Karlheinz Stockhausen, der Name dieses Gottvaters der Neuen Musik wirkt auf viele Klassikhörer noch immer wie ein rotes Tuch. Wohl deshalb versah der Kurzstückmeister seinen „Alle sprechen über“-Vorschlag mit einem scheuen . Das Werk selbst gibt für diese Scheu keinen Anlass. Genau ein halbes Jahrhundert ist es her, dass Stockhausen Gruppen komponierte („wie die Zeit vergeht!“, möchte man ausrufen). Das Musterbeispiel für serielle Orchesterpolyphonie ist Gruppen geworden, ein Erfolgsstück, eine Eintrittskarte in die Welt der Neuen Musik, ein Dauerhit, der noch immer auf den Festspielprogrammen steht, so Mirko Weber in seinem Beitrag „Ins Schwarze“ für „Die Zeit“ in der Reihe „Klassiker der Moderne“ (Nr. 65). Denn, ja, auch ein Klassiker der Moderne ist Gruppen inzwischen.
Hört der unvorbereitete Hörer dieses Stück von CD wird er zunächst nur eine Vielzahl unzusammenhängender Geräusche und Klänge wahrnehmen. Nach den gut zwanzig Minuten, die das Stück dauert, wird sich ihm die Frage aufgedrängt haben: „Was soll das?“
Diese Frage zu beantworten, ist nicht leicht, da die Antwort die Mitbeantwortung der Fragen „Wozu Neue Musik?“ und speziell „Wozu serielle Musik?“ verlangt. Ich selbst, der ich diesen Eröffnungsbeitrag an Kurzstückmeisters Stelle schreibe – er hat von seinem Losglück offenbar noch immer nicht erfahren –, bin zudem mit meinen bescheidenen Kenntnissen der Neuen Musik viel weniger als dieser in der Lage, angemessen in das Thema einzuführen. Dennoch von mir einige Worte (Vereinfachungen bitte ich mir nachzusehen, Fehler zu korrigieren):
Wie viele andere sah Stockhausen nach dem zweiten Weltkrieg die Chance für einen Neuanfang. Er frohlockte, die Städte seien radiert, man könne von Grund auf neu anfangen, ohne Rücksicht auf Ruinen und geschmacklose Überreste. Er – natürlich auch andere – begann, das musikalische Material neu zu entdecken und zu organisieren. Die Komposition in Reihen war das Gebot der Stunde, wobei die Reihen auf alle möglichen Parameter bezogen wurden, u. a. auf die Dauern. Die Vierteilung der Töne nach Dauer, Lautstärke, Tonhöhe und Klangfarbe verwarf er als unzureichend. In seiner theoretischen Schrift „…wie die Zeit vergeht…“ aus dem Jahre 1957, ein Jahr also vor Gruppen entstanden, legte er u. a. die Wichtigkeit des Verständnisses von Tönen als Schwingungen dar, woraus sich ergibt, dass Tonhöhe und Rhythmus dasselbe seien. Es sei nur eine Frage der Schnelligkeit der Schwingungen. Beispielhaft erläutert wird diese Erkenntnis gern mithilfe eines fallen gelassenen Tischtennisballes. Zunächst werden die verschiedenen Aufpralle getrennt voneinander und somit als Rhythmus wahrgenommen. Irgendwann aber wird die Dauer zwischen den Aufprallen so kurz, dass wir sie nicht mehr wahrnehmen und dann nicht mehr einen Rhythmus, sondern einen Ton in bestimmter Tonhöhe hören. Stockhausen, der seit 1953 ständiger Mitarbeiter des Studios für Elektronische Musik des WDR Kölns war, hat sich mithilfe der Elektronik intensiv mit der Dekomposition von Klängen befasst. Die Zergliederung von Tönen in seinen Schwingungsbestandteile, das Hinausschicken dieser Bestandteile in den Klangraum, die Beeinflussung bzw. Erkundung dieser Klänge durch die Veränderung der Schwingungsschnelligkeit, das Umschlagen von Tönen in Geräusche, die musikalische Organisation der relevanten Parameter in Reihen, all das beschäftigte Stockhausen damals maßgeblich.
Die Organisation der relevanten Parameter in Reihen hatte Stockhausen zuletzt auf einzelne Töne bezogen – punktueller Serialismus: jedem Ton wurde eine bestimmte Dauer, Lautstärke, Anschlagsart usw. zugewiesen. In Gruppen bezog er die Reihen nunmehr auf größere Einheiten, wurden die Strukturprinzipien auf Gruppen von Tönen angewandt. Insbesondere legte Stockhausen nun in Anknüpfung an seinen oben genannten theoretischen Aufsatz praktisch dar, wie sich Tondauern systematisieren lassen. So überträgt er z. B. eine herkömmliche Zwölftonreihe auf Tonlängen drückt diese wiederum als Temporelationen aus, so dass Rhythmus und sogar das Tempo selbst zu Ordnungsgrößen werden.
Wesentlich für Gruppen ist zudem die Räumlichkeit des Klanges. Später noch viel intensiver hat Stockhause mit Raummusik experimentiert. In Gruppen findet Raummusik bereits insofern statt, dass die Musik von drei Orchestern gespielt wird, die hufeisenförmig um den Hörer angeordnet sind, d. h. sich links, vorn und rechts befinden. Zwischen den Orchestern, die jeweils von einem Dirigenten dirigiert werden, huschen die Klänge auf vielfältige Weise hin und her.
Die Orchester bestehen aus insgesamt 109 Musikern, die einzelnen Orchester sind wiederum in einzelne Musikergruppen unterteilt. Diverse Klangerzeugungsmittel werden benutzt.
Somit steht fest: Der volle Genuss des Werkes ist nur live möglich. Die CD gibt die Musik nur sehr begrenzt, den Raumeindruck, die überwältigende Erfahrung eines allumfassenden Klangraums nicht wieder.
Gleichwohl ist das Hören von Gruppen auch nur von CD sehr lohnenswert. Persönlich kannte ich Gruppen nur aus einer gelungenen TV-Dokumentation einer Aufführung von Rattle u. a. mit seinem alten Sinfonieorchester Birmingham. Seit vorgestern besitze ich die Abbado-CD. Mehrfach habe ich das Werk seither gehört, mit Lautsprechern zu Hause im Sessel, mit Kopfhörern und ausgeschalteten Licht nachts zu Hause im Sessel, mit dem MP3-Player in der U-Bahn – und das Stück als immer interessanter werdend erlebt. Der sich einem öffnende Klangkosmos kann großartig wirken, wenn man sich denn einlässt und den Klängen wirklich lauscht. Noch nicht hinreichend geklärt ist für mich die Frage, ob die Zusammenfassung der zu hörenden Klangereignisse in ein Werk Sinn macht. Anders formuliert: könnte das Werk auch noch zehn Minuten länger oder auch kürzer dauern und würde sich etwas ändern?
Erwähnt werden sollte, dass Stockhausen sein Musik nicht als Kopfmusik, als theoretisches Konstrukt verstand, sondern als mystisches Erlebnis, als ganzkörperliche Bewusstseinserweiterung, als Flugschiff zum Göttlichen
Soweit von mir zur Einführung.
Zur Vertiefung weise ich auf folgende Links hin, insbesondere der erstgenannte Link stellt das musiktheoretische Konzept von Gruppen sehr viel fundierter dar, als ich es vermochte:
Hans Peter Reutter: Gruppen für drei Orchester
Stockhausen über die Vier Kriterien der Elektronischen Musik
Die Zeit - Gruppen als Klassiker der Moderne
Gespannt auf weitere Erfahrungen, Meinungen und Beiträge zu Gruppen ist
Thomas