Bruckners Neunte mit ...? – oder ohne? – oder wie?

  • Hallo Alfred,


    haben sie nicht? Szells Schumann gilt -auch hier im Forum- bei vielen als "Referenz".


    Sicherlich, es gibt noch viele Beispiele: Stokowkys Bach zum Beispiel, aber wer was gemacht hat, spielt für mich eine untergeordnete Rolle.


    Für mich stellt sich für den Moment die Frage: Ist das, was bei Schumann, Beethoven, Mendelssohn recht war (oder auch nicht?) bei Bruckners Finale zur 9. Sinfonie nicht billig?

    Grüße aus der Nähe von Hamburg


    Norbert


    Das Beste in der Musik steht nicht in den Noten.

    Gustav Mahler


  • Zitat

    Original von Alfred_Schmidt
    Sollte sich jedoch eine Fassung mit einem "neukomponierten" Finale - von wem auch immer* - im Konzertbetrieb durchsetzen (was ich nicht glaube)


    Ups, ich sehe gerade, dass ich dich leicht missverstanden hatte. Wer lesen kann ist ja bekanntlich im Vorteil. :)
    Ich hatte deinen Satz so missverstanden, dass darunter auch Rekonstruktionen fallen, sorry.

  • Hei Norbert, ich sehe das eigentlich grundsätzlich so, solange es sich um Verfremdungen handelt. Natürlich ist jeder für sich selbst verantwortlich, und wenn jene großen Dirigenten meinten, ihrem Komponisten auf die Beine helfen zu müssen -- bitte. Man muß da vonn Fall zu Fall differenzieren. Aber Klemperers Mendelssohn-Bearbeitung (die es auch auf CD gibt) mit dem Moll-Schuß der Schottischen verleiht dem Stück einen so völlig anderen Sinn, daß ich das persönlich unangebracht finde. Ähnlich sehe ich das bei Rimsky-Korsakovs Bearbeitung der "Nacht auf dem Kahlen Berge"; da finde ich Mussorgskijs Original so gut, daß mir Rimsky dagegen einfach überflüssig vorkommt. Man muß auch unterscheiden zwischen Instrumentations-Retuschen, die vielleicht auch lokalen Gegebenheiten geschuldet sind, und dem Versuch, ein Werk durch Kürzungen, Umstellungen oder ergänzende Teilkompositionen so zu verfremden, daß es eine neue, vom Komponisten vielleicht nicht beabsichtigte Aussage bekommt. Die Schumann-Retuschen von Szell oder die Beethoven-Retuschen Wagners haben halt auch viel damit zu tun, das seinerzeit kein großes Bewußtsein für historisch informierte Aufführungspraxis hatte. Die Balance-Probleme bei Schumann und Beethoven lösen sich bei einer entsprechenden Orchesteraufstellung, kleinerer Streicherbesetzung und alten, farbigen Instrumenten fast von selbst. im übrigen bleibt es dann halt "Szells Schumann-Sicht" und "Klemperers Mendelssohn-Sicht." Man soll es nur nicht zum Alleingültigen erheben, wie übrigens Klemperer selbst auch sehr deutlich gemacht hat.

  • Ich möchte doch davor warnen, Äpfel mit Birnen zu vergleichen. Die Instrumentationsretuschen bei Schumann oder Beethoven sind Nuancen und selbst von erfahrenen Hörern mitunter nur im direkten Vergleich oder mit der Partitur in der Hand zu hören. Sie machen jedenfalls wesentlich weniger Unterschied im Höreindruck als z.B. die üblichen Temposchwankungen.
    Ob Bruckners 9 ein Finale hat oder keines, und wenn eins, dann ob ein rekonstruiertes oder frei neukomponiertes betrifft dagegen ca. ein Drittel der Spieldauer der Werkes und dürfte für den Gesamteindruck noch wesentlich bedeutender sein als die verklempnerte Version des Mendelssohn (die ich aber nicht kenne).
    Ein etwa ähnlicher Fall liegt vielleicht mit Schuberts 8. vor. Hier wissen wir aber, dass Schubert das Werk, obwohl er es kaum in zwei Sätzen als "vollendet" angesehen haben dürfte, nicht zu Ende komponiert hat, weil er irgendwie nicht weiter kam (oder, falls das Entr'acte als Finale gedacht war, doch Zweifel hatte, ob es sich für diesen Zweck eignete).
    Dass Bruckner eine vollständige viersätzige Sinfonie schaffen wollte, scheint wohl niemand zu bezweifeln. Seltsam jedoch wie angesichts dieser klaren Sachlage die "normative Kraft des Faktischen", nämlich die verbreiteten dreisätzigen Aufführungen, zu einer Hochstilisierung führt, das Werk sei in drei Sätzen "metaphysisch" abgeschlossen :rolleyes:
    Ich muß gestehen, dass ich die bei Naxos erschienene Version mit dem komplettierten Finale zwar besitze, aber höchstens zweimal gehört habe, daher nix dazu sagen kann. (Als Nicht-Brucknerianer, für den das Finale der 8. schon eine arge Geduldsprobe ist, vielleicht verzeihlich ;))
    Einfach, um die Macht der Gewohnheit zu brechen, bin ich daher aber auch dafür dem Publikum häufiger (gerne auch verschiedene) vervollständigte 9. Sinfonien zu präsentieren.


    :hello:


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

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  • Hallo JR,


    natürlich gibt es gewaltige Unterschiede zwischen den Retuschen George Szells und den verschiedenen Versuchen, das Finale von Bruckners 9. zu vervollständigen.


    Bloß wo ist die Grenze des "Erlaubten" noch eingehalten und wo gerade nicht mehr? Mir ging es in der Frage an Ben darum, ob er für ein "Wehret den Anfängen" steht oder seine Kernaussage "den eigenen Geschmack über den Bruckners zu stellen" speziell für Bruckner auf Grund der speziellen Entshehungsgeschichte gilt.


    Diese Frage wurde für mich hinreichend beantwortet. Danke dafür, Ben.


    Allerdings, JR, ist die Grenze zwischen "statthaft" bzw. "zulässig" oder nicht bei den Finalrekonstruktionen des Bruckner Fianles für mich (noch?) nicht eindeutig geklärt.


    Samale, Philips, Cohrs und Mazucca sagen: "es ist so viel Material von Bruckner überliefert worden, daß der Rest in seinem Sinne rekonstruiert werden kann", Marthé verneint dies (andere vervollständigte Finalversionen kenne ich nicht).


    Aber leider ist es so, daß Bruckners Intention nicht genau rekonstruiert werden konnte (Ben spricht im Beiheft zu Wildners Aufnahme deswegen u.a. von "Dass Bruckners eigene Version finaler Herrlichkeit mit ihm starb, ist unbestreitbar..." oder von "Eine derartige, mit Liebe und Sorgfalt erarbeitete Notlösung mag man aber vielleicht eher in Kauf nehmen, als das kühne Finale gänzlich verloren zu geben..."), also beide Seiten aus ihrer Sicht im Sinne Bruckners handeln mußten bzw. wollten.


    Ich persönlich liebe die dreisätzige Version von Bruckners 9. wie kaum ein anderes Werk. Nach den Klangmassen, die in den Sätzen aufgetürmt werden und nach den "Kämpfen, die im Adagio ausgefochten" werden, endet der Satz im Frieden.


    Frieden und tiefe Berührtheit sind dann auch meine Empfindungen nach dem Ende der Sinfonie. Unter diesem Gesichtspunkt kann die Sinfonie ruhig nach drei Sätzen zuende sein. Allerdings muß ich anerkennen, daß Bruckner bis zum Tod bemüht war, die Sinfonie nicht im Frieden enden lassen zu wollen...


    Wie ich der Anerkenntnis begegnen soll, habe ich für mich noch nicht schlußendlich entschieden. Aber die Diskussion hier ist auch (hoffentlich ;) ) noch nicht beendet...

    Grüße aus der Nähe von Hamburg


    Norbert


    Das Beste in der Musik steht nicht in den Noten.

    Gustav Mahler


  • Wobei mich eigentlich nicht einmal so sehr die Frage beschäftigt, ob man kann/darf/soll. Für mich geht es einzig und allein um diesen Punkt: Verliere ich etwas, wenn ich dieses Finale nicht spiele?


    Für mich beantortet sich das mit einem klaren: Ja. Ich verliere unglaubliche Musik, Passagen von einer Schönheit und emotionalen Tiefe, die mir es für mich verpflichtend erscheinen lassen, das Finale aufzuführen - auch auf die Gefahr hin, daß die Coda Spekulation bleiben muß.


    Nächster Punkt: Warum dann nicht die Fragmente als Fragmente aneinanderstellen? - Nun: Weil sie dann eben keinen musikalischen Zusammenhang haben. Wenn man sich die Partitur aber genau anschaut und mit dem vergleicht, was das Cohrs-Team daraus gemacht hat, erkennt man, wie wenig wirklich neu hinzugefügt werden mußte; das meiste können kluge Köpfe tatsächlich aus dem Manuskript und Analogien ableiten. In diesem Punkt habe ich nach genauerem Studium der Noten grundlegend umgedacht.


    Daher komme ich zum Schluß: Um einen großen Haufen geniale Musik zu retten und in sinnvollem Zusammenhang hörbar zu machen, ist es notwendig, eine Rekonstruktion dieses Finales zu erstellen. Die wissenschaftliche Akribie und untadelige Korrektheit des Cohrs-Teams hat eine Fassung erstellt, die sich von Bruckners Noten nicht entfernt, sondern höchstens ergänzend eingreift, wo es nicht anders geht. Ergebnis: Ein herrliches Stück, dessen Autor zweifellos niemand anderer ist als eben Bruckner.


    :hello:

    ...

  • Ich habe schon einmal in einem anderen Thread erwähnt, dass die Lösung, die mir vorschwebt derart aussieht, dass die Neunte als Multimediapaket auf den Kunden losgelassen wird. Klingt erstmal schlimm, ist es aber nicht ;)


    Ich stelle mir das so vor, dass hier wirklich in ein Projekt viel Enthusiasmus, musikalisches Feingefühl und auch Geld gesteckt wird. Herauskommen soll eine Aufnahme des Torsos . Hinsichtlich des Finalsatzes stelle ich mir dann eine Art Symbiose zwischen dem Fragment und der Vervollständigung vor, dies multimedial aufbereitet mit entsprechenden Erklärungen und Erläuterungen, die im besten Fall auch für den Laien nachvollziehbar sind.


    Die Ergänzungen sollten grafisch ein- und ausblendbar sowie erläutert sein. Im besten Fall durch den "Ergänzer" oder aber den Dirigenten (was nicht ausschließt, dass es sich dabei um ein und dieselbe Person handelt). Der Hörer kann dann selbst entscheiden, ob er die Sinfonie mit dem Fragment beginnt, oder schließt oder aber die Neunte in der rekonstruierten Fassung des Finalsatzes ausklingen lässt. Zudem würde bei dieser Variante auch ein wissenschaftlicher Blick möglich werden, der einen Blick direkt in das Fragment und auf die Vorgehensweise bzw. die Ansatzpunkte der Rekonstruktion ermöglicht.


    Dies wäre zwar nur eine Variante für die Konserve, aber eine, für die ich bereit wäre, auch den einen oder anderen Euro rüberwachsen zu lassen ;)


    Leider scheint mir ein solches Produkt ferner als die erste Marsreise der Menschheit.


    :boese2:

    29.08.1958 - 25.06.2009
    gone too soon

  • Zitat

    Original von Edwin Baumgartner
    Für mich manifestiert sich in Bruckners Wunsch, das Te Deum als Finale aufzuführen, etwas Anderes: Er wollte die Symphonie auf keinen Fall mit dem Adagio enden lassen.
    ...eher sollte dann die Paraphrase vorangestellt werden, quasi als erster Teil des Konzerts.


    Entschuldige Edwin, aber schließt das eine nicht das andere aus? :untertauch:
    Wenn die Paraphrase vorangestellt wird, steht doch der ursprüngliche dritte Satz schon wieder am Ende...


    Ansonsten plädiere ich für die Multimediabox von Masetto. Ich möchte sowohl die dreisätzige Bruckner-Version als auch die rekonstruierte Fassung, wobei mir bei einem solchen Wort schon immer ein wenig übel wird. REkonstruiert kann man einen aus Fragmenten zusammengesetzten Satz doch nicht nennen, oder? ?(


    Für das Te Deum spricht immerhin Bruckners eigener Wille, der ja nunmal keinen vierten Satz hinterlassen hat - diese Fassung ist also die vom Komponisten freigegebene! Und ehrlich gesagt sind mir da Tonart-Probleme egal - was Bruckner wahrscheinlich geschrieben hätte, halte ich doch für höchst spekulativ. Oder hat Bruckner das jemandem in den Griffel diktiert? :rolleyes:


    :hello:Jürgen

    Ich brauche keine Millionen, mir fehlt kein Pfennig zum Glück...

  • Hallo Jürgen,
    ja, es ist ein Widerspruch. Ich glaube nur, daß es am schlimmsten wäre, die Symphonie mit einem Finale zu beenden, das eine Paraphrase ist. Eine solche ist ein eigenständiges Werk und soll meiner Meinung nach auch als solches gespielt werden. Eine Paraphrase als Finale auszugeben, hat schon einmal berechtigterweise nicht funktioniert, und man sollte in dieser Richtung besser nichts mehr unternehmen. Dann schon lieber das Adagio als letzten Satz. Wenn auch zähneknirschend...
    :hello:

    ...

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  • Zitat

    Soll die Neunte weiterhin – entgegen Bruckners bekundeter Absicht – als dreisätziger Torso aufgeführt werden?


    Das ist die grundsätzliche Frage. Nachdem ich in den 80ern erstmals die Fragmente (nach damaliger Verfügbarkeit und ohne Ergänzungen) gehört hatte, war ich tief beeindruckt. Fortan war für mich völlig klar, daß diese Sinfonie eben kein Torso ist: es gab die Gestalt von diesem Finalsatz und also der viersätzigen Sinfonie bei Bruckner, und man konnte die Idee davon hörbar machen. Über diesen formalen Aspekt hinaus kam und kommt mir das Material dieses Finalsatzes sozusagen im Wortsinn unerhört vor - es erweitert die Dimension und Bedeutung der Sinfonie entscheidend und schließt sie gleichzeitig erst wirklich ab. Also ein klares Nein - es ist sehr zu hoffen und zu wünschen, daß sich - sobald die Arbeit daran vollendet ist - die Neunte in ihrer viersätzigen Gestalt im Konzertsaal durchsetzt.


    Zitat

    Soll sie – wie Bruckner bekundet wünschte – mit dem Te Deum als "Notfinale" zum Abschluß gebracht werden?


    Ein genauso klares NEIN. Nach meinem Eindruck wird das Te Deum in seiner - allerdings beeindruckenden - Eindimensionalität der Komplexheit der Sinfonie als Abschluß nicht gerecht.


    Zitat

    Soll sie mit einer vervollständigten Aufführungsfassung des Finale-Fragments beendet werden?


    Ja - siehe oben.


    Zitat

    In welchem Rahmen sollten Werke zeitgenössischer Komponisten, die sich in Eigen-Kompositionen mit dem Material zum Finale (oder der Neunten als Ganzes) auseinandersetzen, zu Gehör gebracht werden?


    Wenn sich die viersätzige Neunte durchgesetzt haben sollte, könnte ich mir vorstellen, daß solche Kompositionen im Rahmen z. B. von Bruckner-Zyklen einen Platz hätten. Zusätzlich zu einer Aufführung der Neunten wären sie m. E. weder wünschenswert noch notwendig. Bruckner-Kommentierungen in dieser Form empfände ich als störend.


    Zitat

    Sollte man Bruckners eigenes Material zum Finale bedenkenlos über Bord werfen und stattdessen ein völlig neues Finale aus zweiter Hand komponieren?


    Suggestiv-Frage ;) - Suggestiv-Antwort: absurde Vorstellung ?(


    Zitat

    Wie beurteilt Ihr die Möglichkeit einer aufführbaren Darstellung des Fragmentes ohne Auskomposition der Lücken?


    Käme m. E. ebenfalls im Rahmen von Bruckner-Zyklen in Betracht. Aber nicht mehr als 'Anhängsel' an eine Aufführung der drei ersten Sätze, sobald die Auskomposition 'vollendet' ist.


    Zitat

    Sollte es Bearbeitungen des Finales für Klavier, zwei Klavier oder Orgel geben? (Hierbei entfiele immerhin der Aspekt der Ergänzung fehlender Instrumentierungsarbeiten Bruckners)


    Kann es von mir aus geben - aber für erforderlich erachte ich sie nicht. Bruckner hat eben keine Orgelsinfonien geschrieben. So imposant die Rogg-Einspielung der Achten auch sein mag - zwangsläufig stellt eine Orgelfassung immer eine Einschränkung des sinfonischen Duktus dar, auch und gerade bei Bruckner.


    Vielen Dank, Ben, für die interessanten Fragestellungen. Der Thread unterstreicht die immer noch größere Bedeutung Bruckners, hier und heute.


    Viele Grüße


    helmutandres

  • Lieber Ben!
    Habe mich endlich durch alle (offenen und geschlossenen) threads in diesem Forum durchgeackert zu diesem Thema. Meine Frage: Gibt es (nach der Aufnahme mit Wildner) nun endlich eine neuere Aufnahme mit "Eurer" Version?
    Habe schon oben geschrieben, daß ich den 4.Satz in der Inbal Aufnahme wunderschön finde, aber anscheinend hat sich in den darauffolgenden Jahren noch sehr viel an neuen Erkenntnissen ergeben.


    Gibt es neuere Aufführungen "Eurer" Version? CDs? Ich konnte davon zuletzt nichts lesen....
    Hast Du schon einmal Orchester wie das Gustav Mahler Jugendorchester (ganz fantastisch) für diese Aufgabe zu begeistern versucht?
    LG

  • Hallo Jürgen!
    Doch, man kann von einer Rekonstruktion sprechen -- es ist ein leider imemr noch weti verbreitetes Mißverständnis, daß die Manuskripte vom Finale disjectae membrae wären, also unzusammenhängende Fragmente.
    In der Tat kann man nur "rekontruieren", nämlich im Nachhinein wieder zusammensetzen (soweit als möglich), was ursprünglich schon einmal vorlag, dann aber posthum fragmentiert wurde. Genau das ist nach allem, was wir heute wissen, aber beim Finale der Fall -- auch wenn Bruckner mit der Instrumentation nicht fertig wurde, war die Komposition des Satzes selbst bereits zu Ende geführt (nämlich die Autographpartitur "in statu nascendi" mit teilweise fertiger Instrumentierung, teilweise nur die Streicher).
    Mozarts Requiem könnte man im Gegensatz dazu nicht "rekonstruieren", denn die Komposition war eben noch nicht beendet, als Mozart starb...


    Lieber Masetto: Du rennst bei mir offene Türen ein! Wenn sich doch einfach mal ein potenter Sponsor finden würde, würde ich das SOFORT umsetzen ...

  • Hallo Ben,
    ich glaube, das Problem, das viele mit dem Finale haben, besteht darin, daß es als fragmentarisch gilt in dem Sinn, daß die Kompositionsarbeit nicht fertig ist.
    Nun glaube ich aber zu wissen, daß die Kompositionsarbeit fertig ist, nur die Reinschrift mit der genauen Instrumentierung liegt nicht vor, und an einigen Stellen ist die Harmonie bezeichnet, nicht aber die Zuteilung an die Stimmen (aber es kann sein, daß ich da auch nicht auf dem neuesten Stand bin).


    Nach Bruckners Tod wurde das Finale auseinandergerissen und an Sammler verteilt, weshalb es einige Löcher gab/gibt, die mittlerweile dank wiederaufgefundener Manuskriptseiten gestopft wurden. Nur die Coda fehlt tatsächlich.


    Es handelt sich also tatsächlich um eine Rekonstruktion, nicht um ein Auffüllen von Kratern, wie ein gewisser unberufener Stimmenhörer behauptet. Und das, nämlich, daß es tatsächlich Musik von Bruckner ist, müßte tiefer ins allgemeine Bewußtsein eindringen.


    :hello:

    ...

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  • Hallo Edwin,


    das liest sich bei Ben ein wenig anders:


    Zitat

    Original von ben cohrs


    -Bruckners Neunte ist Fragment und wird es auch immer bleiben. Bruckners eigene Vision vom Finale starb mit ihm. Daran wird keine Art der Präsentation - für welche man auch immer sich entscheidet - jemals irgend etwas ändern.
    -Die Entscheidung, in welcher Form Bruckners Neunte aufgeführt werden soll, obliegt zunächst dem Dirigenten, und die Entscheidung, in welcher Form er Bruckners Neunte erleben will, liegt einzig beim jeweiligen Hörer.
    :jubel:


    :


    Jetzt einmal unterstellt, der Meister hätte tatsächlich den Finalsatz soweit vollendet, daß sich eine aufführbare Fassung erstellen ließe, dabei weiterhin unterstellt, daß Ben und die anderen Wissenschaftler das verstreute Material des Autographen zusammentrügen und krimminal-philologisch vervollständigten: so ständen immer noch des Meisters uns bekannte Skrupel seinem eigenen Schaffen gegenüber im Raume. Wären die bekannten drei Sätze in dieser Form veröffentlicht und nicht überarbeitet worden? Ist nicht vieleicht sogar die fertiggestellte Form von Satz drei der Einsicht des Meisters geschuldet, sein Werk nicht vollenden zu können?


    Die Vorstellung, es gäbe Bruckner nach Bruckner gefällt mir zwar ausnehemend gut, aber augenzwinkernd ergäbe sich für eine Aufführungspraxis der Neunten folgende Empfehlung: Man spielt die Sätze 1-3, sodann herrscht drei Tage Ruhe. Am dritten Tage aber mag man Satz vier spielen. Und diese Verkündigung darf dann auch von PJM kommen. Gerne auch von Ben. Oder auch von NH. Also drei synoptische und PJM. Was sich doch für schöne Beziehungen herstellen lassen.


    Aber Du siehst, worauf ich eigentlich hinaus will: der Finalsatz ist eine Diskussion hinter einem geschlossenen Werk. Auch wenn es nur drei Sätze hat. Auch wenn sein Schöpfer ihm eigentlich vier Sätze mitgeben wollte.


    Ich wiederhole mich: mit ihren drei Sätzen ist die Sinfonie vollkommen.


    Liebe Grüße vom Thomas :hello:

    Früher ist gottseidank lange vorbei. (TP)
    Wenn ihr werden wollt wie eure Väter waren werdet ihr so wie eure Väter niemals waren.

  • Ich glaube das Problem mit der Rekonstrukton ist weniger, daß zuviel Material verlorenging, als vielmehr die Frage ob Bruckner - hätte er Gelegenheit gehabt - den Satz wirklich aus dem vorhandenen bisher komponierten Material gestaltet hätte..


    DAS wird in etwas das sein was Ben gemeint hat, als er


    Zitat

    Bruckners Neunte ist Fragment und wird es auch immer bleiben. Bruckners eigene Vision vom Finale starb mit ihm.


    schreib.


    Indes ist dieser Einwand marginal, wenn man bedenkt, daß Bruckner den IMO wesentlich grösseren Kompromiss - die Neunte durch das Te Deum zu "komplettieren" nicht nur akzeptiert - sonden sogar vorgeschlagen hat.



    Ich orte eine weiteres Problem - lasse mich aber gerne eines Besseren belehren, sollte ich unrecht haben:


    In diesen 4. Satz wurden IMO UNREALISTISCHE ERWARTUNGEN hineininterpretiert, Erwartungen die er mit Ziemlicher Sicherheit nicht erfüllen kann - und die er wahrscheinlich auch nicht erfüllt hätt - hätte Bruckner den Satz fertiggestellt.


    Da scheint mir das Hauptproblem zu liegen: Die erwartete Genialität - oder besser gesagt "Über-Genialität" offenbart sich offenbar nicht.
    Das hat man stets den mit der Rekonstruktion befassten Wissenschaftern in die Schuhe zu schieben versucht. Was aber - wenn hier Bruckner gar keinen "Genialen" Satz geschrieben hat ???


    Von dieser Überlegung ausgehend entstand dann wahrscheinlich Mathes angeflickter Satz, der an sich sicher nicht schlecht ist - aber naturgemäss auch kein "genialer Bruckner" sein kann - auch wenn dies per PR so suggeriert wurde. Genialität lässt sich nicht planen und nicht erzwingen.


    Leider muß gesagt werden, daß das Publikum eine gewisse Vorliebe für unvollendete Werke hat ("hier riss der Tod dem Meister die Feder aus den Händen"...) und Legenden gegenüber der Wahrheit bevorzugt.
    Somit wird es ein wenig schwierig sein das rekonstruierte Finale durchzusetzen.


    Der Aufführung wegen: In früheren Zeiten hat es sich bewährt ein Werk einem Künstller zu widmen. Ein (beispielsweise) den Wiener Philharmonikern gewidmeter rekonstruierter Finalsatz könnt möglicherweise vom Widmungstäger aufgeführt werden - und so der rekontruierten Fassung zum Durchbruch verhelfen....


    mfg
    aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Zitat

    Original von Alfred_Schmidt
    Der Aufführung wegen: In früheren Zeiten hat es sich bewährt ein Werk einem Künstller zu widmen. Ein (beispielsweise) den Wiener Philharmonikern gewidmeter rekonstruierter Finalsatz könnt möglicherweise vom Widmungstäger aufgeführt werden - und so der rekontruierten Fassung zum Durchbruch verhelfen....


    Hmmm, das hängt aber stark damit zusammen, wer die Rekonstruktion vornimmt bzw. propagiert. Bisher muss ja eher um jede Einspielung der Rekonstruktion gerungen werden. Ich glaube kaum, dass eine Widmung das beheben könnte. Und um diese oder eine andere Finallösung sogar zu etablieren, müsste sich schon ein wirklich starkes Zugpferd finden (ein Karajan oder so ;) ).



    Gruß,
    Spradow.

  • Hallo Alfred,
    Du hast prinzipiell recht - nur nicht einem Punkt: Dieses Finale ist genial, aber auf eine andere Weise als erwartet.
    Erwartet wird ein absolut überwältigendes Klangerlebnis, der Himmel in Tönen, die totale Ekstase. Und so hat's der PJM mit seinen unzulänglichen Mitteln auch zu komponieren versucht.


    In Wahrheit besteht die Genialität dieses Finales aber in der Zurücknahme, in der Kargheit, im Offenlegen von Brüchen. Es macht mitunter den Eindruck, als würde sich eine Erschöpfung gerade noch in den Glauben (Choralthema) retten. Wir haben es nicht mit einer Über-Musik zu tun, sondern mit einem herben, oft bitteren Abschied, von dem ich gerne wüßte, was Bruckner wirklich für die Coda geplant hat.


    :hello:

    ...

  • Meine Bemerkung, Bruckners eigene Vision vom Finale sei mit ihm gestorben, bezieht sich nicht auf die Komposition des Satzes an sich. Da Bruckner ja wußte, daß er ein Rennen gegen den Tod fuhr, hat er nämlich noch während der Kompositionsarbeit am Finale (übrigens auch der ersten drei Sätze!) tiefgreifende Umkonzeptionen vorgenommen, die es für unwahrscheinlich halten lassen, daß es noch weitere "Revisionen" gegeben hätte. Das "Hätte, Könnte, Würde" hinsichtlich der Fassungen und Umarbeitungen interessiert mich übrigens auch gar nicht -- man darf nicht vergessen, daß es ja gar nicht von allen Bruckner-Sinfonien Umarbeitungen gibt ... Dies sollte man nicht gegen die Neunte ins Feld führen.


    Meine Bemerkung bezieht sich zum einen auf die unbestritten nicht mehr fertig gewordene Instrumentierung bzw. Detail-Gestaltung der Bläser, zum anderen jedoch vor allem auf den posthumen Verlust des Materials. Wenn die Schalks und Meißner alle numerierten Partiturbögen zusammengehalten hätten, hätten wir heute eine Sequenz von wenigstens 36 letztgültigen Bogen der Partitur im Endstadium!!! Die einstige Existenz dieser 36 Bogen ist dokumentarisch NACHGEWIESEN.


    Es gibt nur eine einzige konzeptuelle Änderung Brucknrrs aus allerletzter Zeit -- die Erweiterung des Durchführungsbeginns vom 11. August 1896 um 16 Takte, zweifellos aus Gründen der inneren Balance des Satzganzen, das Bruckner spätestens seit Mai 1896 (Skizzierung und Ausarbeitung der Coda) vor Augen hatte. Diese Erweiterung ändert das Gesamtbild des Satzes jedoch nicht mehr wesentlich -- wie auch die Arbeitsprozesse am ersten Satz zeigen: Dort hat er ebenfalls sehr spät noch den Durchführungsbeginn erweitert, was eher als "Nachgedanke" zu verstehen ist.


    Und, lieber Alfred, auch Du hast leider offenbar mißverstanden, wie Bruckner eigentlich komponierte: Er brachte aus Prinzip nicht erst eine Anzahl von "Werkstücken" auf, die er dann zusammensetzte (so könnte man jedenfalls Deinen Satz mißverstehen, und dieser Irrtum durchzieht nahezu die gesamte Debatte um den Satz). Er hatte im Gegenteil recht früh eine Vorstellung vom Ganzen, arbeitete sich systematisch durch und fügte dabei einen Baustein auf den anderen -- wie beim Bauen mit Lego.


    Ich habe an anderer Stelle diese Prozesse ausführlich beschrieben, aber hier noch einmal eine Zusammenfassung, hier bezogen insbesondere auf die Ecksätze der Sinfonien (bei Scherzo und Adagio ging er grundsätzlich ähnlich vor).


    1.) Vorskizzierung aller möglichen Themenstellungen für alle Sätze der Sinfonie (sind beispielsweise für die gesamte Neunte in dem Material enthalten, was heute überwiegend in Krakau liegt), darunter etliche auch später nicht verwendete Motive.


    2.) Private Vorskizzierung der drei Themengruppen (oft in einer furchtbaren, privaten Sauklaue, mit Bleistift), dabei oft auch etliche Überlegungen zu Stimmführungen und Harmonik.


    3.) Niederschrift eines ersten, vollständigen Particells der Exposition. (Bei Scherzo- und Triosätzen in der Regel den Verlauf des gesamten A- und B-Teils bis zum Beginn des A-da capos, wie beispielsweise die Entwürfe zu Scherzo und Trio der Neunten zeigen)


    4.) Primäre Übertragung dieses Particells in die Partitur, undzwar insbesondere Ausarbeitung des Streichersatzes. Niederschrift der Partitur von Anfang an auf fortlaufend durchnumerierten Bogen.


    5.) Fortsetzung der Komposition der Durchführung und der Reprise durch weitere Entwürfe und Skizzen, aber nicht zwingend durchgängig. Dies liegt daran, daß Bruckner oft Teile seiner Themen in Varianten-Blöcken durchführte, die wie Orgelimprovisationen wirken und im Einzelnen sehr übersichtlich sind. Manchmal setzte er die Durchführung schon in der Primär-Partiturstufe fort. Durchgängige Skizzierungen längerer Partien betreffen eher die Reprise (aufgrund der Abweichungen von der Exposition).


    6.) Ausarbeitung der gesamten Exposition, oft durch Ausschluß und Ersetzen etlicher Partiturbogen, sodann Ausarbeitung der Primärstufe der Partitur von Durchführung und Reprise bis zur Coda.


    7.) Endgültige Instrumentierung der Bläser in der gesamten Exposition etwa dann, wenn er sich über die Struktur der Reprise ganz sicher war.


    8.) Skizzen zur Coda dann, wenn die Primärphase der Partitur bis ans Ende der Reprise gelangt ist, sodann Ausarbeitung der Primärphase der Partitur bis zum Ende des Satzes.


    9.) Sukzessive Fertigstellung der Instrumentierung von Durchführung, Reprise und Coda, dabei fallweise weiteres Aussondern und Ersetzen von Partiturbogen auch bei nur kleinen Änderungen.


    10.) Endgültiges "Nuancieren" mit Durchführung von allen spieltechnischen Angaben, Artikulationen, Phrasierung und Tempi.


    Diese Arbeitsweise ist, wie aus den Quellenforschungen der Bruckner-Gesamtausgabe erkenntlich, in allen Werken Bruckners konsistent.


    Bevor man daher über die Kompositionsprozesse im Finale urteilt und weitschweifige Vermutungen darüber anstellt, was Bruckner eventuell doch noch umgearbeitet hätte und was nicht, ist es daher unausweichlich, das ganze Material überhaupt erstmal zu analysieren, so, wie es überliefert ist. Bevor man weiter öffentlich spekuliert, wäre es daher fair, zumindest die entsprechenden Publikationen zu studieren. Das Prekäre an der Sache ist nur: Niemand scheint bereit, sich auf der sachlich-wissenschaftlichen Ebene überhaupt mit unseren Forschungsergebnissen auseinanderzusetzen (siehe dazu mein Beitrag in dem anderen Finale-Thread mit dem Zitat aus dem Buch Carl Sagans über wissenschaftliche Herangehensweise). Auch wenn man dazu fairerweise sagen muß, daß allein der Musik-Konzepte-Band und die von mir und Samale 2005 veröffentlichte Neuausgabe entsprechende Informationen enthalten, denn John Phillips hat den ausführlichen Studienband zum Finale für die Bruckner-Gesamtausgabe, der schon seit Jahren überfällig ist, leider immer noch nicht vorgelegt.

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  • Lieber Florian:
    Soweit ich weiß, enthält die von Dir gezeigte Camerata-Box Kurt Eichhorns Einspielung des Finales in der alten SPCM-Fassung von 1992.

  • Zitat

    Original von ben cohrs
    Das Prekäre an der Sache ist nur: Niemand scheint bereit, sich auf der sachlich-wissenschaftlichen Ebene überhaupt mit unseren Forschungsergebnissen auseinanderzusetzen (siehe dazu mein Beitrag in dem anderen Finale-Thread mit dem Zitat aus dem Buch Carl Sagans über wissenschaftliche Herangehensweise).


    Dazu müsste man wohl auch Musikwissenschaftler oder Musiker sein, lieber Ben. Auch wenn es vielleicht irgendwo schon erwähnt wurde: gibt es eine Einspielung des aktuellen Forschungsstandes auf CD (in diesem Falle auch völlig ungeachtet der interpretatorischen Qualität)?


    Liebe Grüße vom Thomas :hello:

    Früher ist gottseidank lange vorbei. (TP)
    Wenn ihr werden wollt wie eure Väter waren werdet ihr so wie eure Väter niemals waren.

  • Zitat

    Original von Edwin Baumgartner
    Hallo Alfred,
    Du hast prinzipiell recht - nur nicht einem Punkt: Dieses Finale ist genial, aber auf eine andere Weise als erwartet.
    Erwartet wird ein absolut überwältigendes Klangerlebnis, der Himmel in Tönen, die totale Ekstase. Und so hat's der PJM mit seinen unzulänglichen Mitteln auch zu komponieren versucht.


    In Wahrheit besteht die Genialität dieses Finales aber in der Zurücknahme, in der Kargheit, im Offenlegen von Brüchen. Es macht mitunter den Eindruck, als würde sich eine Erschöpfung gerade noch in den Glauben (Choralthema) retten. Wir haben es nicht mit einer Über-Musik zu tun, sondern mit einem herben, oft bitteren Abschied, von dem ich gerne wüßte, was Bruckner wirklich für die Coda geplant hat.


    :hello:


    Bruckners Musik ist m. E. frei von jeder Affirmation. Auch nicht das Te Deum hat affirmativen Charakter, weil es sich nicht selbst, sondern 'Gott anbetet'. Es wäre in meinen Augen ein absolutes Mißverständnis, die Finale Bruckners als 'Übermusik' anzulegen, mit der sozusagen das Bestehende und mit ihm die Musik sich selbst feiert und bestätigt.


    Allerdings legt Bruckners Musik - immer nur in meinem Empfinden - auch keine Brüche offen oder verleitete zu solchen Assoziationen (ganz im Gegensatz zu Mahler, dessen Musik solche Topoi spätestens seit und mit Adorno zugeschrieben werden). Vielmehr gibt seine Musik eine Ahnung davon, 'was nach den Brüchen kommt bzw. was über die Brüche hinaus ist'.


    Und in dieser Hinsicht empfinde ich eine starke Neugier auf das Finale der Neunten. Ohne das mangels Zugang wie Ben C. 'wissenschaftlich' nachvollziehen und begründen zu können, halte ich die Neunte für eine vom Komponisten selbst innerlich fertiggestellte, zu Ende 'gedachte' Sinfonie. Daß diese Sinfonie nach drei Sätzen zu Ende sein solle, hat mir schon immer 'Schmerzen' bereitet, als ich von der Existenz des umfangreichen Materials zum Finalsatz noch nicht die geringste Ahnung hatte.


    Viele Grüße

  • Zitat

    Original von ben cohrs
    Lieber Florian:
    Soweit ich weiß, enthält die von Dir gezeigte Camerata-Box Kurt Eichhorns Einspielung des Finales in der alten SPCM-Fassung von 1992.


    Ja, so steht's auch im Beiheft: "Aufführungsfassung Dezember 1992 SPM, unter Mithilfe von Gunnar Cohrs."

  • BREMEN, 11. 5. 2007: PRESSEMITTEILUNG



    DEUTSCHE ERSTAUFFÜHRUNG IN AACHEN:
    BRUCKNERS NEUNTE MIT NEUAUSGABE DER FINALE-KOMPLETTIERUNG


    Die revidierte Neu-Ausgabe der Aufführungsfassung des Finales zu Anton Bruckners Neunter Sinfonie von Nicola Samale, John Phillips, Benjamin-Gunnar Cohrs und Giuseppe Mazzuca (2005) ist nun erstmals in Deutschland zu hören: Die Aachener Philharmoniker spielen Bruckners Neunte mitsamt dieser Finale-Vervollständigung unter Leitung ihres Generalmusikdirektors Marcus R. Bosch im Rahmen ihrer jährlichen Pfingstkonzerte mit Bruckner-Sinfonien am 28. Mai 2007 um 11.00 Uhr in der Nikolauskirche, Aachen.


    Bruckner hinterließ das Finale zur Neunten weitgehend fertig komponiert, doch konnte er die Instrumentation nicht mehr abschließen. Durch Nachlässigkeit der Nachlaßverwalter wurde das Material posthum fragmentiert; Andenkenjäger stahlen Teile der Manuskripte, und die erhaltenen Bruchstücke liegen heute in verschiedenen Sammlungen und Bibliotheken in aller Welt. Quellenforschungen seit den Achtziger Jahren haben enthüllt, daß es entgegen früherer Annahme nicht unmöglich war, den Satz nach den erhaltenen Quellen zu rekonstruieren und für Aufführungszwecke zu komplettieren. Der italienische Komponist und Dirigent Nicola Samale initiierte dieses Projekt 1983, zunächst in Zusammenarbeit mit dem Komponisten Giuseppe Mazzuca, später mit dem Dirigenten und Musikforscher Benjamin-Gunnar Cohrs und dem Musikwissenschaftler und Komponisten John Phillips. Die Löcher im Netz ließen sich aus erhaltenen Skizzen und Vorarbeiten mit überraschend wenigen Fragezeichen schließen. Das fehlende Material wurde unter Verwendung von Bruckners eigenen Tonsatztechniken und dem Heranzug von Analogie-Vergleichen ›synthetisiert‹; das Verfahren ähnelt Techniken, wie sie auch in der forensischen Medizin, Paläontologie oder Paläo-Archäologie verwendet werden. Die Partitur wurde in verschiedenen Arbeitsphasen Schritt für Schritt optimiert. Sie reiht sich ein in einen Kanon erfolgreicher Aufführungsfassungen posthum vervollständigter Fragmente zwischen Mozarts Requiem und Mahlers Zehnter. Zwar bleiben uninformierte Kritiker skeptisch, doch das Publikum nahm die Möglichkeit, zumindest eine Annäherung an das, was Bruckner mit einer viersätzigen Neunten im Sinn gehabt hatte, hören zu können, in weiten Teilen begeistert auf: Man will im Konzert MUSIK hören, nicht Philologie. Diese Version wurde seit 1985 mehr als 40 Mal in aller Welt aufgeführt und mehrmals auf CD eingespielt.


    Die Partitur wurde dessen ungeachtet von Samale und Cohrs nochmals gründlich überarbeitet, um dem Satz eine noch stärkere einheitliche Wirkung zu verleihen. Nach erneuter Untersuchung der Manuskripte war es außerdem möglich, zwei bisher angenommene Lücken in der Gesangsperiode und der Fuge vollständig aus den Entwürfen zu schließen. Auch Instrumentation, Phrasierung, Artikulation, Dynamik und Tempi wurden nochmals tiefgreifend revidiert. Die 665 Takte umfassende Partitur enthält nun 569 Takte von Bruckner selbst. Die Herausgeber betrachten diese Version als definitiv – es sei denn, es käme noch bedeutendes Quellenmaterial von Bruckner selbst ans Licht. Im Jahr 2005 erschien die revidierte Neuausgabe mitsamt ausführlichen Kommentars in der weltweit renommierten Reihe ›Repertoire Explorer‹ der Musikproduktion Hoeflich, München (musikmph.de). Die Uraufführung bestritt das Thessaloniki State Symphony Orchestra unter Karolos Trikolidis am 27. 10. 2006 in Thessaloniki, Griechenland.



    ANTON BRUCKNER: IX. SINFONIE D-MOLL MIT FINALE (UNVOLLENDET)
    Komplettierte Aufführungsfassung Samale-Phillips-Cohrs-Mazzuca,
    Revidierte Neu-Ausgabe von Nicola Samale & Benjamin-Gunnar Cohrs (2005) — Deutsche Erstaufführung —


    Aachener Philharmoniker, Leitung: Marcus R. Bosch
    Montag, 28. Mai 2007, 11 Uhr, Nikolauskirche Aachen


    Tickets im Internet: theater-aachen.de
    Autorengemeinschaft Samale et al.: Postfach 10 75 07, D–28 075 Bremen


    HINWEIS: Benjamin-Gunnar Cohrs wird beim Konzert persönlich anwesend sein und steht für Fragen gern zur Verfügung. [Direktkontakt per E-Mail: bruckner9finale@web.de]

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  • Hallo Ben,


    Bosch hat bei Coviello ja bereits die Symphonien 3, 5, 7 und 8 eingespielt. Wird es also auch bald die 9. mit rekonstruiertem Finalsatz von ihm mit den Aachenern auf CD geben?


    Gruß
    Christian

  • Hallo,
    ich weiß, das Thema ist hier schon älter aber für mich ist es relativ neu. Vor Monaten hatte ich auf eBay eine Gesamtaufnahme der Bruckner Sinfonien mit dem Bruckner Orchester Linz ersteigert. Bis dahin hatte ich noch nie von einem rekonstruiertem Finale der 9. gehört. :untertauch: Ich war verblüfft, die 9. auf 2 CDs vorzufinden und dachte zunächst an einen Verpackungsfehler. Das Finale hörte ich dann mit großer Skepsis. Ich bin kein Freund von nachkomponierten Finales so z.B. empfinde ich das Alfano-Finale von Turandot als einen Fremdkörper. Ich war dann aber verblüfft und hocherfreut, hier ganz offensichtlich originalen Bruckner zu hören und zwar nicht als Stückwerk, wie man es vielleicht hätte erwarten können, sondern als Stück aus einem Guss. Ich habe dann natürlich das Beiheft gelesen später bin ich dann hier im Forum auf Ben’s tollen Bericht über die Geschichte des Finales gestoßen und natürlich auch darüber, dass es eine Alternativ-Version von Marthé gibt. Also, was lag näher als beide, die Naxos Aufnahme unter Wildner und Bruckner „Reloaded“ mit Marthé, zu bestellen und zu vergleichen?


    Gestern nun kamen die beiden CDs mit den rekonstruierten Finales der 9. Sinfonie von Bruckner. Ich möchte hier meine Meinung abgeben, die natürlich nicht musikwissenschaftlichen Erkenntnissen sondern lediglich meiner Hörerfahrung sowie meiner Liebe zur Musik entspringt.


    Zunächst einmal gefällt mir die neuere Aufnahme unter Wildner deutlich besser als die Version mit dem Bruckner Orchester Linz. Inwieweit das auf das verbesserte Finale zurückzuführen ist, habe ich im direkten Vergleich noch nicht analysiert. Anteil hat auf jeden Fall auch das m.E. schwache Bruckner Orchester Linz unter Kurt Eichhorn. Das fällt auf, wenn man auch die Sätze 1 – 3 mit einbezieht. Das Finale enthält tolle Musik, für mich unzweifelhaft Bruckner und ich bin sehr froh, diese hören zu können. Die Themen sind teilweise geradezu erschütternd.


    Dann hörte ich zum Vergleich die Version von Marthé. Um es ganz ehrlich zu sagen, diese nachkomponierte Version hält m.E. einem Vergleich mit dem rekonstruierten Finale in keiner Weise statt. Es fängt effekthascherisch, überhaupt nicht brucknerisch an und wartet mit etlichen Stilbrüchen auf - man hört immer, was Bruckner ist und was nicht - und dann kommt am Ende diese Coda, die auf mich einfach nachgeäfft konstruiert wirkt. Nein, das ist kein Bruckner.
    Soweit so gut. Richtig Ekel erregend wird die Geschichte aber für mich, wenn man das Begleitheft liest. Es wird suggeriert, z.T. durch das unsägliche Cover, durch Andeutungen und auch direkt „Ich brauchte also ... gar nichts anderes zu tun, als der Griffel in den Händen Bruckners zu sein“, als sei der Geist Bruckner in den Herrn Marthé gefahren. Ja Herr Marthè, wenn das so ist, dann komponieren Sie uns doch bittschön noch eine 10., 11. und 12. Wir sind nämlich süchtig nach Bruckner. Was für eine Anmaßung!
    Bruckners Skizzen zum Finale bezeichnet er als „Wüste toten Gebeins“ eines „bereits von geistig-psychisch-physischem Verfall gezeichneten, schwerstkranken Mannes“. Komischerweise sind einzigen schönen Stellen im Marthé-Appendix genau die, die auch in dem rekonstruiertem Finale vorkommen, also das „tote Gebein“. Dieses hat um Lichtjahre mehr Gehalt und Tiefe als es je ein Erguss des Herrn Marthé enthalten wird.


    Es ist meine feste Überzeugung, dass sich das rekonstruierte Finale über kurz oder lang im Spielbetrieb im Gegensatz zur dreisätzigen Wiedergabe durchsetzen wird. Unabhängig davon, dass Bruckner das Finale wohl noch reichlich umgebaut hätte, dass die Coda fehlt und das Ganze irgendwie etwas holzschnittartig wirkt (ich kann es nicht anders erklären - ich meine, es fehlt einfach der Feinschliff), ist diese Musik doch großartig und ganz Bruckner. Es wäre geradezu eine Ignoranz, sie nicht zum Klingen zu bringen. Ich denke, dass sich so nach und nach immer mehr Dirigenten an eine Interpretation wagen werden und mit zunehmendem Bekanntheitsgrad dieser Musik wird dann eine Aufführung ohne Finale als unvollständig erscheinen.


    Liebe Grüße aus Hamburg,
    calaf


    BTW. Das Te Deum als Finale halte ich persönlich für einen Fremdkörper. Ich habe eine (wunderschöne) Laserdisk von 1978 der 9. mit Karajan und dem WPO, wo das Te Deum zum Abschluss gespielt wird. Für mich ist das ein starker Bruch und ich kann auch keinen inneren Zusammenhang zwischen den Werken feststellen.

    Without deviation from the norm, progress is not possible.
    (Frank Zappa)

  • Hi , calaf!


    Zitat

    Gesamtaufnahme der Bruckner Sinfonien mit dem Bruckner Orchester Linz


    Besitze ich auch, war meine einstiegsbox zu bruckner und höre sie gerne.


    Zitat

    Ich war dann aber verblüfft und hocherfreut, hier ganz offensichtlich originalen Bruckner zu hören und zwar nicht als Stückwerk, wie man es vielleicht hätte erwarten können, sondern als Stück aus einem Guss.


    Diesen eindruck kann ich nur bestätigen.


    Zitat

    Dann hörte ich zum Vergleich die Version von Marthé. Um es ganz ehrlich zu sagen, diese nachkomponierte Version hält m.E. einem Vergleich mit dem rekonstruierten Finale in keiner Weise statt. Es fängt effekthascherisch, überhaupt nicht brucknerisch an und wartet mit etlichen Stilbrüchen auf - man hört immer, was Bruckner ist und was nicht - und dann kommt am Ende diese Coda, die auf mich einfach nachgeäfft konstruiert wirkt. Nein, das ist kein Bruckner.


    Das ist IMO nicht im geringsten bruckner. :kotz:


    Zitat

    „Ich brauchte also ... gar nichts anderes zu tun, als der Griffel in den Händen Bruckners zu sein“


    Das hätter er wohl gerne. Dieser möchtegernkomponist kann bruckner nicht im entferntesten das wasser reichen. Wie kommt er überhaupt auf die idee, bruckner hätte ihn auserwählt, sein finale der 9. fertig zu komponieren. :motz:
    Die Rekonstruktion ist die einzige brauchbare und vollständige Fassung der 9. und IMO wird sich mit sicherheit auch nichts anderes durchsetzen. :yes:


    Zitat

    Es ist meine feste Überzeugung, dass sich das rekonstruierte Finale über kurz oder lang im Spielbetrieb im Gegensatz zur dreisätzigen Wiedergabe durchsetzen wird.


    Meine worte :]


    Zitat


    Das Te Deum als Finale halte ich persönlich für einen Fremdkörper.
    Für mich ist das ein starker Bruch und ich kann auch keinen inneren Zusammenhang zwischen den Werken feststellen.


    Mir gehts genauso :O


    Obwohl auch das te deum wunderschön ist ;(


    LG florian


    :hello:

    Gustav Mahler: "Das Wichtigste in der Musik steht nicht in den Noten."

  • Liebe Forianer:


    Auch an dieser Stelle noch einmal der Hinweis, daß ich vom 20. bis 26. September 2007 in Wien bin.
    :pfeif:


    Für ein Taminoaner-Treffen stehe ich ebenso zur Verfügung wie zu Einzelverabredungen zum Kaffee. Wer möchte, kann diesbezüglich mit mir direkt Kontakt aufnehmen (bruckner9finale@web.de).
    :hello:


    Für ein TT bitte sich an Alfred zu wenden; er hat dazu im Forum NEBENTHEMEN - FEEDBACK - ANREGUNGEN - INTERNE THEMEN einen Thread eingestellt. der über Einzelheiten informiert. (Ort und Zeit werden noch bekannt gegeben.)
    :jubel:

  • Der Komplettierungsversuch des Finales durch Nors S. Josephson wurde völlig überraschend und ohne jede Vorankündigung letzte Woche in Ludwigshafen unter Ari Rasilainen aufgeführt. Interessehalber ein Auszug aus der einzigen aufgefundenen Rezension...
    :stumm:


    ***************************



    Werke des Abschieds
    Meisterkonzert in der Rheingoldhalle mit Bartók und Bruckner


    Die Meisterkonzerte in der Mainzer Rheingoldhalle stellten zwei Werke des Abschieds an den Beginn ihres Zyklus. Da der Tod die Komponisten eingeholt hat, blieben beide Werke unvollendet, aber nicht unvollkommen.


    […]


    In den letzten Jahren hat sich die Auseinandersetzung mit der neunten Sinfonie von Anton Bruckner auf den fehlenden Schlusssatz konzentriert. In seinem Todesjahr konnte Bruckner nur die ersten drei Sätze vollenden. Der Finalsatz liegt nur in fünf Skizzen vor. Rekonstruktion der ungeschriebenen Teile oder Dokumentation der Bruchstücke - das ist hier die Frage. Rasilainen stellte eine von Nors S. Josephson auskomponierte Rekonstruktion ans Ende. Diese Version fiel arg schmalbrüstig aus. Man vermisste Bruckners kühne Kontrapunktik und vor allem eine alles überwölbende Coda, womit Bruckner in seinen Sinfonien stets den triumphalen Schlusspunkt setzt.


    Umso überzeugender gelang der originale Bruckner in den vorangegangenen Sätzen. Rasilainen nutzte das Klangvolumen seines großen Ensembles zu Bläserwucht und Monumentalität. Klug disponierte er die Steigerungen bis zum Fortissimo-Höhepunkt. Das Scherzo gewann bei allem dämonischen Unterton eine Leichtigkeit und Unrast, die fast nach Mendelssohns Nachtmusiken klang. Das Adagio war getragen vom sakralen Bruckner-Ton - Wendungen aus der Sinfonie 7 und 8 klangen auf, auch der Miserere-Ruf aus seiner d-Moll-Messe. Packend baute Rasilainen diesen Klangraum aus flirrendem Streicher-Tremolo und mächtigen Tutti-Steigerungen. So gelang eine packende Spielzeit-Eröffnung.


    [Main-Rheiner Allgemeine Zeitung, 23.10.2007, Siegfried Kienzle]

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