Warum brauchen wir Grundkenntnisse in Genetik?
Daß ziemlich viele Sachen erblich sind, ist wohl unumstritten. Ebenso daß die konkrete Ausprägung der meisten genetischen Veranlagungen von der Umwelt abhängig ist. (Triviale Grenzfälle: Wer aufgrund seiner Gene taub geboren wird, wird wenig Spaß an Musik haben, wer in einer Umwelt/Kultur praktisch ohne Musik aufwächst, wird vermutlich kaum eine musikalische Begabung entwickeln).
Loge und sein Bruder haben "nur" 50% ihrer Gene gemeinsam. Sie haben überdies, auch wenn das zunächst seltsam scheint, nicht dieselbe Umwelt in ihrer Kindheit erlebt. (Leibliche Geschwister müßten sich viel ähnlicher sein als sie es sind, mit 50% gemeinsamen Genen, wenn man ihre frühe Umwelt als 90 oder 100% identisch behandeln würde). Anscheinend hängen die erheblichen Unterschiede in Neigungen, Vorlieben und Charaktereigenschaften erwachsener Geschwister von relativ subtilen Umweltunterschieden (Reihenfolge der Geschwister führt zu unterschiedlichem Verhalten der Eltern gegenüber den jeweiligen Kindern und der Kinder untereinander).
(Das Problem ist natürlich, daß man mit statistischen Theorien wie Genetik und Sozialwissenschaft über Einzelfälle wenig aussagen kann. Deshalb sind unsere anekdotischen Widerlegungen gewiß keine.)
Außerdem scheint ebenfalls etabliert, daß für bestimmte Fähigkeiten, vielleicht auch aktive und passive musikalische, gewisse Zeitfenster im Laufe der kindlichen Entwicklung bestehen. Bei aktivem Musizieren ist das ziemlich deutlich. Wie es bei der Rezeption von Musik aussieht, weiß ich nicht. Drei meiner Geschwister hatten einige Jahre mehr oder minder klassischen Musikunterricht in ihrer Kindheit (Trompete, Geige, Akkordeon). Keiner von denen hört Klassische Musik, aber alle spielen seit Jahren in Freizeitrockbands, teils mit recht großem Engagement.
Ich selbst habe erst mit dem Instrumentalunterricht begonnen, als ich schon als Hörer der Klassik verfallen war (mit 16 Jahren); ich spiele aber schon Jahre nicht mehr, bin m.E. nur mäßig musikalisch.
Schlau werde ich daraus nicht.
Dennoch bin ich ziemlich zuversichtlich, daß es kein "Klassik-Gen" gibt, daß nur ca. 10% der Bevölkerung haben. Wie Herbert sagte, gibt es sicher für allgemeine Musikalität genetische Voraussetzungen. Aber das ist sehr generell, nicht spezifisch für Musikrichtungen. Ich weiß auch gar nicht, wie man "passive Musikalität" so fassen sollte, daß man hier vernünftige Test für etwaige Korrelationen machen kann. (Ich habe einmal eine soziologische Untersuchung aus England gesehen, die hatte kein sehr hohes Auflösungsvermögen. Sie ergab, daß je höher der gesellschaftliche Status, desto diverser der Musikgeschmack, aber wäre nicht in der Lage gewesen zwischen einer Zahnarztgattin, die alle 4 Wochen in die Oper geht, um ihr Geschmeide auszuführen und einem Musikfanatiker, der mehrere Stunden pro Tag klass. Musik hört oder musiziert, zu differenzieren.)
Daß eine engstirnige Tonträgerindustrie nur mäßigen Einfluß hat, wundert mich wenig. Eine andere Sache wäre es, wenn jedes Kind in der Schule ein Instrument lernen würde und obendrein durchgehend eine Stunde Unterricht in Musik/geschichte/theorie hätte. Auch wenn aktiv vielleicht "nur" Pop, Rock oder Blaskapellenmusik gespielt würde, bin ich mir recht sicher, daß das einen gewissen Einfluß auf die Verbreitung der Klassik hätte. Aber die für solche und andere wünschenswerte Bildungsmaßnahmen nötigen Ressourcen müssen wir ja leider dafür aufwenden, um u.a. die Folgeschäden verbrecherischer Zockerei auf Finanzmärkten zu mildern, Subventionserschleicher zu schmieren, oder als Steuergeschenke in der vergeblichen Hoffnung, daß dann etwas weniger ins Fürstentum L. oder sonstwohin verschoben wird, abschreiben. Dumm gelaufen. :kotz:
JR