Im Leitartikel des Feuilletons der Süddeutschen Zeitung vom 15.7. macht sich der Großkritiker Reinhard J.Brembeck allen Ernstes Gedanken darüber, wie der in seinen Augen hoffnungslosen Antiquiertheit vieler älterer Operntexte beizukommen ist, die uns Heutigen vollkommen fremd geworden seien.
Aus Anlass der bevorstehenden Neuproduktionen der Salzburger und Bayreuther Festspiele, Clemenza di Tito und Meistersinger, stellt er fest, dass auch die rebellischsten Regisseure bisher davor zurückgeschreckt seien, Operntexte notfalls umzuschreiben, sodass sie einem heutigen Publikum (wieder) vermittelbar seien.
Er nennt, neben diesen Festspielopern, weitere Beispiele von Opern aus "vordemokratischen Zeiten", also z.B. Zauberflöte, fast den ganzen Verdi und Wagner, deren Figuren in ihrem Verhalten in unserer Zeit keine Entsprechung mehr fänden, also unverständlich blieben (etwa Pamina, Violetta, Aida, Desdemona und Otello, Elisabeth und Tannhäuser, Senta und Holländer).
Als leuchtende Ausnahme unter den Frauen gilt ihm lediglich Norma, eine alleinerziehende, berufstätige Mutter und Vaterlandsverräterin, also eine "emanzipierte" Frau.
Als mutigsten Regisseur nennt er Calixto Bieito, der die Traviata auf den Kopf gestellt hat, indem er aus der Tragödie der kranken Kurtisane eine schwarze Komödie machte, in der die Prostituierte ihre Freier ausnimmt, um insgeheim die lesbische Liebe mit ihrer Freundin Annina auszuleben. (Wo diese Produktion zu erleben ist, entzieht sich noch meiner Kenntnis.)
Brembecks Fazit: Nur so könne dem schleichenden Operntod, einer langsamen musealen Erstarrung, begegnet werden.
So weit, so schlecht. Wo ich selber hier stehe, ist unschwer zu erraten: Hier wurde eine rote Linie überschritten - ein Akt barbarischer Kulturvernichtung begangen, der von einem führenden Musikkritiker auch noch als nachahmenswert empfohlen wird. Was hier als Rettung vor dem schleichenden Operntod gefeiert wird, liefe auf seine Beschleunigung hinaus, ein Verfahren, das geeignet wäre, alte Stücke (überwiegend Meisterwerke) bis zur Unkenntlichkeit zu entstellen. Im Erfolgsfall könnte man dann bald resümieren: Oper - was ist das?
Die von Brembeck empfohlene Rettungsaktion ließe die gesamte bisherige Regietheaterdiskussion als harmloses Kinderspiel erscheinen. Denn wenn nicht nur die Regieanweisungen missachtet werden, sondern das Stück selbst verändert wird, ist es mit der Aurede der künstlerischen Freiheit vorbei. Dann wird es zum Fall für die Justiz.
Für die folgende Diskussion wäre es sicher nützlich, auf die sattsam bekannten Argumente der RT-Theater-Fronten zu verzichten - und gezielt den Fokus auf die hier beschriebene (neue!) Situation zu lenken.
Das wünscht sich, mit herzlichen Grüßen,
Sixtus