Mahlers Musik - geliebt oder gehasst ?

  • Eigentlich hatte ich dieses Thema schon abgehakt.
    Mahlers Musik hat einenAufschwung erlebt, den sich Mahler selbst kaum erträumt hätte. Die einen verehren ihn als letztn Romantiker, die anderen als einen der ersten Vorreiter der Moderne


    So dachte ich bis jetzt.


    Allein dieser Internetbeitrag


    http://www.zeit.de/2010/27/Mahler-Chailly-Gespraech


    hat mich eines Besseren belehrt - zumindest wenn man die Leserbriefe verfolgt. Hier ist tiefe Abneigung einerseits - und abgrundtiefer Hass gegen den der die Abneigung artikuliert hat - spürbar.


    Zwei Welten prallen aufeinander.


    Ich habe das Thema hier aufgegriffen, weil es zwar interessant ist - aber nicht unbedingt im Chailly Thread behandelt werden sollte.


    Mit freundlichen Grüßen aus Wien


    Alfred

    Die Tamino Moderation arbeitet 24 Stunden am Tag - und wenn das nicht reicht - dann fügen wir Nachtstunden hinzu.....



  • Nein, Hass finde ich da keinen.


    Außerdem gibt es dort nur einen Poster, der seiner Abneigung gegen Maler mit großem emotionalen Engagement Ausdruck verleiht ... es gibt sicher zu jedem Komponisten einen Klassikliebhaber, der dessen Musik "hasst".


    Ich finde das jedenfalls ganz amüsant zu lesen.

  • Diese Leserbriefe habe ich auch amüsiert gelesen! Diese Leute bringen da nur ihre eigene Unfähigkeit zum Ausdruck, Mahlers Musik zu verstehen. Da kann man ihnen nur raten: Adornos Mahler-Buch lesen!


    Beste Grüße
    Holger

  • Man sollte das Wort "Haß" nicht zu wörtlich nehmen.
    Aber wenn jemand Mahlers Musik als "abstossend" bezeichnet, dann geht das doch über "Abneigung" ein wenig hinaus.


    Bezogen auf Chaillys Statement - "Mahlers Musik springe einen an" bezogen meint dort der Nutzer "anonym"
    Zitat:
    . ...oder sie stößt dich ab!
    So zum Beispiel all jene, die Mahlers Musik als Resultat einer eklektizistischen Klangfarbenmalerei, koloriert mit einem gepflegten Tupfer selbstmitleidiger Melancholie, empfinden.



    Nein es ist nicht nur der User "anonym", der User "seritza" sekundiert sofort. - und dann kommt die "Gegenseite".....


    Mit freundlichen Grüßen aus Wien


    Alfred

    Die Tamino Moderation arbeitet 24 Stunden am Tag - und wenn das nicht reicht - dann fügen wir Nachtstunden hinzu.....



  • OMan sollte das Wort "Haß" nicht zu wörtlich nehmen.
    Aber wenn jemand Mahlers Musik als "abstossend" bezeichnet, dann geht das doch über "Abneigung" ein wenig hinaus.


    Bezogen auf Chaillys Statement - "Mahlers Musik springe einen an" bezogen meint dort der Nutzer "anonym"
    Zitat:
    . ...oder sie stößt dich ab!
    So zum Beispiel all jene, die Mahlers Musik als Resultat einer eklektizistischen Klangfarbenmalerei, koloriert mit einem gepflegten Tupfer selbstmitleidiger Melancholie, empfinden.



    Nein es ist nicht nur der User "anonym", der User "seritza" sekundiert sofort. - und dann kommt die "Gegenseite".....


    Mit freundlichen Grüßen aus Wien


    Alfred

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  • Zitat

    Mahlers Musik - geliebt oder gehasst ?
    Eigentlich hatte ich dieses Thema schon abgehakt.


    Wieso?
    Es wird immer aktuell sein, solange Mahlers Musik gespielt wird.


    Gerade, weil sie eben in erster Linie ein emotionales Ereignis und weniger ein intellektuelles ist und einen in verschiedene Gefühlszustände versetzt.


    Sie ist irgendwie auch aufdringlich, exzentrisch, indiskret, penetrant. Eben all das, was ich auch schon im Chailly-Thread geschrieben habe.


    Ob nun letzter Romantiker, Vorreiter der Moderne oder beides - egal.
    Es gibt primitive, naive, kindliche, verspielte Momente in seinen Werken.
    Aber die Emotion ist eigentlich in jeden Satz mit hineinkomponiert.



    Agon

  • Ich glaube, Mahlers Musik zu verstehen ist nicht unbedingt ein intellektueller Vorgang, sondern ein intuitiver. Um ihn zu verstehen, muss ich keine Takte zählen, die Exposition abgrenzen oder die Tonarten zu verfolgen.


    Gerade habe ich Eggebrechts "Die Musik Gustav Mahlers" beendet.


    Was ich unter anderem für mich aus dem Buch ziehe, ist, dass Mahler unter Verwendung einfachster und eindringlichster Vokabeln, gerne Präkompositorisch oder aus dem gängigen "Musikalischen Sprachgebrauch" (Musikanten, Marschmusik) ein hochkomplexes Gebilde, um seine Worte zu verwenden: eine hochkomplexe Welt erschafft.
    Aber die Komplexität erschließt sich mir intuitiv, eben durch die Verwendung simpler Vokabeln für ein kompliziertes Satzgebilde.


    Ich glaube auch weiterhin nicht, dass einen Mahlers Musik abstoßen kann. Sie kann einen überfahren oder erschlagen, aber man entkommt ihr nicht (wenn man nicht das Radio ausschaltet...). Sie ist so eindringlich, dass man sich ihr nicht verschließen kann. Das wird denen, die sie nicht in sich reinlassen wollen, Unbehagen bereiten, vermutlich sogar körperliches. Aber abstoßen kann sie nicht... eher ersticken.

  • Mahlers Musik hat einenAufschwung erlebt, den sich Mahler selbst kaum erträumt hätte.


    Vor ein paar Tagen fand ich ein Buch, das zum verschenken vor einer Haustür abgelegt worden war.
    "Oper Operette Konzert" von Hans Schnoor aus dem Bertelsmann Verlag (1955).
    Ein Nachschlagebuch mit 1000 vorgestellten Werken.
    Wie sah die Welt der klassischen Musik 1955 aus?
    Über Eck, Orff, Pfitzner und R. Strauss wurde seitenlang geschrieben.
    Vivaldi und Stockhausen wurden mit wenigen Zeilen erwähnt, sie bekamen jedoch keinen eigenen Komponistenbeitrag.
    Der musikalische Begriff "Jazz" wurde erklärt mit "Tanzmusik nordamerikanischer Neger".
    Ja, so war sie, die Welt von 1955. Und ich gerade mal 6 Jahre alt.


    Wie schätzte man 1955 das musikalische Schaffen von Gustav Mahler ein?
    Zitat "Es war Mahler nicht vergönnt, mit seinen Schöpfungen eine geschichtlich unumstrittene Position zu erkämpfen. Der Einwand...., hat sich im Laufe der Jahre und Jahrzehnte abgewandelt in ein Bedauern über das innerlich fragmentarisch gebliebene Werk, das auch im Publikum nur in begrenztem Umfange Wurzel geschlagen hat.
    Zur mangelnden Popularität von Mahlers Orchesterwerken hat uneingestanden wohl auch ihre stilistische Unentschiedenheit beigetragen.
    Die reinen Instrumentalsinfonien Mahlers sind heute fast vergessen."

    mfG
    Michael

  • Also ich kann locker beides. Wobei natürlich auch hier Hass ein viel zu starkes Wort ist. Aber ich finde manche seiner Sachen affektiert, verkopft, übertrieben und ich weiß nicht was noch alles. Ich mag das dann einfach nicht. Andere Sachen finde ich einfach nur großartig. Seine 1. war für mich einer der Einstiege in die Klassik überhaupt (wegen dem erkennbaren Bruder Jakob u.a.). Aber z.B. die erste Hälfte von der Synf. für Tausend, da weiß ich einfach nicht, was das soll. Ich höre immer wieder mal rein, ob ich reif geworden bin für sowas, aber mir fehlen da wohl noch ein paar Jährchen.
    Tschö
    Klaus

    ich weiß, dass ich nichts weiß. Aber ganz sicher bin ich mir da nicht.


  • Na, hoffentlich geht das Pendel wieder ein paar cm zurück - für mich ist Debussy der größte Meister dieser Generation, der sollte nicht in Mahlers Schatten darben müssen!




    Da gab es ja auch noch nicht den Free-Jazz und die anderen intellektuelleren Spielarten.
    Egk war damals noch aktiv, keine 60.
    Ich muss mich wohl auch noch mehr mit Egk beschäftigen ...
    :hello:

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  • Ich habe ja jetzt rel. viel Zeit und nutze sie, um meine GA von vorn bis hinten zu hören. (in der seltsamen Reihenfolge der Deutschen Grammophon). Was mir auffällt ist zum einen, dass Mahler durch den starken Einsatz von Stimmen, Chören etwas macht, was mir nicht zusagt. Er überfrachtet einerseits, nimmt andererseits Interpretationsspielraum heraus. die eigentliche Orchestermusik gerät dadurch manchmal ins Hintertreffen, wird zur Begleitung.
    Zum zweiten erlebe ich ihn als dann besonders gut, wenn er ruhig, gemächlich und melancholisch ist. Die ganz große Geste fliegt oft aus der Kurve, besonders s.o. wenn zu viel hineingepackt wird.
    Das, was ich als intellektuelle Spielchen erlebe, finde ich oft unnütz und affektiert. Mein Gefühl sagt mir, dass er nicht als Neuerer taugt, sondern als Vollender. Das heißt, wenn er traditionell bleibt, ist es oft sensationell, wenn er experimentiert, wirkt es genau so,als Experiment.


    Dazu passt, dass ich das reine Chorwerk "Lied von der Erde" wieder ganz gut finden kann.


    Vieles ist einfach zu lang. Man hat selten die Zeit (jedenfalls ich), mehr als 1 Stunde am Stück Musik zu hören, ohne gestört zu werden. Und die Aufmerksamkeitsspanne ist bei mir oft auch kürzer. Damit werden die Synfonien evtl. zu Fundgruben, wo sich jeder etwas herauspickt, was ihm zusagt. Auch das fände ich schade.
    Tschö
    Klaus

    ich weiß, dass ich nichts weiß. Aber ganz sicher bin ich mir da nicht.

  • Ich habe ja jetzt rel. viel Zeit und nutze sie, um meine GA von vorn bis hinten zu hören. (in der seltsamen Reihenfolge der Deutschen Grammophon). Was mir auffällt ist zum einen, dass Mahler durch den starken Einsatz von Stimmen, Chören etwas macht, was mir nicht zusagt. Er überfrachtet einerseits, nimmt andererseits Interpretationsspielraum heraus. die eigentliche Orchestermusik gerät dadurch manchmal ins Hintertreffen, wird zur Begleitung.


    Meinst Du die 8.? Das ist doch das einzige Stück, in dem der Chor dominiert. In der 2. hat man gut 5 min. Altsolo und nochmal gut 10 min. Chor+Solo im Finale, das ist nicht mal ein Fünftel der ca. 80 min., die das Stück dauert. Bei der 3. ist es im Verhältnis noch weniger.



    Zitat

    Das, was ich als intellektuelle Spielchen erlebe, finde ich oft unnütz und affektiert. Mein Gefühl sagt mir, dass er nicht als Neuerer taugt, sondern als Vollender. Das heißt, wenn er traditionell bleibt, ist es oft sensationell, wenn er experimentiert, wirkt es genau so,als Experiment.


    Welche Sätze oder Passagen meinst Du denn mit "intellektuelle Spielchen"?

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • ich meine ja gerade die rel. kurzen, eingestreuten Sequenzen, die mir unorganisch vorkommen, als käme er rein musikalisch nicht mehr weiter und da müsse dann der Text her.
    die Spielereien, wie soll ich das erklären? Wenn Dissonanzen eingeworfen werden, plötzliche Ländlerstückchen dazwischengemurkst werden. Ich kann es nicht erklären... Es kommt mir manches so "gewollt". Bernstein hat mal über Beethoven gesagt, dass jede Note die man gehört hat, dass man von der weiß, dass genau diese kommen musste. Bei Mahler erscheint es mir, als wolle er bewußt genau das Gegenteil erreichen. So nach dem Motto: Ha, das hättet Ihr jetzt nicht gedacht, wa?"
    Klaus

    ich weiß, dass ich nichts weiß. Aber ganz sicher bin ich mir da nicht.

  • Du sollst es nicht erklären, sondern ein paar identifizierbare Beispiele sagen: Sinfonie, Satz min:sec einer Aufnahme. Sonst reden wir nur aneinander vorbei.

    Struck by the sounds before the sun,
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    (Bob Dylan)

  • Die Mahler-Renaissance haben wir Leonard Bernstein zu verdanken. Bruno Walter hatte sich davor für den österreichischen Komponisten eingesetzt. Den ersten Mahler-Zyklus brachte Bernstein mit den New Yorker Philharmonikern in den Konzertsaal. Sein Engagement zeigte wenig Erfolg in den Konzertprogrammen. Vereinzelt tauchte Mahler in den Konzertsälen auf. Sind wesentliche Aufnahmen anderer Dirigenten in dieser Zeit, in den 60er Jahren entstanden? Klemperer mit dem Lied von der Erde fällt mir ein. Ich lasse mich gerne von kompetenteren Taminos belehren, wenn es noch mehr geben sollte. Ich mag mich an eine Filmdokumentation erinnern, die entstand, als Bernstein in den 70er Jahren mit den Wiener Philharmonikern die Mahler Sinfonien einstudierte. Die Ablehnung der Musiker während der Proben war deutlich zu sehen. Der Dirigent musste Überzeugungsarbeit leisten. Wenn man bedenkt, dass Mahler in Wien gewirkt hatte, ein erstaunlicher Umstand.
    .

    Vor Schuberts Musik stürzt die Träne aus dem Auge, ohne erst die Seele zu befragen:
    so unbildlich und real fällt sie in uns ein. Wir weinen, ohne zu wissen warum; Theodor W. Adorno - 1928




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  • Die Legende mit Bernstein als Antreiber der "Mahler-Renaissance" wurde schon zum wiederholten Male im Forum angesprochen und m.E. ziemlich deutlich widerlegt. Außer "Mahlerianern" aus dem unmittelbaren Umfeld wie Walter, Klemperer, Mengelberg haben sich eine ganze Reihe von anderen Dirigenten lange vor Bernstein für dessen Musik eingesetzt, zB Scherchen, Mitropoulos, Abravanel, Kubelik u.a. Das Heraussuchen der alten Threads bleibt als (unschwierige, aber evtl. langwierige) Übungsaufgabe für den Leser...

    Struck by the sounds before the sun,
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    (Bob Dylan)

  • Ich danke Johannes Roehl für den Hinweis der Fürsprecher.
    Als Ergänzung dieser Hinweis:

    Kirill Kondrashin brachte in den 70er Jahren Mahler in der Sowjetunion zur Aufführung.
    Es bleibt trotzdem die Tatsache, dass Mahler in Wien der 70er Jahren nicht wohlgelitten war und Bernstein sein ganzes Charisma seiner Persönlichkeit einbringen musste, damit Mahler aufgeführt werden konnte. Da werden die Wiener mehr darüber berichten können.


    Einen ähnlichen Thread gibt es bereits: Gustav Mahler - Vom Verfemten zum Superstar


    Zu Mahler und Bernstein wurde hier bereits diskutiert: Leonard Bernstein - unumstritten - oder langweilig ? Die Beiträge 18, 24 und 27 widerlegen und erhellen meine Aussage, die ich weiter oben gemacht habe. Gut gibt es das Tamina-Forum, den Ozean des Wissens über klassische Musik und allem, was dazugehört. ;)


    .

    Vor Schuberts Musik stürzt die Träne aus dem Auge, ohne erst die Seele zu befragen:
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  • Und ein Beispiel für die "Spielereien" höre ich gerade. 2. Satz der 9. Synfonie. Immer wieder ein Triller, ein Volksmusikversatzstück. Die Bläser tröten mal ein bisschen und dann geht ein Ländler los. Ja, das ist ein gutes Beispiel.

    ich weiß, dass ich nichts weiß. Aber ganz sicher bin ich mir da nicht.

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  • Und wer singt da die ganze Zeit?


    Lieber Klaus, entweder ein Tenor und ein Alt oder ein Tenor und ein Bariton, je nachdem, welcher Besetzung der Dirigent den Vorzug gibt. Aber definitiv kein Chor - ich überlege die ganze Zeit, ob Du vielleicht ein ganz anderes Stück meinst .. hast Du das Lied von der Erde wirklich schon mal gehört??? :hello:

  • Meinst Du vielleicht "Das Klagende Lied"? Das ist ziemlich durchgehend mit Chor.


    Der 2. Satz der 9. ("etwas täppisch und sehr derb") ist in der Tat voll mit Volksmusikversatzstücken, die zwischen idyllischen Reminiszenzen und grotesker Überspitzung changieren. Ähnliches findet sich in vielen anderen seiner Scherzo-Sätze (und nicht nur dort). Das scheint mir aber ein ganz wesentliches Stilelement bei Mahler schon in der ersten Sinfonie. Das sind keine "zusätzlichen" Spielereien, diese Passagen sind ja auch nicht nur spielerisch und ironisch distanziert, sondern durchaus emotional. Entweder verzerrt als Ausdruck einer Art "Weltekel" oder auch sehnsüchtig-melancholisch.

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    (Bob Dylan)

  • Nein tut mir leid. Ich kann das nicht als emotional empfinden. Ich kann erkennen, dass er etwas emotionales meinte! Aber für mich ist es verkopft, sophisticated und Elfenbeinturmmäßig.
    (Beim letzten Satz geht es wieder einigermaßen ;) )
    LG
    Klaus

    ich weiß, dass ich nichts weiß. Aber ganz sicher bin ich mir da nicht.

  • Zitat AGON:
    Gerade, weil sie eben in erster Linie ein emotionales Ereignis und weniger ein intellektuelles ist und einen in verschiedene Gefühlszustände versetzt.


    So empfinde ich das zum Großteil auch bei Mahlers Werken - und genau das hat es mir lange Zeit so schwer gemacht, einen Zugang zu seiner Musik zu finden. "Wenn ich mal vorhaben sollte von einer Brücke zu springen um mich umzubringen und noch unentschlossen sein sollte, dann werde ich Mahler hören. Dann springe ich bestimmt.", pflegte ich früher zu sagen.


    Ich bin nun 45 Jahre alt und habe vielleicht vor ca. 1 1/2 Jahren angefangen bewusst Mahler (vor allem die Sinfonien) zu hören. Als Jugendlicher und auch später noch habe ich seine Musik als ungeheuer depressiv und niederdrückend empfunden, was sie gewiss teilweise auch ist. Nur heute, mit etwas mehr Lebens- und Leidenserfahrung, kann ich das besser einordnen und verarbeiten. Mein Vater und der Mann meiner Kusine, die beide Mahler sehr schätzen, wiesen immer wieder darauf hin, dass man "ein gewisses Alter" haben müsse, um Mahler zu verstehen. Das klingt wie eine Binsenweisheit, aber in meinem Fall hatten sie recht. Inzwischen schätze ich zum Beispiel die Sinfonien Nr. 1, 2, 6 und 8 sehr und möchte mich auch gerne weiter mit Mahlers Schaffen beschäftigen. Das geht aber in der Tat nur - wie in diesem Thread auch schon erwähnt -, wenn man die Zeit für intensive und ungestörte Hörerlebnisse hat. (Das gilt aber eigentlich für alle Musik, die man sich neu aneignen möchte.)

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  • Ich bin nun 45 Jahre alt und habe vielleicht vor ca. 1 1/2 Jahren angefangen bewusst Mahler (vor allem die Sinfonien) zu hören. Als Jugendlicher und auch später noch habe ich seine Musik als ungeheuer depressiv und niederdrückend empfunden, was sie gewiss teilweise auch ist. Nur heute, mit etwas mehr Lebens- und Leidenserfahrung, kann ich das besser einordnen und verarbeiten.


    Lieber Cartman!


    Mit Interesse habe ich gelesen, was Du von Deiner Geschichte mit Mahler berichtest. Ich habe gerade auch in einem anderen Thread versucht, meine Geschichte mit Mahler zu skizzieren und dabei auf die Frage zu antworten, warum ich denn immer neue Aufnahmen von Mahler-Sinfonien in meine Sammlung stelle und was ich darüber von Mahlers Welt erfahre. In dem Thread, in dem ich das gepostet habe, war es wohl eher nicht so passend. Deshalb nehme ich mir die Freiheit, hier einfach die zentralen Passagen noch mal einzustellen:


    • Vielleicht ist es ja wirklich nicht nötig jede der Mahler-Sinfonien (meinetwegen auch Mozart-, Brahms-, Bruckner-, Dvorak- oder Tschaikowski-Sinfonien) in mehr als einem Dutzend Aufnahmen zu haben. Ich frage mich denn auch immer wieder: Musstest Du die Einspielung denn auch noch kaufen?
      Oft ist die Antwort: 'Ja'!


      Um mal beim Beispiel Mahler zu bleiben:


      Aufgewachsen bin ich in einer Zeit, in der Mahler ausgesprochen selten auf dem Programm stand.
      Immerhin hatte ich Gelegenheit, die meisten Sinfonien schon in den 50er bzw. Anfang der 60er Jahre zu hören. Das waren faszinierende aber zunächst auch verstörende Erfahrungen. Gerade weil ich merkte, dass ich die Welt Mahlers nicht sogleich verstehen konnte wie ich zuvor Mozarts oder Beethovens, Brahms oder Schumanns Welt glaubte verstanden zu haben, setzte ich mich eingehender mit Mahler auseinander!


      Dabei habe ich natürlich viel über Mahlers Sinfonien erfahren und gelernt: über die Zusammenhänge von Leben und Werk, darüber dass er zum Beispiel die VI. Sinfonie in einer Zeit komponiert hat, in der er so glücklich war wie nie zuvor in seinem Leben, und dass ihn doch Unsicherheiten, Befürchtungen, ja ganz existenzielle Ängste plagten und er das Gefühl nicht los wurde, in seiner Welt und in seiner Zeit ein Fremder und ein Gefährdeter zu sein. Erfahren und gelernt habe ich auch viel darüber, wie Mahler sich mit den Prämissen, Traditionen und Paradigmen der klassischen sinfonischen Formgestaltung auseinandergesetzt hat, wie seine Musik auch in hohem Maß von Störungen lebt, von Abweichungen und Fluchten. Ich habe begriffen, dass es für Mahler gerade wesentlich war, die Zwiespältigkeiten, Widersprüchlichkeiten und Zerrissenheiten dieser Welt auch in der Form zu spiegeln. Und ich begann zu verstehen, wie vielfältig Mahlers Wege waren, musikalische Gedanken zu entwickeln, zu verzahnen und zu verdichten und dann auch wieder zu zerlegen und aufzulösen. Stetig gewann ich immer tieferen Zugang zu Mahlers spezifischem Ausdruckswollen: zu seiner Ruhelosigkeit und den Bewegungsimpulsen, die Bekker „dieses ständige Schreiten um des Schreitens willen“ genannt hat, zu den Idyllen, die so trügerisch sind, zu den Verzerrungen der musikalischen Bilder ins Fratzenhafte, natürlich aber auch zu der Unentrinnbarkeit, die etwa - um bei dem schon erwähnten Beispiel zu bleiben - die VI. Sinfonie so eindrücklich prägt und die hier gar nicht mehr den Raum lässt für die Entfaltung eines Finales, wie Mahler es für die meisten seiner anderen Sinfonien gewagt hat und in dem wenigstens noch das Versprechen von Heilung und Heil aufgehoben bleibt.


      Im Laufe der Jahre habe ich nicht nur mannigfache Publikationen über Mahlers Musik gelesen. Viel wichtiger war für mich - immer wieder und immer neu - Aufführungen der verschiedenen Sinfonien Mahlers zu hören.
      Meine ersten Mahler-Interpreten waren Barbirolli, Walter, Kubelik, Horenstein, Rosbaud, und Karel Sejna! Dann kamen der junge Maazel, Solti, Abbado, Bernstein und später Haitink, Tennstedt, Karajan, Chailly und manch andere dazu! Dabei war auffällig, wie vielfältig und fundamental unterschiedlich die Interpretationen waren.


      Gar nicht so wenigen Dirigenten waren die Sinfonien Mahlers die Sprache, in der sie von sich reden konnten, ihre Erfahrungen mitteilen, Leidenschaften ausleben, ihre Sehnsüchte ausdrücken und ihre Hoffnungen weitergeben konnten. Wenn gesagt wird, Mahlers Komponieren sei immer und unbeirrt Selbsterkundung, so zeichnen diese Interpreten nicht einfach nur Mahlers Selbsterkundungen nach; sie erkunden gleich sich selber mit.


      Andere Dirigenten konzentrieren sich streng darauf, die musikalischen Strukturen und Verflechtungen bloß zu legen und die Originalität und Kühnheit der sinfonischen Komposition zu erhellen, die nicht mehr an der Konsequenzlogik eines Beethoven oder Brahms orientiert ist, deren Faktur oft rätselhaft ist und in deren Entwicklungen Wege einschlagen werden, die nicht selten im Nichts enden.


      Weiter gibt es Dirigenten, die sich primär von einer schlichten Liebe zu den klingenden „Dingqualitäten“ leiten lassen, an Strukturen und Relationen ebenso wenig Interesse haben wie an Intentionen und Funktionen, und die alle spieltechnischen Fähigkeiten ihrer Musiker und all ihr Raffinement als Orchesterleiter aufbieten, um Klangereignisse zu schaffen, die ihre unmittelbare Faszination entfalten und nicht darauf zielen, etwas mitzuteilen, was hinter den Klängen steht.

      Wieder andere Dirigenten nehmen Mahlers kritische Abwendung von einem ästhetischen Schein des Geschlossenen, einer sinnhaften Ganzheit ernst und arbeiten die Innenspannungen und die Widersprüche seiner Sinfonien heraus, sie machen fühlbar, dass es verstehbare Botschaften und unentschlüsselte, vielleicht unentschlüsselbare Geheimnisse im Werk Gustav Mahlers gibt.


      Ich verzichte mal darauf, hier die genannten Interpreten den knapp (und natürlich idealtypisch) bezeichneten Interpretations-Ansätzen zuzuordenen.
      Sicher habt Ihr selber alle genug Hörerfahrung und Phantasie , dies zu tun.
      Aber ich denke doch, dass mir kaum jemand widersprechen wird, wenn ich sage, dass der zuletzt beschriebene Interpretationsansatz einer ist, den man eben von den Dirigenten früherer Dekaden überhaupt noch nicht hat hören können. Vielleicht sind dazu erst die Dirigenten einer Generation fähig, für die Wirklichkeit und Kunst nicht mehr gesicherte Entitäten sind.


      Bei allem Respekt gegenüber Solti und Bernstein, bei aller Liebe für Barbirolli und Kubelik und bei aller Hochachtung für Horenstein - ich möchte auf Michael Tilsom Thomas, Jonathan Nott und Ivan Fischer nicht verzichten, weil sie mir etwas zu sagen haben, was mir wichtig ist!


    Mit besten Grüßen



    Caruso41

    ;) - ;) - ;)


    Wer Rechtschreibfehler findet, darf sie behalten!

  • So wie ihr es schreibt, muss ich wohl dabei bleiben und weiter Mahler hören. Zum Teil, wie gesagt, fällt mir das ja auch sehr leicht. Aber mein aktuelles Beispiel für völlige Verkopfung. die ersgten beiden Sätze der 7. Ich verstehe das einfach nicht, manchmal klingt es schön, aber dann kommen Stellen, die für mich völlig ohne Zusammenhang daherkommen. Die Kuhglocken erhellen das Ganze vielleicht ein wenig. Aber alles in allem hat Mahler da wohl sein Wissen und Können unsortiert in die Waagschalegeworfen, so kommt es mir vor.
    Aber wie gesagt, vielleicht habt ihr recht und es kommt mit steigendem Alter von allein.
    Tschö
    Klaus

    ich weiß, dass ich nichts weiß. Aber ganz sicher bin ich mir da nicht.

  • Als Jugendlicher und auch später noch habe ich seine Musik als ungeheuer depressiv und niederdrückend empfunden, was sie gewiss teilweise auch ist. Nur heute, mit etwas mehr Lebens- und Leidenserfahrung, kann ich das besser einordnen und verarbeiten.


    Lieber Caruso41,


    ich könnte Dein Großvater sein (doch, habs´s nachgerechnet, aber bitte keinen Schnuller oder Strampelhöschen schicken, unsere Altersheime verfügen über eigene Mittel, Jetzt erst bemerke ich das Zitat im Zitat. Dann bin ich eben Cartmans Großvater, das macht die Siebte nicht fröhlicher).
    Und dennoch wirkt der 1. Satz der Siebten bei aller Faszination auf mich immer noch wie ein Depressivum.


    Sonderbarerweise nicht beim Anhören, sondern wenn der Satz plötzlich im Kopf auftaucht.
    Ob da die verschiedenen Deutungsrichtungen etwas daran ändern können? Das setzt doch ein musikalisch überdurchschnittlich geschultes Ohr voraus und die Fähigkeit, das Gehörte ins rechte Interpretationsfach zu sortieren.


    Mir selbst würde es schwerfallen zu ergründen, ob sich ein Dirigent von der schlichten Liebe zur klingenden Dingqualität leiten lässt oder Sehnsüchte ausdrückt und Leidenschaften auslebt. Geht das nicht gleichzeitig?


    Im Thread ums Fremdgehen habe ich eine ähnliche Frage angeschnitten und nicht erfahren.


    Du wirst natürlich in den kommenden Stunden auch nicht antworten können und wenn die zerstampften Eier verlieren, überhaupt nicht mehr.


    Die Meisterschale gibt´s aber doch sicher auch zu kaufen.


    Viele Grüße
    hami1799

  • Mir selbst würde es schwerfallen zu ergründen, ob sich ein Dirigent von der schlichten Liebe zur klingenden Dingqualität leiten lässt oder Sehnsüchte ausdrückt und Leidenschaften auslebt. Geht das nicht gleichzeitig?


    Lieber Hami 1799!


    Ich hatte ja ausdrücklich gesagt, mein Versuch, unterschiedliche Interpretations-Ansätze zu unterscheiden, sei "natürlich idealtypisch".


    Insofern bestreite ich nicht, dass ein Dirigent unter Umständen zugleich etwas von seinen Leidenschaften und Sehnsüchten mitteilen und auch geradezu genüsslich eine schlichte Liebe zu den klingenden „Dingqualitäten“ ausleben kann. Aber bitte sei mal ehrlich, was verrät das dann über seine Leidenschaften und Sehnsüchte?


    Auch die klangsensualistische und klangarchitektonische Interpretation kann natürlich Strukturen und Verläufe erhellen, aber es ist schon ein Unterschied, ob ich einen musikalischen Komplex vom Klang her erschließe oder von dem thematischen Gefüge und den kompositorischen Verfahren her.


    Gerade der von Klaus und Dir erwähnte erste Satz der 7. Sinfonie erscheint mir völlig unterschiedlich zu wirken, wenn der Dirigent sich primär auf die Klangoberfläche und ihre Verführungen und Abgründe einlässt oder wenn er die thematischen Entwicklungen und die formalen Strukturen zu erhellen versucht! Höre doch mal zum Vergleich Zubin Mehta und Hermann Scherchen! Ich denke, dass es Dir da nicht wirklich schwerfallen wird, die Unterschiedlichkeit der Ansätze zu ergründen.
    Die "ideale Interpretation" dürfte es vermutlich nie geben und mir ist schon wichtig, von dem einen Dirigenten genauso etwas über das Werk zu erfahren wie von dem anderen Dirigenten. Ganz besonders liebe ich Interpretationen, die zwar einen ganz klaren Interpretationsansatz haben, aber die Dimensionen, die über andere Ansätze erschlossen werden, nicht unterbelichtet läßt! Im Falle der 7. Sinfonie Mahlers ist für mich die SFSO-Aufnahme von Michael Tilson Thomas so eine Aufnahme, die ich für besonders reich und vielschichtig halte und die das Unerhörte dieser Partitur erfahrbar werden läßt!


    Im Übrigen: wenn Die Zahl in Deinem Use-Namen auf Dein Geburtsdatum deutet, bist Du schon ein wenig älter als ich, aber dass ich nicht mehr ganz so jung bin wie Cartman ist Dir ja selber schon aufgefallen!



    Beste Grüße



    Caruso41

    ;) - ;) - ;)


    Wer Rechtschreibfehler findet, darf sie behalten!

  • Was ist denn an den ersten 4 Sinfonien dominierend depressiv?
    Auch die 7. empfinde ich nicht so, selbst wenn der erste Satz auch ein "Nachtstück" sein mag, nicht nur die mittleren.

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
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    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

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