Die allerallertraurigste Musik

  • Der Schluss-Satz von Tschaikowskis Sechster Sinfonie h-moll mit dem Beinamen "Pathetique".


    Da gebe ich Dir absolut Recht. Besonders durch den extremen Kontrast zwischem dem marschartigen dritten Satz und dann dem totalen und abrupten Bruch im Finalsatz. Ich muss zugeben, dass ich den dritten Satz deutlich öfter höre. Er ist sogar mein persönlicher Gradmesser bei der "Pathétique", den ich bei jeder neuen Aufnahme zuerst teste. Fürs Finale brauche ich hingegen die richtige Stimmung. Das dauert ja auch deutlich länger, am extremsten wohl in der wahnwitzigen späten Aufnahme von Bernstein, die ich noch immer in höchsten Ehren halte. Live habe ich das einmal mit dem Mariinskij-Orchester unter Gergiev hören dürfen. Das war schon packend sondergleichen. Nach dem letzten Takt über eine Minute absolutes Innehalten. Das ist so ein Werk, wo sofortiger Applaus alles zerstören würde.

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões


  • Das kann ich nicht ganz nachvollziehen, lieber Bertarido. Ich studiere gerade zum zweiten Male das Fauré-Requiem mit meinem zweiten Chor ein, mit meinem Stammchor habe ich es schon (vor 18 Jahren) aufgeführt (als Chortenor), und ich habe das Fauré-Requiem als tröstliche Musik kennengelernt, ähnlich wie das Brahms-Requiem (jedenfalls große Teile davon).
    Gerade das Pie Jesu ist m. E. ein elysicher, trostspendender Gesang, der mich, um auf einen weiter unten angesiedelten Beitrag von Alfred Bezug zu nehmen, keineswegs von einem traurigen Zustand in einen noch traurigeren versetzt, sondern der mir Trost spendet. Wie Fauré diese Bitte an den barmherzigen Jesu, den Toten die ewige Ruhe zu geben, in Noten setzt, kann mich nur trösten, keinesfalls aber traurig machen.


    Lieber Willi, ich gebe Dir Recht, dass der Charakter des Fauré-Requiems ein eher tröstlicher ist, im Gegensatz zu vielen anderen Requiems, die vor allem den Schrecken des Jüngsten Gerichts in den Mittelpunkt stellen. Dennoch bleibt es eine Totenmesse, die schon per se ein Stück der Trauer ist. Jedenfalls dann, wenn man wie ich nicht an das Versprechen eines ewigen Lebens zu glauben vermag. Und das "Pie Jesu", obwohl es einen barmherzigen Jesus anruft, verheißt letztlich doch nur die ewige Ruhe des Todes. Auch die Musik wirkt auf mich sehr elegisch und traurig. Das gleiche gilt für Brahms' "Deutsches Requiem", wenn ich an Stücke wir "Denn alles Fleisch, es ist wie Gras" oder "Herr, lehre doch mich" denke. Da sehe ich nur die Vergänglichkeit alles Lebens, keinen Trost.


    Wie auch andere hier genannte Beispiele zeigen, ist die Wirkung von Musik offenbar individuell sehr unterschiedlich und kaum objektivierbar. Der Schluss-Satz von Tschaikowskis "Pathetique" hat mich beispielsweise nie berühren können, diese Musik finde ich - im negativen Wortsinne - pathetisch. Und ganz besonders schlimm ist das Pathos in der genannten Bernstein-Aufnahme. Ich schätze diesen Dirigenten außerordentlich, aber bei der "Pathetique" trifft Bernsteins Hang zur Emotionalität, der bei Mahler oder Beethoven zu herausragenden Interpretationen geführt hat, auf eine ohnehin schon sentimentale Musik. Das Ergebnis ist für mich kaum hörbar.

    Der Traum ist aus, allein die Nacht noch nicht.

  • Das gleiche gilt für Brahms' "Deutsches Requiem", wenn ich an Stücke wir "Denn alles Fleisch, es ist wie Gras" oder "Herr, lehre doch mich" denke. Da sehe ich nur die Vergänglichkeit alles Lebens, keinen Trost.


    Vielleicht solltest du diese Sätze mal komplett hören! :D


    Und zu dem, was du über Tschaikowsky, seine letzte Sinfonie und deren Schluss-Satz geschrieben hast, äußere ich mich jetzt lieber nicht...

    Beste Grüße vom "Stimmenliebhaber"


  • Da gebe ich Dir absolut Recht. Besonders durch den extremen Kontrast zwischem dem marschartigen dritten Satz und dann dem totalen und abrupten Bruch im Finalsatz. Das ist so ein Werk, wo sofortiger Applaus alles zerstören würde.


    Genau, da ich stimme ich dir zu, wenn ich auch andere Aufnahmen favorisiere, aber der Übergang vom 3. zum 4. Satz gleicht einem Schockerlebnis. Leider erlebe ich es immer wieder, dass nach dem Schluss des 3. Satzes ein frenetischer Jubel ausbricht. Das passierte selbst beim Konzert der Berliner Phiharmoniker mit Barenboim vor einer Woche. Man denkt, da sitzt ein gebildetes Publikum - weit gefehlt!
    :hello:

    Wenn schon nicht HIP, dann wenigstens TOP

  • Genau, da ich stimme ich dir zu, wenn ich auch andere Aufnahmen favorisiere, aber der Übergang vom 3. zum 4. Satz gleicht einem Schockerlebnis.


    Das eigentliche Schockerlebnis für mich ist dabei nicht der Übergang vom 3. zum 4. Satz, sondern das Ende selbst - man hat doch aus Erfahrung immer die Erwartung, dass da noch eine Aufhellung, Versöhnung kommt, aber hier: Nichts, nur größte Trostlosigkeit am Ende.


    Bei Thielemans Pathetique 2012 in der Phlharmonie herrschte nach dem Verklingen auch eine gefühlte Ewigkeit andächtiges Schweigen. Es gab auch keinen Applaus nach dem 3. Satz. Ein wenig kann der Dirigent so etwas ja auch steuern und sollte es auch.

    Beste Grüße vom "Stimmenliebhaber"

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  • Bei Thielemans Pathetique 2012 in der Phlharmonie herrschte nach dem Verklingen auch eine gefühlte Ewigkeit andächtiges Schweigen. Es gab auch keinen Applaus nach dem 3. Satz. Ein wenig kann der Dirigent so etwas ja auch steuern und sollte es auch.


    Z. B., indem er quasi attaca sofort weiterdirigiert. Habe ich so schon öfter gehört.


    Wobei die "Unsitte", nach dem dritten Satz zu applaudieren, offenbar schon uralt ist. Auch in "historischen" Aufnahmen vernimmt man das des Öfteren. Und in einem anderen Thread hier wurde die "Pathétique" auch als eine der wenigen Ausnahmen angeführt, wo der Applaus zwischen den Sätzen, konkret eben nach dem dritten, durchaus akzeptiert würde. Vielleicht auch als Kontrast zum Finale, nach dem sich ein Applaus eigentlich gänzlich verbietet.

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    – Luís de Camões

  • ................................niemals aber möchte ich Musik hören um mich in eine miesere Stimmung zu versetzen, als jene die ich ohnedies des öfteren habe. ..........................
    mit freundlichen Grüßen aus Wien
    Alfred


    Nun: „similia similibus curentur“. Entsprechend sind auch die Empfehlungen von Rueger in seiner "musikalischen Hausapotheke" ;)

    res severa verum gaudium


    Herzliche Grüße aus Sachsen
    Misha

  • Was ist für Euch die traurigste Musik?

    erhebliches Traurigkeitspotenzial


    Ich habe den Thread bisher verfolgt, ohne dass ich das Bedürfnis gefühlt habe, selber etwas dazu zu sagen.


    Oft aber kam mir die Frage, ist die genannte Musik wirklich traurig?
    Höre ich da nicht vielmehr Kummer, Schwermut, Melancholie, Niedergeschlagenheit, Verzweiflung, Verzagtheit, Schmerz, Hoffnungslosigkeit, Resignation?
    Womöglich Weltschmerz?
    Zumindest ich höre etwa in den Schlusssatz von Tschaikowskis 6. Sinfonie eher solche Gefühls- und Seelenzustände als Trauer!
    Und bei vielen Interpretationen höre ich auch immer etwas von Sentimentalität und Selbstmitleid.
    Und in Cavaradossis Arie im 3. Akt der Tosca, in "Denn alles Fleisch es ist wie Gras" von Brahms oder im "Pie Jesu" von Fauré kann ich vieles hören aber kaum Trauer!


    Andere der genannten Musikstücke kann ich eher als Ausdruck von Trauer empfinden.


    Aber es scheint mir jetzt nicht sinnvoll, nun zu jedem einzelnen Beispiel noch mal Stellung zu nehmen - zumal ja jeder auch Musik anders hört und empfindet.
    Deshalb beschränke ich mich mal darauf, ein Werk zu nennen, dass mir spontan einfiel, als ich die Frage nach trauriger Musik las:


    Arvo Pärt: Cantus in memoriam of Benjamin Britten


    In dieser ungemein schlichten und transparenten Musik klingt für mich hinter der Klage eine tief Trauer, die von der Würde und Reinheit des Gefühls zeugt!




    Caruso41

    ;) - ;) - ;)


    Wer Rechtschreibfehler findet, darf sie behalten!

  • Nein, ich höre nicht Traurigkeit etc.! Ich spüre sie, sie entsteht in mir, sie wird von der Musik bewirkt. sie verbindet sich mit meiner eigenen, reinigt und veredelt sie.


    Jedenfalls irgendwie so....

    ich weiß, dass ich nichts weiß. Aber ganz sicher bin ich mir da nicht.

  • Hallo!


    Ich muss schon auch sagen, eine traurige Musik ist für mich etwas anderes, als eine tragische. Traurig ist sie für mich dann, wenn ich glaube in der Komposition einen Verlustschmerz des Komponisten zu verspüren.


    Gruß WoKa

    "Die Musik drückt das aus, was nicht gesagt werden kann und worüber Schweigen unmöglich ist."


    Victor Hugo

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  • Ich habe die Frage so verstanden, dass wir Musikstücke nennen sollen, die in uns ein Gefühl der Trauer evozieren. Das setzt nicht voraus, dass der Komponist die Absicht hatte, eine Trauermusik zu schreiben oder - im Falle einer Oper oder eines Liedes - der singende Protagonist selbst Trauer verspürt und zum Ausdruck bringt. Cavaradossi drückt im 3. Akt in seiner berühmten Arie sicher nicht Trauer aus, er ist vielmehr verzweifelt, nun bald sterben zu müssen, wo er doch seine Liebe zu Tosca nie so intensiv gespürt hat wie gerade in diesem Moment. Das anzuhören löst jedoch in mir eine tiefe Trauer aus, so dass ich diese Arie nie hören kann, ohne weinen zu müssen. Ähnliches gilt auch für andere der von mir genannten Musikstücke.


    Aber vielleicht war es auch ganz anders gemeint. :untertauch:

    Der Traum ist aus, allein die Nacht noch nicht.

  • Ich muss schon auch sagen, eine traurige Musik ist für mich etwas anderes, als eine tragische.


    Finde ich auch, lieber WoKa. Das Finale von Tschaikowskys 6. oder Schostakowitschs 8. sind für mich beklemmend (Bernstein hat Tschaikowskys Finale glaube ich niederschmetternd genannt). Abgründig traurig sind für mich Mahlers Kindertotenlieder oder der "Leiermann" aus Schuberts Winterreise.


    Schöne Grüße
    Holger

  • Ich muss schon auch sagen, eine traurige Musik ist für mich etwas anderes, als eine tragische. Traurig ist sie für mich dann, wenn ich glaube in der Komposition einen Verlustschmerz des Komponisten zu verspüren.

    Ja. lieber WoKa, so sehe ich das eigentlich auch!
    Trauer ist ein Gefühl, das durch Verlusterfahrung entsteht.
    Darum habe ich auch den Cantus von Pärt aufgeführt.
    Man hätte etwa auch Goreckis 3. Sinfonie oder Mahlers Kindertotenlieder (und natürlich noch vieles andere mehr nennen können), wo explizit Trauer um Verstorbene beziehungsweise Ermordete ausgedrückt wird!
    "Denn ihr habt nun Traurigkeit!" - So heisst es ja in der Bibel wenn der Toten gedacht wird - und (diesem Text folgend) auch bei Brahms im Deutschen Requiem!


    Interessanterweise geht auch Jean Paul davon aus, dass Trauer eigentlich in einem Zusammenhang mit dem Verlust von Menschen entsteht, die einem nahe gestanden haben. Und dann spricht er davon, dass man auch so etwas wie Trauer darüber empfinden könne, dass man selber so unzulänglich sei, ja dass die ganze Welt jämmerlich sei - und das nennt er dann Weltschmerz!
    So scheint mir zumindest in der deutschen Romantik Trauer ein Gefühl zu sein, das zur Entgrenzung drängt. Einige der genannten Musikbeispiele machen das ja anschaulich! Die Trauermusiken des Barock etwa sind etwas ganz anderes...
    Aber:



    Aber vielleicht war es auch ganz anders gemeint

    Ja vielleicht!
    Zumindest Klaus 2, der ja den Thread eröffnet hat, sagt ausdrücklich:



    Nein, ich höre nicht Traurigkeit etc.! Ich spüre sie, sie entsteht in mir, sie wird von der Musik bewirkt. sie verbindet sich mit meiner eigenen, reinigt und veredelt sie.

    Dass diese Tendenz zur Entgrenzung des Gefühls nicht mit der Romantik erledigt ist, scheint mir offensichtlich!
    Und Bertarido drückt das ja sehr direkt aus:



    Cavaradossi drückt im 3. Akt in seiner berühmten Arie sicher nicht Trauer aus, er ist vielmehr verzweifelt, nun bald sterben zu müssen, wo er doch seine Liebe zu Tosca nie so intensiv gespürt hat wie gerade in diesem Moment. Das anzuhören löst jedoch in mir eine tiefe Trauer aus, so dass ich diese Arie nie hören kann, ohne weinen zu müssen. Ähnliches gilt auch für andere der von mir genannten Musikstücke.

    Es scheint mir kaum möglich und schon gar nicht sinnvoll, eine enge Umschreibung dessen zu versuchen, was man als traurige Musik bezeichnen sollte.
    Da wird jeder seine eigene Vorstellung haben. Und das ist gut so.
    Für mich wäre allerdings Trauer als Gefühlszustand immer etwas anderes als Kummer, Schwermut, Melancholie, Niedergeschlagenheit, Verzweiflung, Verzagtheit, Schmerz, Hoffnungslosigkeit, Resignation oder gar Weltschmerz.


    Und um doch noch mal auf Cavaradossi zurück zu kommen:
    Von seiner Arie gibt es leider, leider, leider sehr viele Aufnahmen, bei denen ich auch Trauer empfinde, weil Qualitätsstandards der Gesangskunst verloren gegangen sind! Da könnte ich also auch heulen - einfach weil so grausig schlecht gesungen wird.
    Da nenne ich jetzt keine Namen, da ich ja keinen Streit suchen will.


    Nichts für ungut!


    Beste Grüße
    Caruso41

    ;) - ;) - ;)


    Wer Rechtschreibfehler findet, darf sie behalten!

  • Trauer ist ein Gefühl, das durch Verlusterfahrung entsteht......Mahlers Kindertotenlieder


    Hallo Caruso41,


    welche Verlusterfahrung hatte wohl Mahler? Meinst Du die über seine eigenen Geschwister? Warum hat er aber dann Kindertotengedichte zu Kindertotenlieder vertont?


    Viele Grüße
    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • welche Verlusterfahrung hatte wohl Mahler? Meinst Du die über seine eigenen Geschwister? Warum hat er aber dann Kindertotengedichte zu Kindertotenlieder vertont?

    Hallo Horst,


    dass der Trauer eine Verlusterfahrung zugrundeliegt, ist doch eigentlich evident! Je nachdem, um welchen Verlust es sich handelt, ist auch die Trauer eine andere: Trauer um eine verpaßte Lebenschance, die Heimat, die man verloren hat, einen Besitz, die Ehre, ein glückliches und unbeschwertes Leben, einen geliebten Menschen. Biographisch hatte Mahler von Jugend an solche Verlusterfahrungen. Aber für die Musik ist letztlich etnscheidend, ob sie solche Trauer auszudrücken vermag. Ich höre ja die Kindertotenlieder nicht als tönende Biographie. Es sind nicht Mahlers Gefühle, die da von der Musik zum Ausdruck gebracht werden, sondern es ist die Trauer als solche. Nur die hören wir aus der Musik heraus. Schon auf der Ebene der Dichtung wird dieser Übergang ins Allgemeinmenschliche vollzogen. Auch Rückert redet nicht von seiner "persönlichen" Verlusterfahrung, welche diese Gedichte motiviert hat. In der Kunst werden schließlich keine "realen" Erlebnisse zum Ausdruck gebracht, sondern fiktive, was sich nicht zuletzt daran zeigt.


    Schöne Grüße
    Holger

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  • Auch Rückert redet nicht von seiner "persönlichen" Verlusterfahrung


    Das mag sein, aber er hatte die persönliche Erfahrung von Kindertod - und darum sind seine Gedichte echt.


    Viele Grüße
    zweiterbass



    Nachsatz: Hallo Holger, gilt Deine Begründung zu Mahler auch bei textbasierter Musik?

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • DIE allertraurigste Musik ist wohl schwer zu erkennen, zumal ich solche auf Trauer ausgelegten Stücke wie die Kindertotenlieder, Requien oder In-Memoriam-Stücke nicht in die Betrachtung mit aufnehmen würde, weil das Thema natürlich auf die Emotionen abfärbt und die Musik hinsichtlich ihres Gehalts an Traurigkeit nicht für sich allein steht.


    Ein gerüttelt Maß an Traurigkeit vermeine ich in so manchen langsamen Sätzen der Concerti grossi op. 6 von Händel zu erkennen, insbesondere die Musette aus op. 6 Nr. 6 finde ich abgrundtief traurig, vor allem wenn sie langsam gespielt wird, und nicht so schnell und federnd wie bei Marriner, sondern in etwa wie hier



    von ungefähr 11:06 - 13:00

  • dann schreibe ich auch mal etwas dazu.


    Über das Werk, das ich meine, habe ich einmal gelesen, es sei 'die traurigste Musik, die jemals geschrieben wurde'. Dieses Werk macht mich aber nicht traurig, aber es ergreift mich immer wieder sehr, so dass ich manchmal auch hinterher noch minutenlang dasitze und es nachwirken lasse.


    Gemeint sind die Metamorphosen von Richard Strauss. Mein absolutes Lieblingswerk.


    Bevorzugt in der Interpretation von Prévin oder Karajan.

    Es wird immer weitergehn, Musik als Träger von Ideen.

    Kraftwerk

  • Das mag sein, aber er hatte die persönliche Erfahrung von Kindertod - und darum sind seine Gedichte echt.

    Hallo Horst,


    wenn Du damit sagen willst, dass Mahler keine Erfahrung vom Kindstod gehabt hätte, ist das biographisch einfach falsch. Mahlers Mutter, Marie Mahler, verlor fünf(!) ihrer Kinder bereits in frühen Jahren. Dann starb ihr noch ein sechstes Kind, ausgerechnet Mahlers jüngerer, sein Lieblingsbruder(!) Ernst, im Alter von 13 Jahren. Mahler hat das sehr mitgenommen. Alma Mahler nannte den Tod des Bruders "das erste grausame Erlebnis in Gustav Mahlers Kindheit". Rückerts Gedichte, die Mahler vertonte, sprechen nicht zuletzt von der Mutter "Wenn dein Mütterlein, kommt zur Tür herein...", die um ihr Kind trauert. Natürlich wird Mahler hier auch das Bild seiner eigenen Mutter vor Augen gehabt haben, die von den Biographen als eine leidgeprüfte Frau beschrieben wird. Mahler hatte - anders als zum Vater - zu ihr eine besonders enge Beziehung. Ihm hier also Einfühlungsvermögen rundweg abzusprechen mangels eigener Erfahrung, empfinde ich von daher als völlig abwegig und reichlich befremdlich. Ich kenne kaum einen Komponisten, der wirklich tiefe Trauer so authentisch auszudrücken vermag wie Mahler. Sie durchzieht seine ganze Musik, weil das Trauern offenbar zu Mahlers Existenz gehörte, ihn von frühester Jugend an geprägt hat.



    Nachsatz: Hallo Holger, gilt Deine Begründung zu Mahler auch bei textbasierter Musik?

    Das Beispiel Rückert zeigt doch, dass der persönliche "Anlaß" (der Diphterietod von Rückerts Töchtern) gar nicht der Inhalt der Kindertotenlieder ist. Zum Ausdruck gebracht wird vielmehr eine allgemeinmenschliche Befindlichkeit - Trauer im Zeichen des Abschieds von zu früh Verstorbenen. Was die Musik angeht: Genau so wenig wie Musik "Liebe" zu einer bestimmten Person ausdrücken kann, kann sie das auch im Falle der Trauer. Schumanns Fantasie op. 17 war für Schumann selbst der Ausdruck seiner Liebe zu Clara Wieck - aber auch nur für ihn. Hier hat Schopenhauer das Wesentliche getroffen: Musikalische Gefühle bleiben wesensnotwendig "abstrakt", haben weder "Anlaß" noch "Gegenstand".


    Schöne Grüße
    Holger

  • Der „persönliche Anlass“ ist sehr wohl der Inhalt der Kindertotenlieder Rückerts. Es handelt sich um etwa 400 Gedichte unterschiedlicher Länge, die 1834 entstanden. Rückert verarbeitete darin „den Verlust zweier kleiner Lieblinge, die um Neujahr 1834 dem Scharlachfieber erlagen“.
    Er schrieb täglich drei bis vier Gedichte, weil er nur auf diese Weise glaubte, mit seiner Verlust-Erfahrung fertig werden zu können. Die Gedichte waren von ihm nicht als lyrische Kunstwerke gedacht, die später veröffentlicht werden sollten. Es handelt sich – psychologisch betrachtet – um Produkte einer Selbst-Therapie.
    Die Gedichte wurden erst 1872 durch Rückerts Sohn veröffentlicht.

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  • wenn Du damit sagen willst, dass Mahler keine Erfahrung vom Kindstod gehabt hätte, ist das biographisch einfach falsch. Mahlers Mutter, Marie Mahler, verlor fünf (!) ihrer Kinder bereits in frühen Jahren. Dann starb ihr noch ein sechstes Kind, ausgerechnet Mahlers jüngerer, sein Lieblingsbruder (!) Ernst, im Alter von 13 Jahren. Mahler hat das sehr mitgenommen. Alma Mahler nannte den Tod des Bruders "das erste grausame Erlebnis in Gustav Mahlers Kindheit". [...] Mahler [...] hier also Einfühlungsvermögen rundweg abzusprechen mangels eigener Erfahrung, empfinde ich von daher als völlig abwegig und reichlich befremdlich.


    Wo, bitte, schrieb zweiterbass derartiges?

  • Der „persönliche Anlass“ ist sehr wohl der Inhalt der Kindertotenlieder Rückerts.


    In den Gedichten, die Mahler ausgewählt hat, gibt es dafür keinen Beleg. Rückert spricht eben nicht von seinen Kindern, von seinen Liebsten usw., thematisiert nicht den unglücklichen Moment, die besonderen Umstände, die Krankheit usw., die nur er so erleben konnte. Das lyrische Ich ist nicht die "reale" (empirische) Person Friedrich Rückert. Da anders als heute der Kindstod damals (leider) nichts Ungewöhnliches war, ist das eine exemplarische Erfahrung, mit der sich so gut wie jeder identifizieren konnte. Das Besondere wird ins Allgemeine gehoben.

  • Die Feststellung von Dr. Holger Kaletha:
    Auch Rückert redet nicht von seiner "persönlichen" Verlusterfahrung“


    ...ist objektiv unzutreffend, - wenn man sie auf das ganze Corpus von Rückerts „Kindertotenlieder“ anwendet. Das zeigt selbst ein kurzer Blick in dieses. Rückert hat diese lyrische Artikulation seiner persönlichen Verlusterfahrung gleich am Anfang sogar gleichsam programmatisch formuliert, - in diesem Gedicht nämlich:


    In meine häuslichen Lieder,
    Das Tagebuch meiner Lust,
    Schrieb ich mit Freuden bewußt
    Nur Freudengewinnste nieder,
    Nie schrieb ich einen Verlust
    In meine häuslichen Lieder.


    In meine häuslichen Lieder
    Schreib' ich nun euern Verlust.
    So hat sich schließen gemußt
    Die Rechnung! und wohl nicht wieder
    Schreib' ich sobald eine Lust
    In meine häuslichen Lieder.


    ,Zweiterbass hatte also sehr wohl recht, wenn er einwandte:
    „…aber er hatte die persönliche Erfahrung von Kindertod - und darum sind seine Gedichte echt.“


    Mahler hat mit sicherem Griff solche Gedichte ausgewählt, in denen es Rückert – mehr oder weniger stark – gelang, von der subjektiven Ebene seiner Leiderfahrung auf eine gleichsam allgemeinmenschliche abzuheben. Mit seiner Musik hat er diesen Prozess der künstlerischen Objektivierung, auf den Rückert gar nicht abzielte, dann fortgesetzt und gleichsam vollendet.
    Rückert selbst hat seine "Kindertotenlieder" als höchst subjektive, nicht für die Veröffentlichung bestimmte lyrische Aussagen verstanden, - "häusliche Lieder" eben. Und so lesen sich die meisten von ihnen auch.


    Bemerkenswert finde ich übrigens die Bemerkung von Christian Gerhaher, Mahlers "Kindertotenlieder" betreffend. Sie reflektiert diesen Sachverhalt auf feinsinnige Weise:
    "Dieser Zyklus ist in seiner Thematik einzigartig und, wie ich finde, auch problematisch. Was hier geschieht und womit man hier konfrontiert wird, ist in meinen Augen am Rande der Indiskretion. (...) Ich singe diesen Zyklus oft, weil er so großartig ist, aber ich habe immer ein schlechtes Gefühl dabei...".

  • Hallo Horst,
    wenn Du damit sagen willst, dass Mahler keine Erfahrung vom Kindstod gehabt hätte, ist das biographisch einfach falsch. Mahlers Mutter, Marie Mahler, verlor fünf (!) ihrer Kinder bereits in frühen Jahren. Dann starb ihr noch ein sechstes Kind, ausgerechnet Mahlers jüngerer, sein Lieblingsbruder (!) Ernst, im Alter von 13 Jahren. Mahler hat das sehr mitgenommen.


    Hallo Holger,


    ich meine mich nicht zu täuschen, dass Du es meist sehr genau nimmst. Warum unterscheidest Du dann hier nicht zwischen Kindstod und Geschwistertod?


    Viele Grüße
    zweiterbass

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  • Die Feststellung von Dr. Holger Kaletha:
    „Auch Rückert redet nicht von seiner "persönlichen" Verlusterfahrung“


    ...ist objektiv unzutreffend, - wenn man sie auf das ganze Corpus von Rückerts „Kindertotenlieder“ anwendet.

    ... ich hatte mich auf die von Mahler vertonten Gedichte bezogen!



    ,Zweiterbass hatte also sehr wohl recht, wenn er einwandte:
    „…aber er hatte die persönliche Erfahrung von Kindertod - und darum sind seine Gedichte echt.“

    Zweiterbass meinte (das liest man heraus, wenn man eine Diskussion im Kopf behalten hat, die wir mit ihm zu dem Thema schon einmal geführt hatten), dass Rückert authentisch sei im Unterschied zu Mahler, der (angeblich) über keine solche persönliche Erfahrung verfügt hätte.



    Mahler hat mit sicherem Griff solche Gedichte ausgewählt, in denen es Rückert – mehr oder weniger stark – gelang, von der subjektiven Ebene seiner Leiderfahrung auf eine gleichsam allgemeinmenschliche abzuheben. Mit seiner Musik hat er diesen Prozess der künstlerischen Objektivierung, auf den Rückert gar nicht abzielte, dann fortgesetzt und gleichsam vollendet.

    Das kann man in der Tat so sehen. Was die "Intention" von Rückert überhaupt war, darf man aber ruhig beiseite stellen, wenn es um das Verständnis des jeweils einzelne Gedichtes geht, in dem eine solche Hebung ins Allgemeinmenschliche vollzogen wird.

  • ich meine mich nicht zu täuschen, dass Du es meist sehr genau nimmst. Warum unterscheidest Du dann hier nicht zwischen Kindstod und Geschwistertod?


    Hallo Horst,


    warum sollte man das denn tun wollen? Wenn man ganz genau wäre, müßte man auch unterscheiden: Ist es ein älteres Kind, ein totgeborener Säugling usw. Wo fängt man also an und wo hört man auf mit der Genauigkeit? Sehr gute Bekannte von mir hatten zwei ihrer Kinder verloren - eines in jungen Jahren und dann später ein erwachsenes durch einen Autounfall (Verschüttung durch Lawine). Das ist tragisch. Obwohl es sich in beiden Fällen um den Verlust eines Kindes handelt, sind die Erfahrungen des Verlustes auf der persönlichen Ebene im Grunde unvergleichlich. Für diese Menschen sind das zwei ganz verschiedene Trauergeschichten. Entscheidend ist aber doch für die Kunst - die literarische und musikalische Umsetzung - die existenzielle Dimension von Trauer in ihren Grundzügen des Schmerzes und der sich darauf beziehenden Trauerarbeit, die man in Rückerts Texten auch findet - mit den dazu gehörigen ziemlich hilflosen Versuchen der Tröstung und Theodizee. In dieser Hinsicht sind solche Erfahrungen absolut vergleichbar. Menschen, die solche vergleichbaren Erfahrungen haben, können sich in das Schicksal des Anderen deshalb sehr gut einfühlen. Das gilt eben auch für Mahler. Sonst - ohne diese Fähigkeit zur Einfühlung und Hebung ins Allgemeinmenschliche - bleibt man angesichts solcher erschütternden Erlebnisse sprachlos: individuum est ineffabile.


    Schöne Grüße
    Holger

  • Liebe Freunde der allerallertraurigsten Musik,


    da ich auf Tour war, um mir einige Live-Musik-Erlebnisse zu gönnen, habe ich gar nicht weiter an der Diskussion teilhaben können, die ich ja irgendwie selber angestossen habe. Jetzt macht es mir keinen Sinn mehr, auf die an mich gerichteten Fragen einzugehen. Sie sind ja schon von Zweiterbass, Holger Kaletha und anderen aufgenommen worden. Und zu der Debatte über den persönlichen Erfahrungshintergrund der Kindentotenlieder weiss ich weiter nichts Erhellendes oder Klärendes beizutragen.


    Deshalb möchte ich - ganz einfach - noch mal ein Musikstück nennen, das mir in den Sinn kommt, wenn von Trauer in der Musik die Rede ist!
    Der Komponist hat auch gerade einen ganz unmittelbaren Verlust erlitten: Sein König und großzügiger Gönner ist ermordet worden!


    Joseph Martin Kraus: Symphony in c moll, vb 148 "symphonie funèbre"
    Sie wurde für die Beerdigung des schwedischen Königs Gustav III im Jahre 1792 komponiert! (Das ist der König, dessen Ermordung auf einem Maskenball Auber und Verdi in ihren Opern thematisiert haben!)
    Vier langsame Sätze! Sehr eigenständig orchestriert!
    Beide Ecksätze sind dramatisch mit großartigen Aplomb und fast theatralischen Effekten!
    Die Trauer wird hier geradezu ausgestellt!
    Für mich ist das ein ganz eindrucksvolles Werk, in dem das Pathos und die Affekte des Barock auf ungewöhnliche Art verknüpft sind mit einer neuen Empfindsamkeit!
    Hinreißend! Ich liebe besonders die Aufnahme des Schwedischen Kammerorchesters unter Petter Sundkvist!

    Aber die gibt es wohl nicht auf Youtube!
    Die Interpretation von Parkman kann man aber auch anhören:


    A6S5_AKYZJo?t



    Caruso41

    ;) - ;) - ;)


    Wer Rechtschreibfehler findet, darf sie behalten!

  • Ich habe die Frage so verstanden, dass wir Musikstücke nennen sollen, die in uns ein Gefühl der Trauer evozieren. Das setzt nicht voraus, dass der Komponist die Absicht hatte, eine Trauermusik zu schreiben


    Das verstehe ich auch so. Und deshalb ist mir jetzt noch ein Stück eingefallen, bei dem ich schon immer eine unglaubliche Traurigkeit verspüre. Das ist das Andante con moto aus dem Streichquartett "Der Tod und das Mädchen" von Franz Schubert. Ich habe nur diese eine Aufnahme:



    Ergreifend! Das wünsche ich, soll zu meiner Beerdigung gespielt werden.
    :hello:

    Wenn schon nicht HIP, dann wenigstens TOP

  • Eine der traurigsten Szenen der Operngeschichte ist die Szene des Spielmanns (Akt III der Königskinder von Humperdinck), der verzweifelt nach den Königskindern sucht.


    Meine grauen Täublein....
    Hast sie auch nicht geseh´n?
    In Feld oder Wald, Stein oder Gesträuch,
    sah keines von euch
    die verstoßnen Königskinder....


    Wohin bist du gegangen,
    o Königstochter mein,
    in treuer Lieb umfangen,
    vom trauten Buhlen dein?
    Seit du von uns gegangen,
    sind Wald und Fluren leer,
    kein Blümlein will mehr prangen,
    kein Vöglein singen mehr.



    Von den Spielmännern Fischer-Dieskau, Hermann Prey und Dietrich Henschel singt es für mich Hermann Prey am ergreifendsten.

    Canada is the US running by the Swiss (Richard Ford)

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