dass sie sich gewundert habe, "daß ein Jude einer Christin gegenüber sich heftig für Christus ereiferte".


    Auch Natalie Bauer-Lechner vertrat die Auffassung, dass er ein gläubiger Christ war. Sie berichtet von einem mehrstündigen Gespräch Mahlers mit Lipiner über Christus.

    Und Constantin Floros, der Experte in Sachen "geistige Welt Mahlers", stellt dazu die Frage: "Was berechtigt uns dazu, daran zu zweifeln?"


    Ich sehe es so: Mahler war im Grunde ein gläubiger Mensch, der sich eine ganz eigene Form von Pantheismus zusammengebaut hatte, in der auch der christliche Glaube Platz fand. Das natürlich nicht in seinem ganzen theologischen Potential, sondern nur in einer schlichten Christus-Gläubigkeit.

    Anders wäre - aus meiner Sicht - die Komposition des Schlusses von Lied fünf der "Kindertotenlieder" auch gar nicht möglich gewesen.

  • Fischer geht in seinem Mahler-Buch - das Du ja bestimmt kennst - detailliert darauf ein, warum Alma seine Haltung zum Glauben verzerrt hat. Der Zeitpunkt ihrer Äußerungen spielt dabei eine Rolle.


    Aber ich sehe es auch so, dass sich Mahler seinen eigene Pantheismus geschaffen hat und damit an JWvG anknüpft. Mit Freude habe ich aber auch gelesen, dass sein Lieblingsschriftsteller Jean Paul gewesen ist. Das wusste ich nicht.


    Zurück zu den Kindertotenliedern: Da der am Ende vom fünften Lied vermittelte 'Trost' in keinster Weise sakrale Merkmale aufweist, bin ich zunächst über Deine Auslegung 'gestolpert'. Aber vor dem Hintergrund eines pantheistischen Glaubens ist das natürlich schlüssig, auch was die eingesetzten Mittel und Techniken betrifft (bspw. das von Dir erwähnte Glockenspiel).

  • Ein Gedicht wie "In diesem Wetter" etwa sehe ich als zunächst als erinnerte Beschreibung eines Vorgangs. Es ist Ende Dezember Anfang Januar, als die beiden Rückert-Kinder ihren Kampf gegen die Krankheit verlieren. Die Wohnungen haben nur Kerzenlicht oder Kienspäne, Straßenbeleuchtung gibt es auch nicht. Der Bestatter wird wohl mit einer Pferdekutsche vorgefahren sein. Eine Szenerie, die den Kummer der Eheleute Rückert noch verstärkt haben dürfte, verbunden mit der Angst, noch weitere Kinder verlieren zu können. All das steckt in diesen Versen "In diesem Wetter, diesem Braus, nie hätte ich gelassen die Kinder hinaus." Ein gespenstisches Szenario, das Rückert da aufschreibt, beim Schreiben vielleicht noch einmal den wegfahrenden Pferdewagen sieht, um sich dann selbst zu beruhigen. "Sie ruhen als wie in der Mutter Haus, von keinem Sturm erschrecket, von Gottes Hand bedecket, sie ruhn wie in der Mutter Haus".


    Liebe Grüße vom Thomas:hello:

    Diese Diskussion, besonders der zitierte Text von Thomas, erklären die Sache ziemlich gut.

    (Über die Maria streiten wir uns ein andermal).

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  • So ist es. Dieses Wort erfährt, zusammen mit "wie in der Mutter Haus" eine mehrfache Wiederholung, und dies entweder in Gestalt einer melodisch bogenhaften Aufgipfelung oder einer langen Dehnung in tiefer Lage:

    sie ruh´n, sie ruh´n als wie in der Mutter, der Mutter Haus,
    von keinem Sturm (R.: Sturme) erschrecket,
    sie ruh´n, sie ruh´n wie in der Mutter Haus, wie in der Mutter Haus.

    Das komparative "als wie", das beide Worte, bzw. Wortgruppen miteinander verbindet, macht deutlich, dass dieses "Ruhen" eines unter Gottes Hand ist, das in seinem Beschützt- und Behütetsein dem in Mutters Haus gleicht. (Dies zu der von Dr. Pingel aufgeworfenen Frage)

    Ich finde, dass meine Frage von Thomas und Helmut schlüssig beantwortet ist.

    Mir ist jetzt auch klar, dass die Eindringlichkeit dieser letzten Musik über die Familie Rückert hinausgeht und alle Hörer dieser Musik meint.

    Es gibt in der Musikgeschichte eine Parallele zu diesem "Ruhe-Gedanken".

    Heinrich Schütz hat diese Idee zwei Mal vertont.

    "Selig sind die Toten, die in dem Herrn sterben.....sie ruhen , sie ruhen von ihrer Arbeit und ihre Werke folgen ihnen nach."

    Einmal ist es Teil III der "Musikalischen Exequien", die Vertonung des "Canticum Simeonis" (1636). Es findet sich in meinem Schreibtisch unter "Sagittarius".

    Dieses Tema greift Schütz 1648 (Geistliche Chormusik Nr. 23) noch einmal auf und zitiert sich selbst in der Motette "Selig sind die Toten..." Auch hier ertönt das "Sie ruhen...", ein Stück von magischer Kraft. Ich zitiere diese Motette, weil ich finde, dass sich die beiden "Sie ruhen..." gleichen, nicht in der Art eines Zitats, sondern in der Art, den gleichen Gedanken musikalisch auszudrücken.


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  • Fischer geht in seinem Mahler-Buch - das Du ja bestimmt kennst - detailliert darauf ein, warum Alma seine Haltung zum Glauben verzerrt hat. Der Zeitpunkt ihrer Äußerungen spielt dabei eine Rolle.

    Ja, Ja, - kenne ich. Und ich weiß auch, warum man diese Äußerung von Alma Mahler kritisch sehen muss. Sie stellt nämlich eine ärgerliche Reaktion auf den Kommentar von Ludwig Karpath über Mahlers Taufe im Februar 1897 dar.

    Aber die Quellenlage ist ja komplexer. Deshalb die zitierte Frage von Constantin Floros, der diese Quellenlage voll und ganz überblickt. Er kommt nach seiner gründlichen Beschäftigung mit diesem Fragenkomplex zu der Feststellung:

    "Mahler war - soviel lässt sich tatsächlich nachweisen - von der christlichen (speziell katholischen) Dogmatik, Mystik und Eschatologie fasziniert. Sie nehmen in seiner Glaubenswelt einen hervorragenden Platz ein."


    Aber lassen wir´s damit gut sein. Hat ja nur indirekt etwas mit dem im Augenblick hier zur Diskussion stehenden Thema zu tun.

    Es wird ohnehin Zeit, dass ich den Rückzug mache. Habe hier ja eigentlich nichts zu suchen, gehöre nicht zu dem erlesenen Kreis der Mitglieder dieses Projekts.

  • Danke für eure Antworten. Eine Sache ist mir aber noch unklar. Rückerts Gedicht endet "...von Gottes Hand bedecket". Mahler aber macht einen ganz neuen Schluss mit dem nochmaligen Vers "sie ruhn...". Ich singe manchmal Mahler im Wald vor mich hin. Jetzt versuche ich schon mal, das Lied in der Rückert-Fassung zu singen, und siehe da, es geht nicht; das letzte "sie ruhn" kann ich nicht abschalten.

    Die Frage: hat das eine Bedeutung?

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  • Ich werde meinen Beitrag gesplittet in zwei oder drei Teilen gesplittet auf meiner Kolumnenseite

    Lieber Holger, so sehr ich den Kolumnenbereich schätze, ist das doch ein bisschen komisch, einen Diskussionsbeitrag im abgesperrten Bereich zu schreiben. Wir alle schreiben ja auch hier im Austausch. Schreib doch bitte auch hier :)

    Beste Grüße von Tristan2511


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  • Wir alle schreiben ja auch hier im Austausch.

    Nun, das ist ja durchaus möglich, indem wir Zitate, über die wir sprechen wollen, aus in Holgers Text markieren, hier einfügen und sodann hier diskutieren.


    Ich jedenfalls kann diese so abgründig traurige und tief berührende Musik nicht einfach „durchhören“. Für mich geht sie an die Schwelle von dem, was ich verkrafte und verkraften kann. Ich kenne kein anderes Musikstück, das mir als Hörer so „an die Nieren“ geht.

    Solche Hinweise auf die Wirkung des Werkes sind enorm wichtig. Denn freilich, Textform und -gestalt lassen sich auf einer analytisch-abstrakten Ebene betrachten ebenso wie die Musik. Tatsächlich gehen Musik und Text hier eine ungemein starke Verbindung ein. Rückert selbst wird -auch wenn er seine Tagebuchproduktion "Lieder" genannt hat- nicht an eine Vertonung gedacht haben, an eine Singbarkeit. Seine musikalische Epoche wäre auch eine andere gewesen. Mahler schafft hier etwas Überzeitliches und auch etwas stark Affektansprechendes. Teilweise scheinen es mir die musikalischen Akzentezu sein, die Mahler setzt, zwei der Lieder etwa enden mit einem einzelnen Harfenton, d.h., die Musik verklingt nicht langsam sondern bekommt einen sanften Schlusspunkt. "Genug jetzt," scheint der zu sagen, "wende Dich wieder dem Leben zu." Hört man sie im Zusammenhang bleibt am Schluß das Tröstende. Insofern fällt es mir leichter, sie nacheinander zu hören. Oder nur Lied Nr. 5.


    Liebe Grüße vom Thomas :hello:

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  • Der christliche Glaube will Trost spenden. Aber dies ist eigentlich nur der ganz und gar hilflose Versuch, über das im Prinzip Untröstliche der Abgründigkeit der Erfahrung des Kindstodes hinwegtrösten zu wollen.

    Hier kommt Widerspruch vom Theologen.

    NB: Ich fand es sehr angenehm, als ich mein Philosophicum an der HU Berlin abgelegt habe, dass mein verehrter Lehrer Prof. Volker Gerhardt nicht in die 'übliche' Falle der Philosophen getreten ist, die Schwesterwissenschaft der Theologie zu eindimensional zu sehen. Er konnte mit fundiertem theologischen Wissen auch theologisch denken. Dich habe ich bisher eigentlich auch immer so wahrgenommen. ;)


    Natürlich ist es nicht das einzige Ziel des christlichen Glaubens Trost spenden zu wollen. Grade bei so etwas schlimmen wie dem Kindstod. Neben vielen anderen Funktionen und Zielen des christlichen Glaubens (die hier nicht hergehören) ist Trost selbstverständlich eine wichtiges Ziel. Allerdings bewegen wir uns hier ja eher im Feld der Kontingenzbewältigung, verstanden nach Hermann Lübbe: Religion bietet für die Anfechtungen des Lebens nicht (nur) Trost, sondern überhaupt eine Form der handelnden und geistigen Verarbeitung, um einen Umgang mit der Anfechtung der persönlichen Katastrophe zu finden. Bewältigung ist nicht gleich Trost. Bei Leiderfahrungen dieser Größenordnung ist der Theologie der Rückert-Zeit schon lange klar, dass es nicht um 'billigen Trost' gehen kann, sondern überhaupt ersteinmal um Realisierung, Einordnung, Rückbindung (an andere Leiderfahrungen und an Leidensgenossen) und ggf. auch transmissibles Abladen von Ohnmacht, Wut oder Unverständnis. Auch die Konstruktion einer Providentia und/oder die personale Erkenntnis eines als böse empfundenen Fatalismus können dazu beitragen das Unaushaltbare zu ertragen. Aber die pure Bewältigung einer Kontigenzerfahrung muss nicht allein im (billigen) Trost enden.

    Heutzutage gilt dies ohnehin nicht, da Seelsorge situationssensibel verläuft. Über so etwas wie den Tod eines Kindes kann man nicht hinweg trösten. Hier geht es ums Gemeinsame Aushalten (das kann der Seelsorger leisten: Gemeinsamkeit, Resonanz und Anschluss herstellen), um praktische Hilfe, und in der Notfallseelsorge auch als Auffangbecken von Emotionen, die nur von dem gehalten werden können, der nicht betroffen ist.

    Beste Grüße von Tristan2511


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  • Interessante These, lieber Holger, aber ich halte sie für schwierig. Zum einen basiert sie vor allem auf der Idee, wie Mahler hätte komponieren müssen, wenn er das Rückert-Gedicht nicht hätte dekonstruieren wollen - was sehr spekulativ ist -, zum anderen hat Mahler das Lied ja gar nicht durchgehend "ohne Dramatik" komponiert, in der Mitte wird es, wie von Dir (interpretierend) beschrieben, dramatischer und beruhigt sich dann im weiteren Verlauf. Vor allem aber gibt es keine absurden Momente - und darauf zielt Deine These ja ab.


    Ich bin da bei Helmut Hofmann , der die Kindertotenlieder und auch dieses erste Lied an anderer Stelle sehr genau analysiert hat.

  • Hier kommt Widerspruch vom Theologen.

    NB: Ich fand es sehr angenehm, als ich mein Philosophicum an der HU Berlin abgelegt habe, dass mein verehrter Lehrer Prof. Volker Gerhardt nicht in die 'übliche' Falle der Philosophen getreten ist, die Schwesterwissenschaft der Theologie zu eindimensional zu sehen. Er konnte mit fundiertem theologischen Wissen auch theologisch denken. Dich habe ich bisher eigentlich auch immer so wahrgenommen.

    Hier könnte ich nun antworten: Man soll auch von theologischer Seite aus die Philosophie nicht so eindimensional sehen. ^^ Die Verbindung von Philosophie und Theologie ist traditionell sehr eng. Beispiel Hegel. Hegels theologische Jugendschriften zeigen, dass das Vorbild seiner Dialektik die Trinität ist. "Im absolut Anderen bei sich selbst sein können" - das Vorbild dafür ist der heilige Geist, der vermittelt zwischen Gott und Gottes Sohn, der für die Menschen gestorben ist. Das "absolut Andere" ist letztlich der Tod. Gott hat sich mit dem Tod versöhnt, also kann und soll sich auch der Mensch mit dem Tod versöhnen, indem er das endliche Bewusstsein aufgibt. Das steht letztlich hinter dem Satz "Die Wahrheit des Individuums ist sein Tod." Das ist Hegels Trost der Philosophie - mit der christlichen Trinität gedacht.

    Natürlich ist es nicht das einzige Ziel des christlichen Glaubens Trost spenden zu wollen. Grade bei so etwas schlimmen wie dem Kindstod. Neben vielen anderen Funktionen und Zielen des christlichen Glaubens (die hier nicht hergehören) ist Trost selbstverständlich eine wichtiges Ziel. Allerdings bewegen wir uns hier ja eher im Feld der Kontingenzbewältigung, verstanden nach Hermann Lübbe: Religion bietet für die Anfechtungen des Lebens nicht (nur) Trost, sondern überhaupt eine Form der handelnden und geistigen Verarbeitung, um einen Umgang mit der Anfechtung der persönlichen Katastrophe zu finden. Bewältigung ist nicht gleich Trost.

    Du hast für mich einen viel zu engen Begriff des Trostes. In der Antike gibt es eine ganze Trostliteratur. Der Klassiker ist Boethius´ ungemein einflussreiche Schrift De consolatione philosophiae ("Der Trost der Philosophie"). Boethius war zum Tode verurteilt und schreibt diese Trostschrift. Da ist der Trost all das - Kontingenzbewältigung, Verarbeitung.

    Bei Leiderfahrungen dieser Größenordnung ist der Theologie der Rückert-Zeit schon lange klar, dass es nicht um 'billigen Trost' gehen kann, sondern überhaupt ersteinmal um Realisierung, Einordnung, Rückbindung (an andere Leiderfahrungen und an Leidensgenossen) und ggf. auch transmissibles Abladen von Ohnmacht, Wut oder Unverständnis.

    Ich glaube, Du hast das Entscheidende einfach missverstanden. Der "billige Trost" ist der "Trostpreis", dass man glaubt, für den Verlust einen "Ersatz" zu bekommen, eine Art Kompensation für das Verlorene. Darum geht es aber in der kompletten Trostliteratur gar nicht, weder in der Philosophie noch in der Theologie. Natürlich auch nicht bei Boethius. Es geht um den Trost im Sinne einer "Ermutigung", vermittelt durch eine höhere Erkenntnis, letztlich durch die Gotteserkenntnis. Im 19. Jhd. entsteht die Frage nach dem Sinn des Lebens, der Gedanke, dass das Leben sinnlos sein könnte. In diesem Kontext kommt dann auch die entsprechende nach dem Sinn des Trostes. Diese Frage hat sich die Trostliteratur seit der Antike - sowohl die philosophische wie die christlich-theologische - schlicht und einfach nie gestellt. Das zeigt sich bei Rückert und insbesondere in Mahlers Vertonung, dass diese ganzen traditionellen, christlich-metaphysischen Troststrategien versagen. Das ist das Bestürzende der Kindertotenlieder. Ich dachte, ich hätte es deutlich genug gesagt, dass es letztlich um das Problem des Absurden geht, also die Absurdität in dem Versuch überhaupt zu sehen, einen Trost für die Verlusterfahrung des Todes zu suchen. Das ist neu. Und deshalb versagen auch all die traditionellen Troststrategien, weil sie sich diesem Problem der Absurdität des Trostes gar nicht erst stellen und gestellt haben.

    Heutzutage gilt dies ohnehin nicht, da Seelsorge situationssensibel verläuft. Über so etwas wie den Tod eines Kindes kann man nicht hinweg trösten. Hier geht es ums Gemeinsame Aushalten (das kann der Seelsorger leisten: Gemeinsamkeit, Resonanz und Anschluss herstellen), um praktische Hilfe, und in der Notfallseelsorge auch als Auffangbecken von Emotionen, die nur von dem gehalten werden können, der nicht betroffen ist.

    Die Frage ist aber, was dabei die geeignete Troststrategie sein kann, wenn man die Absurdität des Trostes grundsätzlich erkannt hat, dass jeder Trostversuch im Grunde ein Unmögliches ist, der Trost eines Untröstlichen ist. (S.o.!)


    Einen schönen Sonntag wünschend

    Holger

  • Ich habe das Werk jetzt mehrfach in der Version für Mezzo-Sopran und Klavier gehört und kann zumindest schon einmal dem Kollegen Symbol zustimmen


    Das ist natürlich tolle Musik, die von Thomas Pape hervorragend vorgestellt worden ist.


    Ich schließe mich hier an. Der Klaviersatz lässt einem die Konzentration auf den Zusammenhang zwischen der faszinierenden Harmonik und Rhythmik mit den (zum Teil) sehr einfach nachzuvollziehenden Bildern von Rückerts Lyrik. Die starke Betroffenheit des Lyrikers selbst lässt einen die dauernde Nähe zwischen dem Lyrischen Ich und dem Ich spüren. Eine weitere Reflexionsschicht wird beim Erleben übergangen. Das macht die Rezeption so erschütternd und die Bemerkungen Alma Mahlers leicht nachvollziehbar.


    Ich bin aber noch nicht für mich zu aussprechbaren Beschreibungen gekommen und muss auf Kommendes verweisen

  • Du hast für mich einen viel zu engen Begriff des Trostes. In der Antike gibt es eine ganze Trostliteratur. Der Klassiker ist Boethius´ ungemein einflussreiche Schrift De consolatione philosophiae ("Der Trost der Philosophie"). Boethius war zum Tode verurteilt und schreibt diese Trostschrift. Da ist der Trost all das - Kontingenzbewältigung, Verarbeitung.

    Lieber Holger, freilich habe ich meinen Boethius gelesen (und sogar übersetzen müssen). Ich gehe schlicht und ergreifend von einem anderen Trost-Begriff aus. Hier unterscheidet sich manche Bedeutungsgenese eben schon von der Philosophie, wenn das Christentum sich seiner Wurzeln im Judentum erinnert. Und dieser jüdisch-christliche Trostbegriff ist vor allem empirisch geprägt und funktioniert über die Anteilnahme Gottes am Schicksal des Volkes, selten auch des Individuums. Paulus spricht später daran anknüpfend vom "Gott des Trostes" (2. Kor 1), der die Fähigkeit verleiht Anfechtung zu ertragen und zu durch-leiden. Und dieser paulinische Trost-Begriff, der noch keinen Boethius kennt, hat eine eigene Wirkungsgeschichte. Kennst du zufällig das benediktinische Werk "Consolatio de morte amici" des Laurentius von Durham? Der bezieht sich ganz konkret auf Boethius und christianisiert ihn gewissermaßen in die mittelalterliche Theologie hinein.

    Diese gipfelt bei Luther (freilich stark ausdiffernziert) in der Kritik der "billigen Gnade". Daran anknüpfend geht es für mich im Christentum nicht lediglich um Trost im paulinischen Sinne.


    Du brauchst mir durchaus nicht zu unterstellen, ich hätte den theologischen Trostbegriff "missverstanden". Ich kenne meine Theologiegeschichte. Du hast in deinen interessanten Ausführungen philosophisch recht, übergehst aber einen Teil der christlich-jüdischen Begriffsgeschichte. Für mich überschätzt du ein wenig den Neuwert der Fragen des 19. Jhs., sind doch antiken jüdischen Weisheitsschriften Teile dieser Gedanken gar nicht so fremd. Der Skeptizismus im Kohelet kommt da schon nah dran ("alles ist eitel" --> das Leben muss nicht notwendig einen guten Sinn haben). Es gibt sogar eine nihilistische Scheol-Lehre, welche die Scheol als Ort der Abwesenheit des Göttlichen sieht. Somit als einen im wahrsten Sinne des Wortes "trostlosen" Ort. So radikal finde ich Rückert dann gar nicht mehr.


    Aber das führt uns kaum weiter. Interessant ist doch, ob der Trostlosigkeit der Kindstoderfahrung und des Textes ein Trost der Musik von Mahler entgegengesetzt wird. Im von mir referierten paulinischen Sinne des Wortes "Trost" ist das kaum der Fall und wäre zudem ein aussichtsloses Unterfangen. Es würde sofort als "billiger Trost" oder wie du es nennst "Trostpreis" demaskiert werden.

    Kann Mahler also Trost-Klänge finden, die im Sinne eines umfassenderen Begriffs zur Schicksals- bzw. Kontigenzbewältigung beitragen? Das zu beantworten finde ich nicht leicht. Aus dem ersten Impuls - imaginiert ich wäre betroffen wie das lyrische Ich - kann ich mir das kaum vorstellen. Aber etwas abstrakter, als Kunstrezipient, mit offenen Ohren und dem Lesen von interessanten Beiträgen zum Thema, sehe ich da durchaus Hinweise. Ich darf Helmut Hofmann zitieren:

    Was hat sich hier liedmusikalisch ereignet? Der klangliche Gegensatz, den man in der Aufeinanderfolge der beiden Melodiezeilen vernimmt, lässt sich vielleicht so erklären, dass für Mahler das lyrische Ich den Aufgang der Sonne aus der tiefen Betroffenheit durch „das Unglück“ erlebt und sich deshalb zunächst über eine fallende, in Moll harmonisierte melodische Linie ausdrückt, dann sich aber gegen das Überwältigt-Werden durch das Leid innerlich auflehnt und die Erfahrung des „hellen“ Morgenlichts als eine positive in sich hinein lässt. Die klangliche Aufhellung der in ihren Bewegungen aufwärts gerichteten zweiten Melodiezeile wäre dann eine Nachwirkung eben dieser morgendlichen Erfahrung, die sich über das An- und Aussprechen des „Unglücks“ legt. Eine solche Deutung liegt durchaus auf der Linie dessen, was sich in der Folge im Lied ereignet. Hier, bereits in den ersten beiden Melodiezeilen, wäre dann schon der Anfang des inneren Wandlungsprozesses zu vernehmen, den sich das lyrische Ich in diesem Lied auferlegt.

    Das Lied endet offen. In den beiden letzten Schritten bewegt sich die melodische Linie von einem tiefen „E“ um eine Sekunde aufwärts zu einem „F“ und verharrt dort in Gestalt einer Dehnung. Da dies in d-Moll-Harmonisierung geschieht, ist das ein Ende auf der Terz zum Grundton. Aber im kurzen, nur dreitaktigen Nachspiel, das von den Bläsern, den Celli und den Kontrabässen in Gestalt von lang gehaltenen Akkorden bestritten wird, wozu die Harfe ihr Auf und Ab von Einzeltönen beiträgt, blitzt doch ein Ausblick auf die Zukunft auf: Vier Mal erklingt ein heller einsamer Glockenton. Der letzte in großer Stille, - denn das Orchester schweigt.

    Musikalisierungen von Hoffnungsfetzen, erlernten Trostsymbolen, Einsamkeit, Unsagbarkeit und auch dem Beginn der Verarbeitung - das alles kann Mahler anbieten um gleichsam die Trostlosigkeit tröstend zu vertonen. Das absolut erschütternde aber ist - dass es hier keinen echten Trost gibt. Aber die Unmöglichkeit des Trosts - dafür findet Mahler durchaus Klänge.

    Beste Grüße von Tristan2511


    "Glaubt er, dass ich an seine elende Geige denke, wenn der Geist zu mir spricht?"

    (Beethoven zu Schuppanzigh)

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