Das Werk
Mit 19 Jahren schreibt man kein Meisterwerk. Es sei denn, man ist Mozart.
Oder Dmitri Schostakowitsch.
Was als Abschlußarbeit der Studien am Leningrader Konservatorium gedacht war, ist der erste Welterfolg des jungen Komponisten: Seine Erste Symphonie.
Was ist so spektakulär an ihr, daß sie nicht nur Nikolai Malko unter dem Jubel der Zuhörer uraufgeführt, sondern von Dirigenten wie Bruno Walter, Otto Klemperer und Arturo Toscanini nachgespielt wurde?
Sagen wir es gleich ganz offen: Die Symphonie ist nicht perfekt. Vor allem im Licht späterer Symphonien Schostakowitschs ist sie etwas kleinteilig, im Ausdruck ein wenig unentschieden, ihre Steigerungen erfolgen ziemlich kurzatmig.
Dennoch: Wir müssen versuchen, uns in dieses Uraufführungsjahr 1926 zu versetzen. Wir müssen so tun, als wüßten wir nicht um Schostakowitschs Vierte, nicht um seine Fünfte, nicht um seine Achte.
Genau genommen wissen wir ja nicht einmal, ob dieses hochbegabte Kerlchen überhaupt Komponist werden will. Er selbst weiß es ja nicht - angesichts seines enormen pianistischen Könnens ist da auch eine Solistenkarriere drin.
(Welch ein Glück, daß Schostakowitsch die entscheidenden Klavierwettbewerbe nicht gewinnt! Ein ähnliches Glück ereignet sich in der Karriere Benjamin Brittens, die in vielem ähnlich verläuft: Britten hat als Klaviersolist dermaßen Lampenfieber, daß er lieber Komponist wird.)
Wir schreiben also das Jahr 1926 und befinden uns in Leningrad. Die Kommunistische Partei der Sowjetunion hat die vom Zaren zurückgelassenen Probleme und die selbstgeschaffenen dank der Neuen Ökonomischen Politik (NEP) halbwegs in den Griff gekriegt. Man kann sich um die Förderung der antibürgerlichen Künste kümmern - vorerst noch ohne stilistische Vorgaben an die Künstler. Wenn es jemals ein "Goldenes Zeitalter des Kommunismus" gegeben hat, so sind es diese Jahre - und nicht etwa jene "Tauwetter-Periode" Chruschtschows, die nur deshalb befreiend empfunden wurde,weil sie auf Stalins Staatsterror folgte.
Und in dieser Zeit kommt Schostakowitschs Erste Symphonie gerade recht: Es ist nicht nur seine Erste, sondern auch die erste wesentliche Symphonie, die ein Komponist geschrieben hat, dessen Ausbildung ausschließlich durch sowjetische Institute erfolgt ist. Diese Erste Symphonie eines Neunzehnjährigen ist der Beweis der Überlegenheit sowjetischer Ausbildung. Den Rest macht die Begabung...
Vielleicht ist dieses Gefühl aber auch die Wurzel dessen, was Schostakowitsch später erleiden muß: Er wird zum Opfer einer enttäuschten Liebe. Der Liebe eines politischen Systems zu seinem es verherrlichenden Künstler - nur, daß die Liebe dieses Künstlers zu diesem politischen System von kurzer Dauer war.
Ein Lehrstück übrigens auch für die außerrussische Gegenwart: Staaten sollten nicht zu stolz auf ihre Genies sein. Ein Genie ist man nämlich dank der Begabung, nicht dank der staatlichen Förderung. Genies aufgrund staatlicher Förderung sind in den wenigsten Fällen welche - in der Sowjetunion etwa wird man das im Fall von Tichon Chrennikow merken. Der allerdings ein Genie des Intrigantentums war. Aber das nur am Rande.
Schostakowitschs Erste Symphonie also: Der Neunzehnjährige weiß tatsächlich, wie die mitteleuropäische Musik klingt, welche Entwicklung sie gemacht hat. Durch die Instrumentierung (für mittelgroßes, mit erstaunlicher Virtuosität gehandhabtes Orchester) spuken Hindemiths Kammermusiken - deren erste dürfte Schostakowitsch tief beeindruckt haben.
Andere Einflüsse sind bei einem so jungen russischen Komponisten, der Neue Musik schreiben will, logisch: Prokofjew, Strawinskij.
Aber - und das ist das Erstaunliche - Schostakowitsch schmilzt alles in eine eigene unverwechselbare Sprache um. Eines ihrer Merkmale ist die Haltung "épater le bourgeois" - den Bürger verblüffen im Sinn von ihm eine lange Nase drehen.
Soll heißen: Schostakowitsch baut ganz klassisch Entwicklungen auf, erfüllt aber nicht die dadurch geweckten Erwartungen, sondern macht das Gegenteil oder überhaupt etwas ganz Anderes (wieder: Bitte nich nach heutigen Kenntnissen urteilen, wir sind im Jahr 1926 - auch die köstlichen Scherze Haydns empfinden wir heute aufgrund unserer Hörerfahrungen ganz anders).
Wenn dann doch einmal das Erwartete auch eintritt, ist es ebenfalls eine Überraschung - man hat schließlich mit einer neuerlichen Volte gerechnet.
Und dieser Schostakowitsch kann alles: Freche Parodie, tiefere Gefühle, genüßlich zerfließender Kitsch, grelles Kehraus-Finale - das ist die erste moderne sowjetische Symphonie: Weg ist das bourgeoise Pathos, es sei denn, es wird verspottet; weg ist die weihevolle Großräumigkeit, weg die reine Stilistik.
Doch der scheinbar kunterbunte Durcheinander ist verbunden durch die kleine Terz, auf die sich alle Themen beziehen - also doch wieder eine "echte" symphonische Arbeit. Sozusagen Absage an die herkömmliche Symphonik und Zustimmung zugleich.
Wirklich verblüffend, was dieser Neunzehnjährige kann...!
Die Aufnahmen
Die Erste liegt in fast schon unzähligen Aufnahmen vor; ich beschränke mich auf die, die ich empfehlen kann bzw. auf jene, die zwar oft empfohlen werden, von denen ich aber abraten würde.
Was an der Ersten schwierig zu dirigieren ist, das ist ihre Kleinräumigkeit, die durch permanente Tempowechsel entsteht. Ohne eine gute Tempodramaturgie, also ein Abstimmen der Tempi untereinander, läuft hier gar nichts. Dazu kommt, daß der Eindruck einer gewissen Lichtigkeit und Frechheit entstehen muß, zu überdreht darf es aber auch wieder nicht sein, eine Selbstparodie ist dieses Werk nicht.
Mariss Jansons ist für meinen Geschmack sehr weit entfernt von den Tugenden: Da wird zuviel nachgedrückt, überdreht, da werden die Tempowechsel allzu klar herausgespielt und das Werk dadurch zerhackt - und ob das Finale gar so grell sein muß?
Seltsam: Simon Rattle, der sonst nicht Jansons ähnelt, macht nahezu die gleichen Fehler - viel zu viel Kapellmeisterei, viel zu viel Nachdrücklichkeit statt einer gewissen eleganten Frechheit.
Rudolf Barschai wäre wieder einmal ein guter Tipp - wenn nur das Orchester eine Spur russischer klingen würde. Schneidende Schärfe im Blech und "pfeifendes" Holz ist gerade bei diesem Erstling stilistisch ein Muß. Hut aber vor barschais empi - aber als Ganzes leider nicht wirklich überzeugend.
Dmitri Kitaenko hat das Werk dafür gar nicht im Griff: Ja, klingt schön - aber auch furchtbar flach. Bitte keine verkappte Kinomusik daraus machen, so war es wirklich nicht gemeint!
Gennadij Roschdestwenskij macht's hemdsärmelig und verschmitzt - sieh einer an, ja, das funktioniert. Vielleicht nicht ideal, vielleicht eine Spur zu salopp - aber der Tonfall stimmt.
Maxim Schostakowitsch ist schon genauer. Und er weiß, welche Tempi sein Vater wollte, am liebsten etwas schneller als möglich. Da kann manchen schon einmal die Luft ausgehen - aber nicht Maxim Schostakowitsch und seinem Prager Orchester, das sich in diesem Feuerwerk glänzend hält und mit herrlicher Attacke bewährt.
Dennoch: Kyrill Kondraschin liegt bei mir unangefochten wieder einmal an der Spitze: Die Tempi passen, die Musik ist frech und elegant und färbig und flott und nachdenklich auch einmal. Hie und da wird's sogar richtig abgründig - aber noch gibt's keinen Blick hinunter, sondern nur einen Sprung drüber weg! Und das Orchester hat die ganze Bandbreite drauf, da sticheln keck die Trompeten, dort blöken lachend die Hörner, und das Holz schrillt, daß es eine Freude ist - aber eben alles mit Geschmack inszeniert, mit hundertprozentigem Fingerspitzengefühl für diese Musik. An dieser wirklich fulminanten Aufnahme sind alle anderen zu messen.