Aus meiner Sicht beruht der Ruhm des Solti-Rings einerseits auf der damaligen internationalen Reputation Soltis [...]
Soweit ich mich entsinne, galt Georg Solti (damals noch kein Sir) zu Beginn des "Ring"-Projektes 1958 keinesfalls als besonders berühmter Wagner-Dirigent. Er war doch viel eher zweite Wahl, weil sich die erste Wahl als für das Culshaw vorschwebende Projekt als inkompatibel erwies: Die Rede ist natürlich von Hans Knappertsbusch, der in den 50er Jahren als der größte lebende Interpret der Musik Richard Wagners galt. Decca hatte ihn ursprünglich für diese legendär werdende Einspielung vorgesehen, es kam auch zu Probeaufnahmen des 1. Aufzuges der "Walküre" im Jahre 1957 (den 3. Akt nahm Solti ebenfalls probeweise auf; beides mittlerweile auf CD erschienen).
Jedenfalls zeigte sich allzu bald, dass Knappertsbusch nicht gewillt war, auf den "Schnickschnack" des Decca-Produzenten einzugehen. Bei seiner generellen Aversion gegen Studioarbeit hätte man sich das eigentlich denken können, aber man setzte eben zunächst auf den großen Namen. Dass Solti zum Zuge kam, ist als schwerlich auf dessen internationalen Ruf zurückzuführen. In meinen Augen eher eine Verlegenheitslösung der Decca und damals auch durchaus mit Risiken behaftet. Zur Kompensation hat man mit "Kna" dann immerhin 1958 ein paar weitere Orchesterauszüge aufgenommen, darunter ein m. E. unerreichter Wotan-Abschied mit George London, der im direkten Vergleich mit der Solti-Einspielung die großen Unterschiede zwischen diesen beiden Dirigenten zum Ausdruck bringt, die in gewisser Weise wie Tag und Nacht waren.
Ich sehe in dieser Einspielung, an der auch der Produzent John Culshaw entscheidenden Anteil hatte, tatsächlich einen Wurf für die Ewigkeit.
Das ist fraglos richtig. Er sollte ja fast eher Culshaw-"Ring" heißen. In Solti fand er einen jungen, noch nicht auf der Höhe des Ruhmes stehenden, aber vielversprechenden Dirigenten vor, der bei seinen "Mätzchen" mitmachte oder mitmachen musste. Ein Knappertsbusch hatte dergleichen nicht nötig und sprang bekanntlich ja auch ab.
Der Keilberth-Ring ist zwar vor dem Solti-Ring aufgenommen worden, aber veröffentlicht wurde er erst vor ein paar Jahren.
Eben. Das dürfen wir nicht außer Acht lassen. Von der Existenz dieser vorzüglichen Stereoaufnahmen wusste bis zu Beginn des 21. Jahrhunderts doch kaum jemand. Heute kann man Vergleiche anstellen - und die fallen m. M. n. ziemlich deutlich zugunsten von Keilberth aus. Er hat sicherlich die "ehrlichere" "Ring"-Gesamtaufnahme gemacht, authentisch und am "rechten Ort". Die Sängerbesetzung ist eigentlich durchgängig erstklassig; diejenigen, die später auch unter Solti im Studio sangen, sind hier noch frischer und besser bei Stimme (besonders Hans Hotter als Wotan/Wanderer). Das mindert den historischen Wert der Decca-Gesamtaufnahme aus Wien mitnichten, relativiert jedoch ihre Einzigartigkeit. Nur bei Keilberth in Bayreuth 1955 haben wir das "goldene Neu-Bayreuth" auf seinem Zenit in natura.
Soltis Dirigat überzeugt mich überhaupt nicht.
Das kann ich bis zu einem gewissen Grad nachvollziehen. Soltis "Ring" war vor ca. zehn Jahren mein Einstieg. Damals war ich begeistert. Mir fehlten natürlich auch die Vergleichsmöglichkeiten. Später sah ich die Sache doch kritischer. Ich habe seit langer Zeit keine der Solti-Einspielungen mehr komplett gehört. Vor ein paar Monaten hörte ich mal wieder hinein und war wirklich erstaunt von der enorm guten Klangqualität. Zumindest in der Hinsicht macht diesem "Ring" wohl kaum jemand etwas vor. Die "Effekthascherei" sehe ich gelassener. Z. B. habe ich noch keine überzeugendere Lösung des Fafner in der "Drachenkampf-Szene" gehört als bei Solti. Kurt Böhme klingt hier, sicherlich durch technische Raffinessen ermöglicht, einfach unnachahmlich adäquat. Ich wiederhole mich, aber perfekt wäre diese Produktion für mich mit Knappertsbusch gewesen. Solti war ein sehr guter Wagner-Dirigent, das steht völlig außer Frage, aber das Exzeptionelle finde ich in keiner seiner Wagner-Einspielungen, von denen ich neben dem "Ring" den "Tannhäuser" als die gelungenste erachte.