Ist serielle und atonale Musik out?

  • Hallo Forianer,
    Es würde mich interessieren,wie die Meinungen über diese
    Kompositionstechniken sind.Meiner Meinung nach sind es
    nur zeitbedingte Strömungen,die ihren Zenit schon hinter
    sich haben.Heute interessiert sich offensichtlich nur noch
    eine elitäre Minderheit für diese Kompositionstechnik,und
    natürlich die Komponisten selber.Ich bin der Meinung,
    daß die tonale Musik der Harmonie der Welt und damit der
    Harmonie des Menschen entspricht,und das sie die meiner
    Meinung nach modischen Strömungen jeder Art überleben wird.


    :hello:Herbert.

    Tutto nel mondo è burla.

  • Schön, dass wir die gleichen Gedanken haben. Jetzt müssen wir das nur noch den heutigen Komponisten erklären!
    Die Frage ist: wie auf tonaler Ebene "Neues" schaffen?

    "Das Große an der Musik von Richard Strauss ist, daß sie ein Argument darstellt und untermauert, das über alle Dogmen der Kunst - alle Fragen von Stil und Geschmack und Idiom -, über alle nichtigen, unfruchtbaren Voreingenommenheiten des Chronisten hinausgeht.Sie bietet uns das Beispiel eines Menschen, der seine eigene Zeit bereichert, indem er keiner angehört." - Glenn Gould

  • Von einigen Mitgliedern wird es dafür bestimmt wieder Haue geben.


    Ich für meinen Teil glaube absolut nicht, dass die Möglichkeiten tonaler Musik ausgeschöpft sind. Die Zukunft sehe ich da aber eher im Gebrach modaler Tonleitern als in der klassischen Dur-Moll-Tonalität mit ihren Hauptfunktionen.


    Die Rezeption oder eher gesagt Nichtrezeption der Musikrichtungen ohne tonales Zentrum zeigt m. E. jedenfalls, das selbiges ein Grundbedürfnis des Musik hörenden Menschen ist.

    „People may say I can't sing, but no one can ever say I didn't sing."
    Florence Foster-Jenkins (1868-1944)

  • Zitat

    Original von Herbert Henn
    Ich bin der Meinung,
    daß die tonale Musik der Harmonie der Welt und damit der
    Harmonie des Menschen entspricht,und das sie die meiner
    Meinung nach modischen Strömungen jeder Art überleben wird.


    Das Empfinden von "Harmonie", hängt bei tonaler Musik unmittelbar mit Dissonanzen und Konsonanzen zusammen.


    Was nun aber konsonant und was dissonant ist, ist nicht allgemein festgelegt. Es gibt kein Naturgesetz welches uns erklärt was für unser Ohr schön klingt. Man höre sich nur Mozart und direkt danach Gesualdo an. Dieses Empfindungen ist Gewöhnungssache. Häufig hört man solche Aussagen wie "Ich habe mich an Schostakovich(oder jeden beliebigen anderen Komponisten des 20. Jhds.) gewöhnt". Das passiert alles auch im kleinen. Wir passen uns an.
    Andererseits stumpfen wir auch ab. Das können wir imho auch ganz leicht an uns selbst überprüfen.
    Wer lange Zeit an einer Hauptstraße wohnt, hört kaum Nachts noch den Lärm, welcher für einen Außenstehenen aus dem Dorf unerträglich wäre. Wie sonst könnten Menschen in einer Großstadt überleben ohne wahnsinnig zu werden?



    So wie wir sozialisiert sind, so Empfinden wir. So Aufgeschlossen oder eben nicht sind wir auch.


    Ein Freund von mir ist Anhänger der harten Metallmusik. Er ist ebenso ein sehr offener Mensch, wenn es um Musik geht. So habe ich den Versuch gewagt, ihn mit meiner Musik zu konfrontieren. Ich habe entsprechend seinen Vorlieben Musik gewählt, die so wie seine Musik, auf den Prinzipien des Geräusches, Zentraltönigkeit und der Rhythmik aufbaut. Kurzum, er war sehr angetan davon! Beflügelt von diesen Erfolgen spielte ich ihm eine Arie von Bach vor, worauf er mit anschaute und meinte: "Das klingt ja alles furchtbar falsch und schief! Ist das Absicht?" Das gab mir zu denken.
    Ich gab ihm einige CDs mit zeitgenössischer Musik, aber auch mit alter Musik aus dem 20. Jhd. mit und er war nach kurzer Zeit so begeistert, dass er nach immer mehr verlangte.
    Ich hatte unbewusst für mich entdeckt, dass in der Unterhaltungsmusik der Schlüssel stecken könnte in einer neuen Begeisterung für die "Kunst"musik (mag das Wort E-musik nicht)!
    Ich musste nur herausfinden was die Leute sonst so hören und schon hatte ich einen Anhaltspunkt. Die Hörerin sanfter Popballaden bekam zB von mir eine CD mit Chormusik von Withacre und auch hier funktionierte es.
    Ich hatte tatsächlich Erfolg bei der Vermittlung zeitgenössischer Musik, die zudem teilweise freitonal (ich sage nicht "atonal", das klingt wie "assozial") ist! Und das in der Generation der zukünftigen CD Käufer!



    Das harmonische Empfinden meiner Großeltern hingegen, schien im 18./19. Jahrhundert festgefressen zu sein. Als ich fragte warum, bekam ich die lapidare Antwort: "Sowas wie deine Musik, ah das hat sich nicht gehört!". Meine Großeltern waren im russisch besetzten Polen heimisch. Da durfte nix Modernes zum klingen kommen. Die Musik sollte bodenständig sein. Und so ist bis heute eine Abneigung geblieben. Auch meine Verwandten in Deutschland hörten von 33-45, gemäß dem Parteiwillen nicht die seriallisten und großen Umwälzer. Das gaben sie dann auch an ihre Kinder weiter. Meinen Eltern fehlt somit von klein auf das Verständnis dafür.
    Ich gehöre einer neuen Generation an. Das Internet ermöglicht es mir unbegrenzten Zugang zur Musik zu haben, unabhängig von CD-Läden.



    Was ist also Harmonie? Muss diese Empfindung unbegingt an tonale Musik gekoppelt sein? Zu mir hat mal jemand gesagt: "Mozart ist Harmonie". Ich verspüre nichts dergleichen. Für mich ist Poulenc Harmonie und auch Arvo Pärt. Diese Komponisten geben mir das Gefühl am meisten.
    Und wie meine Beispiele zeigen ist für jeden Harmonie etwas anderes.


    Das heute viele Komponisten wieder tonal komponieren, ist etwas ganz normales. Die Musikgeschichte ist ein ständiges Wechselspiel von Aktion und Reaktion. Auf den Schwulst und das Geschwafel der Romantik folgt das Theoretische und Reduzierte der 2. Wiener Schule, darauf folgt nun wieder eine Gegenphase.
    Und wer hier von modischen Strömungen redet, sollte bedenken, dass die von vielen so geliebte Klassik, gerade mal 50 Jahre dauerte.

  • Hallo,


    zu den angesprochenen Kompositiontechniken habe ich folgende Meinung (ich gehe davon aus, dass mit atonal "nicht auf ein harmonisches Zentrum bezogen" gemeint ist):


    Sie sind Kompositiostechniken bzw. -grundlagen, die sich im Laufe der Musikgeschichte als geeignet erwiesen haben, Mittel zur Ausgestaltung ausgezeichneter Musikwerke zu sein; und nicht nur das: mit Hilfe dieser Techniken kamen sogar einige der schönsten Werke der abendländischen Musikliteratur zustande.


    Dass die serielle Musik "out" ist, würde ich nicht sagen, da sie nie "in" war. Sie war, so vermute ich, stets eine Außenseitermusik, ebenso wie die klassische Musik (Mozart, Haydn, Beethoven, Schubert) heute trotz sehr großen Bezugs auf Harmoniebezogenheit Außenseitermusik ist. Es steht natürlich außer Frage, dass die breite Masse "tonale" Musik bevorzugt, und davon nur die am einfachsten strukturierte.


    Eine Frage habe ich noch zum Einführungsbeitrag: Inwiefern entspricht die tonale Musik der Harmonie der Welt und der des Menschen?


    Schöne Grüße,


    Uwe

    Ich bin ein Konservativer, ich erhalte den Fortschritt. (Arnold Schönberg)

  • Zitat

    Original von Uwe Schoof


    Eine Frage habe ich noch zum einführungsbeitrag: Inwiefern entspricht die tonale Musik der Harmonie der Welt und der des Menschen?


    Uwe


    Was ist eigentlich die Harmonie der Welt und die des Menschen ? Für das, was ich da grad in den Nachrichten sah, würden sich eher die Zwölftöner anbieten, um Klimakatastrophe, Bombenattentate und vor allem die Gesundheitsreform zu vertonen.


    Gruß
    Sascha

  • Und genau aus diesem Grund sterben die Hörer der alten Musik langsam aber sicher aus. Es geht einfach auf die Dauer nicht gut, Kunst vollkommen von der Zeit abzukoppeln. Angesichts dessen kann ein "Alle Menschen werden Brüder", vielleicht kurzzeitig erfreuen aber letztlich bleibt die Frage nach dem "und weiter?". Musik ist unmittelbar an ihre Zeit gekoppelt. Das ist einfach so. Wie hat mein alter Musiklehrer gesagt: "Alles nur Geschwätz, würde Bach heute leben, würde er auch nicht Kutsche fahren"

  • ich war gestern in einem konzert moderner musik:


    Coleurs de la cite celeste - Oliver Messiaen (1963)
    Überschreiten - James Dillon (1986)
    FAMA-Szenen - Beat Furrer (2005-2007)


    ich weiss nicht, ob sie in oben angeführten kompositions-techniken
    ausgeführt waren. ich vermute aber, dass sie nicht harmonisch-tonal
    waren. es waren ganz schön schräge töne und harmonien dabei.


    ich habe bemerkt, dass das publikum wesentlich jünger als bei
    vergleichbaren "tonalen" konzerten war. der applaus war sehr stark -
    es dürfte also gefallen haben.


    wenn man jetzt bedenkt, dass das ältere "tonale" publikum mit der
    zeit weniger wird und das jüngere nachrückt, kann man schon vermuten,
    dass "atonale" musik keine temporäre erscheinung ist.


    bei mir selbst habe ich bemerkt, dass sich nach öfterem hören von
    moderner, "atonaler" musik, eine gewisse langeweile bei vorher durchaus
    gern gehörten werken einstellt bzw. der reiz, diese tonalen, harmonischen
    werke in den CD-spieler zu legen, merklich nachgelassen hat.


    faun

    die kritik ist das psychogramm des kritikers (will quadflieg)

  • Lieber MatthiasR,


    was würdest Du dann einem empfindsamen Liebhaber langsamer Sätze von ca. 1600 bis ca. 1900 an Zeitgenössichem empfehlen?


    Ich würde nämlich so langsam mal ganz gerne den Kontakt zur Jetztzeit herstellen...


    Was gleichzeitig mein Verhältnis zu den von Herbert Henn abqualifizierten Kompositionstechniken offenlegt: ich habe mich bisher noch nicht ausreichend damit beschäftigt und deswegen plagt mich so langsam ein "schlechtes Gewissen".


    Also, welche jetztzeitige Musik, ob jetzt freitonal, neotonal, genial oder sonstwie, eignet sich für Menschen, die Schuberts Dritte für seine beste Symphonie, Mozarts Ecksätze in den meisten Klavierkonzerten für eher zu aufwühlend und moderne Konzertflügel für brutale Edelstahltonschleudern halten?


    Pärt ist mir übrigens zu "esoterisch", was besseres fällt mir grad zur Chrarkterisierung nicht ein.


    Gibt es Hoffnung?


    :hello:
    Flo

    "Dekonstruktion ist Gerechtigkeit." (Jacques Derrida)

  • Zitat

    Original von MatthiasR
    Ein Freund von mir ist Anhänger der harten Metallmusik.


    Die ist ja sehr weit gefächert. Black Metal, Death Metal, Power Metal...?


    Zitat

    So habe ich den Versuch gewagt, ihn mit meiner Musik zu konfrontieren. Ich habe entsprechend seinen Vorlieben Musik gewählt, die so wie seine Musik, auf den Prinzipien des Geräusches, Zentraltönigkeit und der Rhythmik aufbaut.


    Und welche Musik wurde es dann? Höre nämlich auch Metal, vielleicht gefällt es mit darum...


    Zitat

    ch hatte unbewusst für mich entdeckt, dass in der Unterhaltungsmusik der Schlüssel stecken könnte in einer neuen Begeisterung für die "Kunst"musik (mag das Wort E-musik nicht)!


    Das Wort "Unterhaltungsmusik" finde ich auch nicht viel besser, solange es nicht gerade um James Last oder Patrick Lindner geht. Gerade harter Metal ist von den Künstlern bestimmt nicht als Unterhaltung gedacht.


    Zitat

    Auch meine Verwandten in Deutschland hörten von 33-45, gemäß dem Parteiwillen nicht die seriallisten und großen Umwälzer. Das gaben sie dann auch an ihre Kinder weiter. Meinen Eltern fehlt somit von klein auf das Verständnis dafür.


    Dafür ist diese Musik nach '45 enorm protegiert, um nicht anglizistisch zu sagen "gehypt" worden, ohne dass sie sich breite Hörerschichten hätte erschließen können.


    Zitat

    Auf den Schwulst und das Geschwafel der Romantik


    folgte das Gequietsche und Gejaule der Moderne :D

    „People may say I can't sing, but no one can ever say I didn't sing."
    Florence Foster-Jenkins (1868-1944)

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  • Salü,


    Zitat

    Original von Antracis
    Was ist eigentlich die Harmonie der Welt und die des Menschen ? Für das, was ich da grad in den Nachrichten sah, würden sich eher die Zwölftöner anbieten, um Klimakatastrophe, Bombenattentate und vor allem die Gesundheitsreform zu vertonen.


    heißt das mit anderen Worten, Du findest die heutige Welt und Musik zum :kotz:


    ?(


    Zitat

    Original von MatthiasR"Alles nur Geschwätz, würde Bach heute leben, würde er auch nicht Kutsche fahren"


    Aber sicher würde er einen geschmackvollen Untersatz fahren... :D


    Viele Grüße
    Ulli

    Die Kunst ist [...] vielleicht das Denken des Herzens.
    (Blaise Pascal, 1623-1662)

  • Zitat

    ich habe bemerkt, dass das publikum wesentlich jünger als bei
    vergleichbaren "tonalen" konzerten war. der applaus war sehr stark -
    es dürfte also gefallen haben.


    wenn man jetzt bedenkt, dass das ältere "tonale" publikum mit der
    zeit weniger wird und das jüngere nachrückt, kann man schon vermuten,
    dass "atonale" musik keine temporäre erscheinung ist.


    Genau so ist es.
    Seien wir mal ehrlich. Schaut euch mal um im Konzert! Wie alt sind die Leute neben euch, wie alt ihr selbst. Wie viele werden nachrücken?
    Es ist einfach ein schiefgelaufenes Experiment. Das beharren auf nur der alten Musik hat sich als gescheitert erwiesen. Eine Modeerscheinung der letzten 80 Jahre, die nun zu Ende geht.

  • Zitat

    Original von MatthiasR
    Genau so ist es.
    Seien wir mal ehrlich. Schaut euch mal um im Konzert! Wie alt sind die Leute neben euch, wie alt ihr selbst. Wie viele werden nachrücken?
    Es ist einfach ein schiefgelaufenes Experiment. Das beharren auf nur der alten Musik hat sich als gescheitert erwiesen.


    Mitnichten. Mir scheint es eher ein Mangel an qualifizierter Erziehung gewesen zu sein - aber Geschmack lässt sich eben nicht anerziehen... ;)


    :hello:


    Ulli

    Die Kunst ist [...] vielleicht das Denken des Herzens.
    (Blaise Pascal, 1623-1662)

  • Zitat

    Original von MatthiasR
    [Quote]
    Es ist einfach ein schiefgelaufenes Experiment. Das beharren auf nur der alten Musik hat sich als gescheitert erwiesen. Eine Modeerscheinung der letzten 80 Jahre, die nun zu Ende geht.


    Nanananana, das ist jetzt aber schon ein bisschen stark, oder?


    Was ist mit der Alte Musik-Szene? Die hat ihren Zenit doch noch nicht einmal erreicht!


    Und so fürchterlich ausgeschlossen war die nicht-alte Musik jetzt auch nicht mehr in den letzten Jahrzehnten, diese "wir sind die verfolgte Minderheit, aber gerade deswegen im Besitz der höheren Weisheit"-Haltung ist mindestens so anachronistisch wie die totale Ablehung all' dessen was über I-IV-V-I hinausgeht...


    Ich denke eher, dass wir auf eine wunderbar pluralistische Musikkultur hinsteuern.


    Aber mei, allwissend bin ich auch nicht...


    :hello:
    Flo

    "Dekonstruktion ist Gerechtigkeit." (Jacques Derrida)

  • Also, ein paar Gedanken von mir:


    1) Es gibt Dinge, wie z. B. die Schönheit eines Sonnenuntergangs, die NIE "ausgereizt" sind, und da können keine theoretische Gedanken etwas dran ändern.


    2) Vollkommene Harmonik/Tonalität, wie wir wie bei den großen Meistern schätzen, musste im Laufe der Zeit erst gefunden werden und kam nicht einfach so. Natürlich konnte niemand sagen "ab heute schreiben viel in Tonika, Dominante, Subdominante und Dur und Moll!". Man hat sich langsam daran herangetastet, anfangen mit der frühen Mehrstimmigkeit, Parallelorgani, über modale Tonarten hin zum Barock.
    Man schöpfte nun alles, was die tonale Harmonik hergab, aus. In etwa, wie wenn man eine neue innovative Erfindung in die Hand bekommt und alle Funktionen erst einmal ausprobiert.
    Nun geht man allerdings danach nicht hin, und sagt, ich kenne sie jetzt alles, jetzt zerstöre ich sie!
    Das hat man in der Musik allerdings getan. Man hat ihr das Fundament geraubt, und ein Chaos geschaffen, kein Halt, wo sich der Hörer dran binden kann, um sich zurechtzufinden. Kein modernes atonales Werk heutzutage kann man mehr verstehen, ohne zur Elite zu gehören und ein Vorwissen zu haben, oft braucht man es vom Komponisten selbst. Und wenn man es dann "verstanden" hat, stellt sich immer noch die Frage, ob es überhaupt schön ist, ob es einem gefällt, ob die Musik nicht nur den Verstand antrifft.


    3) Zwar war Musik immer an die damalige Zeit gebunden; doch es gibt heute keine einheitliche Kultur mehr, wie z. B. den Barock oder die Romantik, heute macht jeder etwas anderes - was er will. Das einzige, was die modernen Stücke gemeinsam haben und was man evtl. dem "Stil der Zeit" zuordnen könnte, ist ihre bewusste Abkehr von allem, was dem Hörer vertraut ist.

    "Das Große an der Musik von Richard Strauss ist, daß sie ein Argument darstellt und untermauert, das über alle Dogmen der Kunst - alle Fragen von Stil und Geschmack und Idiom -, über alle nichtigen, unfruchtbaren Voreingenommenheiten des Chronisten hinausgeht.Sie bietet uns das Beispiel eines Menschen, der seine eigene Zeit bereichert, indem er keiner angehört." - Glenn Gould


  • Hätte ja auch katastrophale Folgen :baeh01:

  • Zitat

    Original von rappy


    2) Vollkommene Harmonik/Tonalität, wie wir wie bei den großen Meistern schätzen, musste im Laufe der Zeit erst gefunden werden und kam nicht einfach so. Natürlich konnte niemand sagen "ab heute schreiben viel in Tonika, Dominante, Subdominante und Dur und Moll!". Man hat sich langsam daran herangetastet, anfangen mit der frühen Mehrstimmigkeit, Parallelorgani, über modale Tonarten hin zum Barock.
    Man schöpfte nun alles, was die tonale Harmonik hergab, aus. In etwa, wie wenn man eine neue innovative Erfindung in die Hand bekommt und alle Funktionen erst einmal ausprobiert.
    Nun geht man allerdings danach nicht hin, und sagt, ich kenne sie jetzt alles, jetzt zerstöre ich sie!
    Das hat man in der Musik allerdings getan. Man hat ihr das Fundament geraubt, und ein Chaos geschaffen, kein Halt, wo sich der Hörer dran binden kann, um sich zurechtzufinden. Kein modernes atonales Werk heutzutage kann man mehr verstehen, ohne zur Elite zu gehören und ein Vorwissen zu haben, oft braucht man es vom Komponisten selbst. Und wenn man es dann "verstanden" hat, stellt sich immer noch die Frage, ob es überhaupt schön ist, ob es einem gefällt, ob die Musik nicht nur den Verstand antrifft.


    Dann erkläre mir doch bitte mal, warum die indische und arabische Musik, wo doch die tonale Musik das endgültige Ziel jedes künstlerischen Strebens ist, absolut nichts mit unserem Empfinden von Harmonie gemein haben?


    Glaubst du, dass du die alte Musik verstehst?


  • Zitat

    Und genau aus diesem Grund sterben die Hörer der alten Musik langsam aber sicher aus. Es geht einfach auf die Dauer nicht gut, Kunst vollkommen von der Zeit abzukoppeln.


    Jaja, diese jungen Leute, die sich auf groovigen Parties treffen, um bei der neuesten Bernd-Alois-Zimmermann-Scheibe richtig abzugehen, oder wie meint ihr das?


    Es gibt in der von Jugendkulturen rezipierten Musik: Pop, Punk, Gothic, Techno, Metal, Hip Hop oder was auch immer so gut wie keine nicht-tonalen Stile. Allenfalls im Elektronik- oder Metal-Bereich gibt es randständige experimentelle Stilfelder wie z. B. Grindcore, die nicht als tonal zu charakterisieren sind. Ansonsten herrscht allerhöchstens modale Tonalität, aber das allermeiste spielt sich nach wie vor im Dur-Moll-Bereich ab.

    „People may say I can't sing, but no one can ever say I didn't sing."
    Florence Foster-Jenkins (1868-1944)

  • Zitat

    Original von rappy
    Kein modernes atonales Werk heutzutage kann man mehr verstehen, ohne zur Elite zu gehören und ein Vorwissen zu haben, oft braucht man es vom Komponisten selbst. Und wenn man es dann "verstanden" hat, stellt sich immer noch die Frage, ob es überhaupt schön ist, ob es einem gefällt, ob die Musik nicht nur den Verstand antrifft.


    servus rappy


    deiner allgemeinen aussage muss ich widersprechen. ich lese praktisch nie
    inhaltsangaben, programmhefte, etc. der wille bzw. die absicht des komponisten
    muss sich bei mir aus dem anhören (auch erstmalig) des werkes ergeben. kann
    sein, dass meine empfunden aussage eine andere ist, als die vom komponisten
    beabsichtige. dann hat er halt pech gehabt, falls ihm das wesentlich war ,-)


    trotzdem gefällt mir relativ oft diese musik, sie unterhält mich, während ich
    bei anerkannten, "traditionellen" komponisten das gähnen manchmal nur
    mühsam unterdrücken kann.


    faun

    die kritik ist das psychogramm des kritikers (will quadflieg)

  • Zitat

    Original von rappy
    1) Es gibt Dinge, wie z. B. die Schönheit eines Sonnenuntergangs, die NIE "ausgereizt" sind, und da können keine theoretische Gedanken etwas dran ändern.


    Das ist sicher richtig und auch mein feeling, vergleiche hier. Aber es gibt genügend Menschen dieser Welt, die den Sonnenaufgang - aus welchen Gründen auch immer - verschlafen [müssen] oder anderweitig in der Lage sind, ihn zu verpassen oder zu ignorieren.


    Jedem das Seine.


    :hello:


    Ulli

    Die Kunst ist [...] vielleicht das Denken des Herzens.
    (Blaise Pascal, 1623-1662)

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  • Zitat

    Original von DraugurJaja, diese jungen Leute, die sich auf groovigen Parties treffen, um bei der neuesten Bernd-Alois-Zimmermann-Scheibe richtig abzugehen, oder wie meint ihr das?


    servus draugur


    wiener konzerthaus - mozartsaal - zyklus klangforum


    ein ganz normaler konzertsaal, wo vorwiegend "klassische" musik aufgeführt
    wird. es wurden auch nicht die sitzreihen entfernt.


    faun

    die kritik ist das psychogramm des kritikers (will quadflieg)

  • Hallo faun, meine Darstellung mit den groovigen Parties war jetzt nicht auf dein Beispiel mit dem Konzerthaus bezogen. Ich wollte nur darstellen, dass ich das große Kommen atonaler Musik bei jungen Leuten für eine Illusion halte.

    „People may say I can't sing, but no one can ever say I didn't sing."
    Florence Foster-Jenkins (1868-1944)

  • servus draugur


    okay- das war ein missverständnis. ich wollte auch nicht ausdrücken, dass
    moderne konzertsaal musik jetzt mehr interessiert, als disco. mir ging es um
    den unterschied des publikumsalters bei moderner und traditioneller
    konzertsaal-musik.


    konzerthaus und musikverein sind sicher nicht so cool wie disco.


    faun

    die kritik ist das psychogramm des kritikers (will quadflieg)

  • Ich denke nicht, dass solche Musik "out" ist. Eine andere Frage ist, ob mir sie gefällt. Ich schließe das nicht aus, dass ich einen Weg zu solcher Musik finden werde, wenn sie mich anspricht und "schön" ist.


    Musik fasziniert den Menschen. Daher tu ich mich schwer damit, eine Musik als "out" zu bezeichnen. Der Zuhörer kann entscheiden, ob er sie mag oder nicht. Das ist immer eine subjektive Entscheidung.

    29.08.1958 - 25.06.2009
    gone too soon

  • Hallo zusammen,


    Der Verweis auf andere Musikkulturen ist sehr wichtig. Dann sieht man, daß unsere Dur-Moll-tonale abendländische Musiktradition nur ein Weg, eine Sprache gewesen ist, die aber keinen Anspruch auf eine höhere "Richtigkeit" an sich hat.
    Und doch wage ich zu behaupten, daß sie besonders ist (auch wenn andere in ihrer Weise besonders sind...).


    Musikkultur weist für mich zwei Merkmale auf: stabilisierende Kräfte und vorantreibende Kräfte. Stabilisierende kümmern sich um das Festigen gewisser Schulen und epochaler Merkmalen. Oft sind es die scheinbar unscheinbare Komponistinnen und Komponisten, die immens wichtig sind für die Identifikation und Klassifikation von Epochen und ähnlichem. Vorantreibende Kräfte sind tätig in der Avantgarde, stellen entscheidene Innovationen vor und setzen diese durch. Das ist aber auch ein gefahrvoller Weg.


    Die Musik ab dem 20. Jahrhundert hat teilweise einen Weg des Abtrennens von einer Musiktradition beschritten, der ihr nicht mehr adäquat erschien, da er angeblich unhinterfragt übernommen worden sei, und die Herausforderung und Fragestellung der Zeit nicht mehr imstande gewesen sei zu beantworten; soweit eine Ansicht.


    Meine persönliche Ansicht: Musik soll erfreuen, den Menschen helfen und sie voranbringen, sie im Innersten berühren. Auf welche Weise dies geschehen kann, ist vielseitig und individuell unterschiedlich. Tonalität oder tonale Gedanken sind in keinster Weise aufgebraucht. Jede Komponistin und jeder Komponist stand in gewisser Weise immer wieder vor der gleichen Fragestellung.


    Viele Grüße,
    Daniel

  • Hier werden wieder einmal munter Begriffe durcheinander geschmissen, um zum von der Mehrheit erwünschten (?) Schluß zu kommen: Serielle Musik ist out, nicht tonartengebundene (vulgo atonale) Musik ist out, feiern wir eine fröhliche Rückkehr zur schönen harmonischen Tonalität, am besten zu der der Mozart-Zeit, denn in Wagners harmonischer Experimentierküche hat die ganze Misere ja begonnen.


    Ich ärgere mich jetzt ein bisserl - nicht, weil es wieder einmal diese Diskussion gibt, sondern weil wirklich alles zusammengerührt wird in einen Topf, auf dem nix anderes steht als "Musik, die mir nicht gefällt, ist atonal oder seriell und daher out".


    Nun gut...


    Natürlich ist die serielle Musik nicht out.
    Ihre Gemeinheit besteht darin, daß sie sich so verwandelt hat, daß viele Hörer gar nicht merken, wenn ihnen ein Komponist serielle Verfahrensweisen serviert.
    Arvo Pärt etwa - seriell.
    Philip Glass - seriell.
    Steve Reich - seriell.


    (Möglicherweise geht jetzt der Kurzstueckmeister in die Luft - wenn ja: Ich meine die konstruktiven Grundlagen, nicht die Tonhöhenorganisation. :hello: )


    Atonale Musik out? - Natürlich ebenfalls nicht! Nur, daß die Komponisten diverse Verfahren entwickelt haben, andere Möglichkeiten von Zentrenbildung an die Stelle der Tonarten zu setzen.
    Und manche schreiben auch völlig ohne Bindung - und sind mach wie vor "in".


    Und bevor die nächste Behauptung kommt: Auch die Zwölftontechnik ist nicht "out". Sie wird nur nicht mehr als Abspulung von Reihen gehandhabt, sondern hat eine große Geschmeidigkeit gewonnen - da werden dann aus den Tonhöhenreihen Intervallreihen gewonnen, es werden Reihenteile interpoliert, Reihen fragmentiert etc. etc. Ein fröhlicher freier Umgang mit der Reihe, die nur als "out" empfunden wird, weil die Zuhörer bei vielen reihentechnisch organisierten Werken gar nicht merken, daß sie reihentechnisch organisierte Musik hören.


    Dabei bin ich der Meinung, daß auch die tonartengebundene Musik nicht ausgereizt ist.
    Aber das Tolle an der Sache: Reihentechnik, sogar serielle Verfahren und Tonalität schließen einander nicht mehr aus. Und schon darum ist nichts davon besonders "in" oder besonders "out".


    :hello:

    ...

  • Zitat

    Original von MatthiasR


    Dann erkläre mir doch bitte mal, warum die indische und arabische Musik, wo doch die tonale Musik das endgültige Ziel jedes künstlerischen Strebens ist, absolut nichts mit unserem Empfinden von Harmonie gemein haben?


    Eben. Die Modi der indischen oder anderer orientalischer Musiktraditionen (und das ist jahrhundertalte, tradierte, komplexe und raffinierte Kunstmusik, die sollte man nicht pauschal gegenüber abendländischer Musik abwerten) mit teilweise Dritteltönen (?oder so?) sind uns SEHR VIEL fremder als sog. "atonale" Musik, etwa Schönbergs, die selbstverständlich in der Tradition Bach-Beethoven-Wagner steht.


    Den Indern das Verständnis für die "Harmonie der Welt" abzusprechen, wäre arroganter Unfug!


    Und wenn man tonal in dem engeren Sinn von "funktionsharmonisch" versteht, dann trifft das auf ca. 300 von knapp 1000 Jahren abendländischer Musik zu, von 1600 bis 1900 (wobei das 17. Jhd. oft noch ziemlich unfunktional klingt, für meine an die Wiener Klassik gewohnten Ohren). Gewiß gab es eine Entwicklung zur Funktionsharmonik, aber es gab ebenso von dort aus eine Entwicklung wieder weg. Man kann nicht einfach behaupten, die eine Entwicklung sei gut, die andere schlecht gewesen.
    Dufay ist genausowenig schlechter als Mozart, weil er vor der Herrschaft von I, IV, V komponierte wie Ligeti schlechter ist, weil er später komponierte.


    Das Gegenteil zu behaupten wäre ähnlich engstirnig, wie wenn man beschließen würde, die Architektur der Renaissance sei die einzig wahre, Romanik, Gotik nur Vorstufen und alles seitdem Verfallsstufen. Oder es dürfte nur mit Backsteinen gebaut werden, nicht mit Stahlbeton, sonst sei es keine wertvolle Architektur, denn Stahlbeton ist "künstlich". Sowas kommt uns offensichtlich abstrus vor.


    Out sind meiner Ansicht nach simplizistische IN-OUT-Gegenüberstellungen, die sollte man in den Boulevard- oder "Zeitgeist"-Magazinen lassen :D


    :hello:


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Ich habe die atonale Musik keineswegs abqualifiziert.
    Ich habe nur eine provokative Frage gestellt.
    Ich selber schätze die Musik der "Neuen Wiener Schule",
    und auch vieles was danach entstand.Die Frage ist für
    mich nur : Hat diese Musik Bestand,wird sie von einer
    breiten Zuhörerschaft angenommen ? ich meine,eine
    Zuhörerschaft,die Wagner,Bruckner,Mahler,Strauss,etc.
    als Endpunkt der abendländischen Musik hören möchte ?
    Es wäre schön,wenn die atonale Musik auch eine Zukunft
    hätte,aber ich sehe sie bis jetzt nicht.


    :hello:Herbert.

    Tutto nel mondo è burla.


  • Joo, völlig meiner Meinung.


    Vermutlich kann man indische, chinesische, arabische, afrikanische etc. Musik auch als atonal betrachten, das war aber wohl überhaupt nicht gemeint. Sondern vor allem die Herren Schönberg und Co., die vielleicht in der Tradition Bachs stehen mögen, denen man es nun aber beileibe nicht anhört.


    Afrikanische Musik hat oft eine ungemein reizvollen Trommelrhythmik, die den Jazzer in mir anspricht, indische Sitarmusik ist exotisch und assoziationsstark, ebenso lösen chinesische Klänge reihenweise freundliche Assoziationen aus - arabische Musik sagt mir bisher nicht soviel, muß ja nun auch nicht - aber das alles fällt bei den 12-Tönern, die ja wohl vermutlich im Fokus des Threaderöffners waren, weg - keine Assoziationen, keine Exotik, keine irgendwas - einfach nur ein Stück Kreide, das über die Tafel kreischt.

  • Zitat

    Original von Herbert Henn
    Ich habe die atonale Musik keineswegs abqualifiziert.


    Es wäre schön,wenn die atonale Musik auch eine Zukunft
    hätte,aber ich sehe bis jetzt sie nicht.


    :hello:Herbert.


    Lieber Herbert,


    sorry, dann habe ich Dich missverstanden.


    Nix für ungut, tut mir leid!


    :hello:
    Flo

    "Dekonstruktion ist Gerechtigkeit." (Jacques Derrida)

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