Teodor Currentzis, Exzentriker aus Griechenland

  • Lieber Holger,


    ich nehme an, dass Dein Beitrag als ernstgemeinte Antwort auf mein Problem verstanden werden sollte. Mir stellt er sich leider eher als rhetorische Antwort dar. Das möchte ich begründen


    da hast Du erhelbliche Rezeptionsschwierigkeiten! ^^

    Das hatte ich ja gerade selbst gesagt. Was der Smiley mir sagen soll, möchte ich gar nicht untersuchen.


    Gerade die 6. Symphonie ist so gar nicht "potpourrihaft",

    Mein Eindruck beim ersten Hören ist also falsch! okay. Wie begründest Du das nun?


    sondern fast schon klassizistisch streng - die symphonische Logik wird allerdings unterwandert und gegen sich selbst gekehrt, so dass die Reprise in eine Katastrophe umgedeutet wird (1. Satz).


    Das klingt sehr schön, feine Rhetorik, ist aber für mich ohne Zusammenhang nicht verständlich. Kommt also noch Erläuterndes?


    Bezeichnend, dass ein eher formalistisch denkenden Mahler-Interpret wie Pierre Boulez die 6. für Mahlers formal (!) bedeutendstes Werk hält.


    Aha, Boulez denkt da so wie Du auch .....


    Was hilft mir das nun?


    Da ich, wie Du vielleicht schon mitgekriegt hast, mit Autoritäten an sich ein Problem habe, ist das eine nette Randbemerkung, aber für mich keine Begründung mit der ich glücklich werde. Ich stehe also weiterhin auf dem Schlauch.


    Ich hatte an anderer Stelle schon einmal darauf hingewiesen, dass es unschön ist, Wissen als Totschlagargument zu benutzen. Genau das findet hier aber statt. Mit einem Satz, der vielleicht am Schluss einer Untersuchung stehen dürfte und dem Hinweis auf Boulez werde ich abgespiesen.


    Eine weitere unschöne Konsequenz dieses Beitrages ist es, dass Helmut Hofmann leider aufgegeben hat, meine Fragen zu beantworten. Helmut hat mir bisher in seinen Beiträgen, soweit ich sie gelesen habe immer gezeigt, dass er von der Musik ausgehend zu Schlüssen kommt, die ich fast immer nachvollziehen konnte.


    Ehrlich gesagt bin ich etwas ratlos, lieber Holger. Selbstverständlich schätze ich Wissen, aber auf der anderen Seite benötige ich auch das Eingehen auf meine echten Probleme, damit ich in meiner Rezeption von Mahler weiterkomme. Wäre es Dir möglich, die Analyse von Helmut einmal abzuwarten, bevor endgültige Urteile gefällt werden?

  • Einmal hat sie etwas Potpourrieartiges, wo sich mir die Übergänge sehr schwer erschließen.

    da hast Du erhelbliche Rezeptionsschwierigkeiten! ^^ Gerade die 6. Symphonie ist so gar nicht "potpourrihaft", sondern fast schon klassizistisch streng -

    Die Feststellungen, die astewes in Beitrag 263 trifft, und die Eindrücke, die er dort wiedergibt, sind aus der Rezeption von Mahlers Dritter Symphonie in der Interpretation durch Teodor Currentzis hervorgegangen. Da sie ausdrücklich an mich gerichtet sind, fühle ich mich, obwohl ich anderer Stelle, nämlich hier Musik verstehen - von Gustav Mahler, erklärt habe, das unterlassen zu wollen, verpflichtet, doch darauf zu reagieren, ihn wissen zu lassen, wie ich diese seine Feststellungen sehe und beurteile.


    Der Eindruck, dass Mahlers Dritte "potpourriartig" angelegt sei - wohlgemerkt; ein Eindruck, keine sachlich-analytische Feststellung -, ist sehr wohl zutreffend, weil in aus einer sachstrukturellen Gegebenheit von Mahlers Musik hervorgehend. Astewes "Rezeptionsschwierigkeiten" zu unterstellen und vorzuwerfen ist deshalb unangebracht.


    Ich gehe mal davon aus, dass astewes sich damit nicht auf die Abfolge der einzelnen Sätze bezieht, sondern auf die Musik in diesen selbst, deren strukturelle Anlage. Und da ist es ja nun inzwischen eine Binsenweisheit, dass diese nicht, wie es zuvor in der sinfonischen Musik üblich, ja sogar geboten war, der Logik der Entwicklung eines Motivs folgt, sondern collagenhaft-additiv angelegt ist. Nicht immer, aber doch zumeist, weil einem Prinzip folgend, werden durch ein Motiv und seine instrumentelle Ausführung geprägte Teile eines Satzes unmittelbar und unvermittelt hintereinander gesetzt, z. T. sogar auf regelrecht schroffe Form. Deshalb nennt Hans Zender z.B. die "Dritte" "in allen Sätzen antisinfonisch" und die Stelle Ziffer 2 im ersten Satz "ein reines Mobile". In seiner tiefschürfenden Analyse der Musik der "Dritten" kommt D. Schnebel zu der Feststellung einer "unymphonischen, suitenhaften Anlage, Entfaltung einer Sache in je neue Richtung, wie aus dem Griff eines Fächers strahlenförmig in verschiedene Richtungen."


    Genau aus diesem sachstrukturellen Faktum ging der Eindruck "potpourriartig" hervor. Astewes hat also sehr wohl hingehört, und von "Rezeptionsschwierigkeiten" kann keine Rede sein. Und um diese Feststellung noch solider zu machen, möchte ich sie auf ein sachliches Fundament stellen. Nach der mit dem schmetternden Ruf von acht Hörnern eingeleiteten "Weckruf" einsetzenden Passage (oben in Beitrag 255 näher beschrieben), eignet sich etwas Unerwartetes. In scharfem Kontrast und völlig unvermittelt setzt in Takt 132 eine seitensatzähnliche Episode ein, reichend bis Takt 147. Die Oboe trägt, begleitet mit flimmernden Tremoli der Streicher, eine überaus lieblich anmutende Melodie vor, die in der Solopassage der ersten Violine in D-Dur ihre Fortsetzung findet. Aber auch dann ereignet sich wieder, nämlich in Takt 148f. eine überraschender, nicht vorbereiteter und drastisch wirkender Einbruch einer anderen Musik: Der Heroldruf der Klarinetten in Des-Dur.


    Das kann man, wenn man nicht um die zugrundeliegende kompositorische Intention weiß, wegen dieser unvermittelt-additiven Aneinanderreihung von klanglich gänzlich unterschiedlichen musikalischen Passagen durchaus als "Potpourri" empfinden, in der Sache ist es freilich ein kompositorisches Konzept, das musikalisch zu evozieren, was Mahler grundsätzlich will: "Mit allen Mitteln der vorhandenen Technik eine Welt aufbauen". Hier im ersten Satz der Dritten ist sein narratives Leitmotiv: "Einleitung: Pan erwacht; folgt sogleich / No. I Der Sommer marschiert ein (>Bacchuszug<)". Die so überraschend und scharf kontrastiv auftretende Passage Takt 132ff. kann man in ihrer hohen und hellen Intonation als Auftritt eben dieses Gottes Pan interpretieren.


    Diese analytische Betrachtung der musikalischen Binnenstruktur des ersten Satzes könnte man nun so weiter betreiben, und man käme dabei immer wieder zu einem wachsenden Verständnis dafür, dass ein Rezipient derselben, so wie astewes hier, zu dem Eindruck einer Potpourrihaftigkeit kommen kann.

    Aber ich denke, das hier genügt.

    Wer die erwähnte Stelle hören möchte, hier ist es möglich:


  • Die Feststellungen, die astewes in Beitrag 263 trifft, und die Eindrücke, die er dort wiedergibt, sind aus der Rezeption von Mahlers Dritter Symphonie in der Interpretation durch Teodor Currentzis hervorgegangen. Da sie ausdrücklich an mich gerichtet sind, fühle ich mich, obwohl ich anderer Stelle, nämlich hier Musik verstehen - von Gustav Mahler, erklärt habe, das unterlassen zu wollen, verpflichtet, doch darauf zu reagieren, ihn wissen zu lassen, wie ich diese seine Feststellungen sehe und beurteile.

    Lieber Helmut Hofmann ich danke Dir sehr für diesen Beitrag und wäre auch an einer Fortsetzung der Analysen in dem anderen Thread interessiert, wie ich auch dort schon geschrieben habe. Ich bin hier ganz sicher nicht allein mit dieser Meinung.


    Du hattest an anderer Stelle sinngemäß mal geschrieben, dass man ein dickes Fell brauche. Das ist wohl so und ich hoffe, dass Deines noch ausreichend wärmt ... :)


    Ich habe mittlerweile die sechste auch gehört (ein einziges Mal) und war nicht in der Lage, die von Holger hier vertretene Gegenposition zu erkennen. Ich werde mir sicher mangels anderem Material auch die sechste noch einmal anhören. Aber Du sieht, zumindet von meiner Seite ist erhöhter Bedarf am Verständnis von Mahlers Sinfonien.


    Ich habe vor vielen, vielen Jahren aufgehört, ernsthaft noch Sinfonien zu hören. Beethoven hatte irgendwie schon alles gesagt. ;) Sinfonische Dichtungen waren nichts für mich und Dvorak eine nette Randerscheinung. Mahler kam wirklich ganz anders daher, aber verstanden habe ich eben nichts ....

  • Lieber Helmut Hofmann ich danke Dir sehr für diesen Beitrag und wäre auch an einer Fortsetzung der Analysen in dem anderen Thread interessiert, wie ich auch dort schon geschrieben habe. Ich bin hier ganz sicher nicht allein mit dieser Meinung. [Privat-Fettung! ;)]

    Nein, ganz sicher nicht!


    Mahler muss ich zur Zeit links liegen lassen. Er hatte schon mehrfach seine Zeit bei mir. Selbige - die Zeit - ist halt nicht beliebig verfügbar. Aber ich lese gerne mit auch in diesem Thread ...

    also dem betreffenden Mahler'schen.


    Theodor Currentzis? Weiß nicht recht - da missfällt mir einiges und versperrt mir möglicherweise den Blick auf anderes. CDs habe ich mir noch nicht zugelegt. Es stößt mich ab - das gebe ich gerne zu -, wenn er Musiker in grauen Sack-Kutten spielen lässt ... zum Beispiel.


    Er arbeitet ja gerne mit Patricia Kopatschinskaja zusammen, die ich sehr schätze - ungeachtet der Tatsache, dass sie zu Recht nicht unumstritten ist. Aber hier zählen für mich jene Dinge, die ihr erkennbar zusagen - Ligeti zum Beispiel - und vor allem ihre menschlichen Qualitäten in einem viel weiteren Sinne. Leicht möglich jedenfalls, dass diese beiden Exzentriker bestens zusammenpassen.


    :) Wolfgang

    Lieber Fahrrad verpfänden denn als Landrat enden!

  • Ich hatte an anderer Stelle schon einmal darauf hingewiesen, dass es unschön ist, Wissen als Totschlagargument zu benutzen. Genau das findet hier aber statt. Mit einem Satz, der vielleicht am Schluss einer Untersuchung stehen dürfte und dem Hinweis auf Boulez werde ich abgespiesen.

    Ich weiß nicht, warum Du damit ein Problem hast, dass man Dir als Kenner sagt, dass Deine Rezeption dieser Symphonie hier schiefgelaufen ist. Sowas kommt immer wieder vor wenn es um Musik geht - bei uns allen! Mein Hinweis auf Boulez sollte das nur belegen und als Anreiz dienen, dass Du Dich vielleicht noch etwas eingehender mit dieser Symphonie beschäftigst. Mahlers Symphonien sind durchaus rätselhaft - am rätselhaftesten ist vielleicht die 7. Insbesondere den 1. Satz verstehe ich bis heute nicht wirklich und auch die Musikwissenschaft stochert da immer wieder im Dunkeln herum. Ich habe da einen Ansatz, bin damit aber noch nicht zuende. Auch die 7. ist kein "Potpourri", die Schwierigkeit bei Mahler sind die episodenhaften, epischen Züge in der symphonisch-dramatischen Anlage, die nunmal der Kopfsatz einer klassisch-romantischen Symphonie hat und an welche Tradition Mahler anknüpft. Das muss man letztlich verstehen. Friedrich Schlegel nannte den Roman eine "Novellenkette" - diese novellenhaften, romanhaften Züge gibt es bei Mahler, worauf insbesondere Adorno hingewiesen hat. Dies hat die Rezeption nachweislich immer wieder erschwert, nämlich zu verstehen, wie sich die novellenhaften Züge mit der formdramatischen Anlage einer Symphonie vertragen. Insofern verstehe ich Deine Schwierigkeiten mit Mahler sehr wohl.


    Die 6. finde ich relativ gut zu entschlüsseln - und es gibt auch wirklich hilfreiche musikwissenschaftliche Literatur dafür und natürlich, wenn man Mahlers Aussagen und Zeugnisse mit heranzieht zum Verständnis. Anders als in der 4. und 5. hat der Kopfsatz der 6. klassizistische Züge - wo aber der schöne Schein des Klassizismus letztlich trügt. Es gibt nämlich eine geradezu "akademisch" schulmäßige Exposition: Hauptthema (der Marsch), Überleitungsthema (der Choral) und Seitenthema (das überschwengliche "Alma"-Thema). Die musikwissenschaftliche Analyse hat hier sehr treffend die entscheidende Anomalie herausgestellt, was man auch als Hörer sehr gut nachvollziehen kann: es gibt ein deutliches Übergewicht dieser höllisch tobenden Marschcharaktere, wogegen sich das "positive" Seitenthema nicht wirklich absetzen kann. Das "Drama" des Kopfsatzes kann man von daher so beschreiben: "Wie werde ich die verfluchten Marschcharaktäre los?" Eine Besonderheit ist auch das "Motto" (Paukenschläge im Bass), das wie der Blechtrommler dazwischen haut, immer wieder dann, wenn die Märsche allzu erdrückend werden: "Ich bin mit der Welt nicht einverstanden!" Was die ganze klassizistische Logik schließlich ins Gegenteil verkehrt, ist eine weitere Anomalie. Die klassizistische "Logik" eines solchen symphonischen Sonatensatzes ist, dass das thematische Material in der Exposition vollständig "exponiert" wird - worauf sich dann die Durchführung bezieht. In der 6. bringt die Durchführung aber etwas Neues, das ist das große und breite "exterritoriale Feld" mit den Kuhglocken, wo die höllischen Märsche zur Ruhe kommen. Mahler liebte es, Bergwanderungen auf der Hochalm zu machen - die Episode ist, so ein biographischer Hinweis, Ausdruck "absoluter Erdenferne". Das Subjekt ist hier also dem Himmel nah und der Welt entrückt - macht so die Erfahrung einer beglückenden schönen Welt - nur anders als im Kopfsatz der 1. ist die "schöne Welt" (Wunderhorn Lied) kein irdisches Naherlebnis mehr, sondern in die unendliche Himmelsferne gerückt. Adorno hat diese Stellen bei Mahler sehr glücklich "Durchbrüche" genannt. Sie sprengen sozusagen die Formarchitektur auf. In diesem Satz führt dies dazu, dass die Reprise sehr dramatisch in eine Katatrophe umgedeutet wird. Die Exposition legt die Reihenfolge der Theman fest, stiftet also eine Erwartungshaltung. Das Überleitungsthema mit dem Choralidiom leitet über zum positiven Seitenthema. Nach der beglückenden Erfahrung der Weltentrückung lässt Mahler den folgenden bewegten Teil mit dem thematischen Material des Überleitungsthemas bestreiten. Statt aber wie nach dem Sukzessionsschema der Exposition zu erwarten kommt aber nicht das positive Seitenthema, sondern der höllische Marsch. Formal widersinnig ist das nicht, sondern musikalisch-logisch geradezu "richtig", denn die Reprise ist (klassizistisch) immer die Reprise zuerst des Hauptthemas. Die Überleitungscharakteristik führt aber zu einem dramatischen Widerstreit in dieser synphonischen Logik: Die Märsche sind eigentlich nach der "Formarchitektur" zu erwarten, von der Semantik und Thematik her aber so etwas wie ein böses Erwachen, der Sturz von den hochfliegenden Himmelsträumen zurück auf die Erde. Der schöne Traum ist zuende - man ist wieder in der bitteren Realität. Im Finale hat Mahler dann das, was dem Kopfsatz nicht gelingt, den "positiven" Charaktären des Seitenthemas ein Übergewicht über die destruktiven Marschcharaktäre zu verschaffen, formal durch die krebsgängige Umkehrung der Reihenfolge der Themen zu realisieren versucht: Das "positive" Hauptthema kommt zuerst. Nur hat auch das den entscheidenden teuflischen Pferdefuß, was das Drama schließlich noch einmal steigert und zum endgültigen Scheitern dieser Bemühung führt: So schwebt nämlich die Wiederkehr der bösen Märsche wie ein Damoklesschwert über dem Ganzen. Und am Ende siegt der Hammerschlag - das musikalische Subjekt wird regelrecht "gefällt" vom Schicksal.


    Schöne Grüße

    Holger

  • Dem neuen Podcast von Axel Brüggemann (Crescendo) entnehme ich, dass Currentzis und seine Ensembles auch in die Mühle des Ukraine-Konflikts geraten sind. Auch das SWR-Sinfonieorchesters muss sich im Moment verteidigen. Mehr möchte ich hier nicht schreiben, weil die Sache so verwickelt ist wie bei Gergiev.

    Warum sind Obamas Memoiren so dick (700 S.). Damit Trump sie nicht liest.

  • Der Eindruck, dass Mahlers Dritte "potpourriartig" angelegt sei - wohlgemerkt; ein Eindruck, keine sachlich-analytische Feststellung -, ist sehr wohl zutreffend, weil in aus einer sachstrukturellen Gegebenheit von Mahlers Musik hervorgehend. Astewes "Rezeptionsschwierigkeiten" zu unterstellen und vorzuwerfen ist deshalb unangebracht.

    Das habe ich unten erläutert. Und das bezieht sich nicht auf die 3. Mahler, sondern die 6.! ;)

    dass diese nicht, wie es zuvor in der sinfonischen Musik üblich, ja sogar geboten war, der Logik der Entwicklung eines Motivs folgt, sondern collagenhaft-additiv angelegt ist. Nicht immer, aber doch zumeist, weil einem Prinzip folgend, werden durch ein Motiv und seine instrumentelle Ausführung geprägte Teile eines Satzes unmittelbar und unvermittelt hintereinander gesetzt, z. T. sogar auf regelrecht schroffe Form. Deshalb nennt Hans Zender z.B. die "Dritte" "in allen Sätzen antisinfonisch" und die Stelle Ziffer 2 im ersten Satz "ein reines Mobile". In seiner tiefschürfenden Analyse der Musik der "Dritten" kommt D. Schnebel zu der Feststellung einer "unymphonischen, suitenhaften Anlage, Entfaltung einer Sache in je neue Richtung, wie aus dem Griff eines Fächers strahlenförmig in verschiedene Richtungen."

    Die "suitenhafte Anlage" vieler von Mahlers Sätzen (oder anders gesagt: die rondohaften Züge auch in den Sonatensätzen) kann man natürlich nicht bestreiten. Zenders Behauptung, dass dies "unsymphonisch" sei, ist allerdings eine fragwürdige (um nicht zu sagen: unhaltbare) Behauptung. Und ebenso kenne ich keine ernsthafte und Ernst zu nehmende Analyse von Mahlers Symphonik, welche behauptet, seine Kompositionstechnik sei "collagenhaft-additiv".


    Schöne Grüße

    Holger

  • Ich weiß nicht, warum Du damit ein Problem hast, dass man Dir als Kenner sagt, dass Deine Rezeption dieser Symphonie hier schiefgelaufen ist. Sowas kommt immer wieder vor wenn es um Musik geht - bei uns allen!

    Ich denke, dass Du mein Problem gar nicht verstanden hast.


    Auslöser meiner ganzen Frage ist ja nichts anderes als die eigene Erkenntnis, dass meine Rezeption nicht ausreichend ist. Wenn es Dein Ziel war, mir zu sagen, dass Du das anders siehst und in der Sechsten Zusammenhänge erkennst, dann hätte man das doch genau so formulieren können, ob als Kenner oder nicht. Das vereinfacht die Kommunikation :)


    Mein Vorschlag wäre gewesen. "Hör Dir die Sechste noch einmal an, neben mir gibt es auch noch andere Autoritäten wie Boulez, die gerade darin eine Struktur erkennen können." Schon hätte ich verstanden, dass Du helfen möchtest.


    Ich schließe mit diesem Beitrag meine Diskussion zu Nicht-Currentzis-Themen in diesem Faden ab.

  • Ich denke, dass Du mein Problem gar nicht verstanden hast.

    Ganz genau - ich verstehe es wirklich nicht!

    Auslöser meiner ganzen Frage ist ja nichts anderes als die eigene Erkenntnis, dass meine Rezeption nicht ausreichend ist. Wenn es Dein Ziel war, mir zu sagen, dass Du das anders siehst und in der Sechsten Zusammenhänge erkennst, dann hätte man das doch genau so formulieren können, ob als Kenner oder nicht. Das vereinfacht die Kommunikation :)


    Mein Vorschlag wäre gewesen. "Hör Dir die Sechste noch einmal an, neben mir gibt es auch noch andere Autoritäten wie Boulez, die gerade darin eine Struktur erkennen können." Schon hätte ich verstanden, dass Du helfen möchtest.


    Wozu brauchst Du "Autoritäten", um Hinweisen Gehör zu schenken, wo Du vielleicht nach einem Sinn suchen kannst, wenn Du ihn nicht findest? Und was ist bitteschön "autoritär" an der Empfehlung, die 6. mal im Konzert zu hören, einen Mahler-Brief zu lesen oder dem Hinweis nachzugehen, dass ein Mahler-Dirigent, der zudem einer der führenden Komponisten seiner Zeit war, ein ganz anderes Bild von dieser Symphonie hat, um vielleicht Fragen beantwortet zu bekommen, die man selber nicht beantworten kann? Nur noch einmal so ein Werk zu hören ganz ohne jede Vorbereitung ist ungefähr so, als ohne Wegweiser wieder einmal in den großen Wald zu gehen, wo man schon beim ersten Mal herumirrend nicht herausgefunden hat.


    Schöne Grüße

    Holger

  • Currentzis in die Verbannung?

    Gestern hörte ich dieses:



    Und war hingerissen. So habe ich dieses Lied noch nie gehört.
    „Tempi di marcia“ steht fett gedruckt über dem Notentext. Und das ist mehr als eine Vortragsanweisung für das Lied: Es ist Ausdruck seines klanglichen Wesens. Die Marschmusik, die in ihrer klanglichen Prägung durch Tremoli und Doppelvorschläge und in ihrer Rhythmisierung durch Sechzehntel-Achtel-Quartolen gleich in den ersten beiden Takten des Vorspiels aufklingt, entwickelt eine solche Dynamik, dass sie alles mitreißt, der melodischen Linie der Singstimme keinen Raum zur eigenständigen Entfaltung lässt und über die strophische Gliederung, die der lyrische Text eigentlich mit sich bringt, regelrecht hinweg schwappt. Der Marschrhythmus ist ein wesentlicher Inspirator und Motor der Musik Mahlers, aber in einer solchen, alles dominierenden und mit sich reißenden Dominanz begegnet man ihm sonst nicht wieder.

    In dieser Aufnahme begegnet man Mahlers Liedmusik auf eine solch unmittelbar ansprechende, einen tief treffende, ihr klangliches Wesen und ihre musikalische Aussage erfassende und wiedergebende Weise, dass sich unmittelbar der Eindruck einstellt: Hier sind große Interpreten am Werk: Der Sänger, das Orchester und sein Dirigent. Vor allem dieser hat den maßgeblichen Anteil daran, denn man kann regelrecht sehen, wie er den Sänger inspiriert.

    Heute nun stieß ich zufällig im Magazin „Cicero“ (Ausgabe Juni, S.92f.) auf einen Artikel mit der Überschrift „Putins Palastorchester“. Der Verfasser ist Axel Brüggemann, und dieser fordert, dass, wo immer auch noch Auftritte von Teodor Currentzis in Deutschland und Österreich geplant sein sollten, diese abgesagt werden müssten. Es geht dabei vor allem um die Auftritte bei den Salzburger Festspielen, in Gestalt eines Konzerts mit seinem Orchester „MusicAeterna“ und die Aufführungen von Bartoks „Herzog Blaubarts Burg“ und Carl Orffs „De Temporum Fine Comoedia“. Und es geht es um seine Funktion als Chefdirigent des SWR-Sinfonieorchesters.

    Was wird Currentzis hier vorgeworfen? Vor allem die Tatsache, dass sein MusicAeterna-Orchester von der russischen VTB-Bank gesponsert wird, die auf der europäischen Sanktionsliste steht, und dass er sich „beharrlich weigert", den Angriffskrieg gegen die Ukraine mit einem Statement zu verurteilen. Brüggemann leitet seinen Artikel mit einer Schilderung der Feier zum fünfzigsten Geburtstag von Currentzis in Sankt Petersburg ein, die ausgerechnet am 24. Februar, also dem Tag des Angriffs auf die Ukraine stattfand. Da heißt es:
    „Man lachte, spaßte, und Currentzis hielt eine Rede: Schwarzes T-Shirt, schwarze Hose, das Sektglas mit der Faust umklammert, tänzelte er vor seinem Publikum und schwadronierte über das Leben nach dem Tode. Dieses Leben würden er und sein Orchester MusicAeterna ganz der Kunst widmen. Weltliche Werte, Statussymbole oder Geld seien ihm egal – er sei allein vom Idealismus getrieben. Wie so oft gelang es Teodor Currentzis, seine Zuhörer zu verführen. Kein Wort von den rollenden Panzern, vom Krieg, von Wladimir Putin. Die Gäste des Dirigenten applaudierten diesem gespenstischen Schauspiel.“

    Brüggemann wirft eine Reihe von Fragen auf, denen in dem umfangreichen Artikel mit einer Fülle von recherchierten Fakten dann nachgegangen wird. Sie lauten:
    „Ist Teodor Currentzis nur ein unbedarfter Künstler, der lediglich von der falschen Bank gefördert wird?
    Oder ist der Dirigent Dreh- und Angelpunkt der russischen Kulturpropaganda – sein Schweigen eine perfekte Inszenierung der gewollten russischen Indifferenz?
    Ist die Geschichte von Teodor Currentzis, dem Symbol russischer Freiheit, ein Teil von Putins subversiver Kulturpropaganda, ein erfolgreiches Narrativ, das Publikum lockt und Veranstalter freut, eine Heldensaga, die Wirtschaft und Politik elektrisiert?
    Wer steht wirklich hinter Dirigent und Orchester?“

    Diesen Fragen widmet sich Brüggemann, indem er eine ganze Reihe von Fakten anführt, die die Finanzierung des „Systems Currentzis“, wie er das nennt, konkretisieren sollen. Das kann hier nicht wiedergeben werden, weil dieser Beitrag dann zu lang würde. Nur ein typisches Beispiel für die Art der Argumente, die allesamt belegen sollen, dass die aufgeworfenen Fragen positiv zu beantworten seien:
    „Die neue Heimat des Orchesters wurde der prunkvolle Saal im Dom-Radio (…), dem einstigen Sendesaal des Sankt Petersburger Radios. Das Dom-Radio gehört einem der noch wenigen erlaubten Privatradiosender Russlands, dem Channel5. Der wiederum ist Teil der NMG-Holding, einer privaten Medienholding. Ursprünglich gehörte sie Alexei Mordatschow (…). Seit 2014 wird die Holding von Alina Kabajewa geleitet. Sie ist jene rhythmische Sportgymnastin, von der gesagt wird, dass sie die Mutter von Putins Kindern und seine heimliche Geliebte sei. Auf jeden Fall ist sie eine putintreue Wirtschaftsführerin. …“

    Alle angeführten Fakten laufen darauf hinaus, dass Currentzis mit seiner „MusicAeterna“ tatsächlich von der VTB-Bank gesponsert wird und in Verbindung mit russischen Institutionen und einem Kreis von kulturell und politisch relevanten Personen steht. Was nicht daraus hervorgeht und wofür Brüggemann keinen Beleg bringt, ist, dass er aktiv und mit Worten die Politik Putins unterstützt und gutheißt, - wie das etwa bei Gergijew der Fall ist. Diesbezüglich liegen von Currentzis ganz offensichtlich keine Äußerungen vor, sonst wären sie in diesem Artikel zitiert worden. Er scheint sich überhaupt ganz generell politischer Statements im weitesten Sinne zu enthalten.

    Und nun?
    Fragens stellen sich mir, auf die ich keine klare Antwort weiß und die ich deshalb einfach mal hier hinsetze:
    Ist es aus sachlichen Gründen angezeigt und damit vertretbar, bei Teodor Currentzis zum Cancel-Richtschwert zu greifen und ihn damit als Dirigenten oder künstlerischen Leiter von musikalischen Veranstaltungen hier in Deutschland nicht mehr auftreten zu lassen?
    Liege ich überhaupt richtig mit meiner Meinung, dass es sich bei ihm um einen bedeutenden Dirigenten handelt, - bedeutend insofern, als er in der Lage ist, der klassischen Musik neue Aussagen abzugewinnen?
    Kann man, darf man, muss man gar, wie Axel Brüggemann das in diesem Cicero-Artikel indirekt tut, vom SWR einfordern, dass er sich „Klarheit“ verschafft, die Haltung, die Einstellung und das Urteil von Currentzis, der kriegerischen Invasion Russlands in der Ukraine gegenüber?

    Dass ich dazu neige, den ersten und den dritten Fragekomplex mit einem „Nein“ zu beantworten, will ich nicht verschweigen.
    So ganz sicher bin ich mir aber nicht.

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  • Zuerst einmal möchte ich mich bei Helmut Hofmann bedanken, dass er den Currentzis Thread weiter bedient.


    Ich äußere mich nur sehr ungern politisch, aber angesichts des massiven Drucks von allen Seiten


    1. Ich bin ein absoluter Gegner einer Gesinnungsdiktatur! Eines der großartigsten Prinzipien der freiheitlichen Demokratie ist, dass man denken darf, was man möchte. Das lass ich mir durch absolut gar nichts untergraben. Keine Moralisten, keine Instrumentalisten (der Moral ;)) können mich auch nur ansatzweise da ins Trudeln bringen.


    2. Jeder Bürger oder auch Gast, der sich an die Regeln unserer Demokratie hält ist für mich akzeptabel, ob ich seine Meinung unterstütze oder nicht.


    3. Dieses in-den-Dienst-Stellen von Kunst und Künstler von irgendeiner politischen Meinung ist für mich inakzeptabel. Er erinnert nicht wenig an die dunkelsten Kapitel deutscher Geschichte. Auch die Kunst ist frei!


    4. Ich darf mich nirgendwo und niemals auf das Niveau meines Feindes begeben. Also ganz egal, was Putin macht, hier halte ich die Fahne der Freiheit hoch!


    Nun zu Currentzis. Wenn Currentzis gute Musik macht und nicht zum Krieg aufruft (Das wäre tatsächlich für mich _nicht_ akzeptabel) bin ich froh, wenn ich ihn hören kann.


    Ein völlig anderer kunstferner und nicht zu vernachlässigender Aspekt ist allerdings, dass wir nicht nur Kultur, sondern einen durch diesen Begriff attribuierten Betrieb haben ;). Hier gelten nicht die Gesetze der Kunst und deren Rezeption, sondern die Gesetze des Kommerzes. Selbstverständlich stehen alle diese "Repräsentanten" des Kulturbetriebes in der Pflicht, gewinnbringend und öffenlichkeitskonform zu operieren (leider). Hier ist es nachvollziehbar, wenn sie eventuell wichtige Kulturereignisse canceln, weil Gefahr für Musiker oder einfach auch das Ausbleiben des Publikums zu befürchten ist.

  • Zwischendurch mal etwas ganz anderes: das selten gehörte Hypothetically Murdered von Schostakowitsch - rekonstruiert und arrangiert, hier als Ballett in Perm 2015:



    Hab mich gefreut, das zu sehen.

    Bitte bedenken Sie, dass lautes Husten - auch zwischen den Stücken - die Konzentration der Künstler wie auch den Genuss der Zuhörer beeinträchtigt und sich durch den Filter eines Taschentuchs o. ä. erheblich dämpfen lässt.

  • Hallo astewes, grundsätzlich sind wir einer Meinung, insofern bitte ich folgende Verständnisfrage nicht falsch zu verstehen. Du schreibst:

    3. Dieses in-den-Dienst-Stellen von Kunst und Künstler von irgendeiner politischen Meinung ist für mich inakzeptabel. Er erinnert nicht wenig an die dunkelsten Kapitel deutscher Geschichte. Auch die Kunst ist frei!

    Und mir ist jetzt nicht ganz klar, wie herum Du es meinst? Einerseits natürlich neigt die politische Meinung insbesondere unter nicht-demokratischen Verhältnissen dazu, Kunst und Künstler entweder für sich in den Dienst oder bei Nicht-Konformität auch gerne "außer Dienst" zu stellen. Andererseits gibt es aber ehrlicherweise auch den umgekehrten (und nicht so seltenen) Fall, dass sich Kunst und Künstler nicht nur freiwillig in den Dienst stellen lassen, sondern dies sogar aus vollster Überzeugung tun, d.h. den Dienst quasi bewusst suchen. - Wenn nun die Kunst frei ist, was ich ja sofort unterschreibe, ist sie dann auch so frei, Letzteres zu tun? Ich gebe zu, dass ich persönlich in solchen Fällen plötzlich Schwierigkeiten damit bekomme, die Fahne der Kunstfreiheit unterschiedslos hochzuhalten ...

  • Und mir ist jetzt nicht ganz klar, wie herum Du es meinst? Einerseits natürlich neigt die politische Meinung insbesondere unter nicht-demokratischen Verhältnissen dazu, Kunst und Künstler entweder für sich in den Dienst oder bei Nicht-Konformität auch gerne "außer Dienst" zu stellen.

    Der aus meinem Posting zitierte Satz hat ein paar semantische Schwächen :).


    Gemeint ist, das es für mich keine Ideologie gibt, die Kunst oder Künstler in ihren Dienst zu stellen hat. Bsp: "Wenn Du hier Kunst treiben willst, musst du an XXX glauben". XXX durch beliebige Thesen zu ersetzen.


    Etwas ganz anderes ist es, wenn ein Künstler meint, seine Kunst sei politisch. Das ist ihm natürlich unbenommen. Meine persönliche Meinung ist es aber nicht selten, dass der künstlerisch wertvoile Teil im wesenlichen unpolitisch ist. Da kann man bei Leuten wie Bert Brecht natürlich ins Diskutieren kommen ... ;)

  • Der aus meinem Posting zitierte Satz hat ein paar semantische Schwächen :) .

    Habe es Dank Deiner Klarstellung aber jetzt verstanden und hatte mir schon gedacht, dass es so gemeint gewesen ist. :hello:

  • Einerseits natürlich neigt die politische Meinung insbesondere unter nicht-demokratischen Verhältnissen dazu, Kunst und Künstler entweder für sich in den Dienst oder bei Nicht-Konformität auch gerne "außer Dienst" zu stellen.

    Wozu von der Seite der Kunst und Künstler, lieber Michael, schließlich auch eine Bereitwilligkeit gehört, sich in den Dienst nehmen zu lassen. Die Frage ist für mich, wie weit diese Bereitwilligkeit geht und gehen darf - da gibt es dann doch den Unterschied zwischen vermeidlich und unvermeidlich und vor allem eine gewisse ungemütliche Grauzone. Die Finanzierung des Orchesters durch diese Bank gibt es schon länger, sie stammt aus der Zeit vor dem Krieg. Dasselbe gilt wohl für diesen Prunksaal. Wenn sich die Zeiten ändern, erwartet man dann allerdings, dass gewisse Dinge auch von Seiten der Künstler überdacht werden, weil sie dann doch in einem anderen Licht erscheinen und nun anders wahrgenommen werden. Post factum können Künstler in eine Rolle geraten, die eine propagandistische ist, die es vorher so eindeutig nicht war. Am Tag des Einmarsches in die Ukraine ein rauschendes Fest zu feiern belegt die vom Moskauer Sozialwissenschaftler Greg Yudin analysierte Entpolitisierung der russischen Gesellschaft in der Putin-Ära. Das finde ich wirklich peinlich. Da wundert man sich schon, dass bei Künstlern, die eben auch im Westen präsent sind, nicht mehr Sensibilität vorhanden ist. Das wird dann ungewollt zur Demonstration einer Akzeptanz des Status quo, egal, wie die Welt aussieht. Mit dem alten Jean-Paul Sartre muss auch das der Einzelne verantworten und verantworten können. Das nicht zu sehen, wäre amoralisch und realitätsblind.

    Andererseits gibt es aber ehrlicherweise auch den umgekehrten (und nicht so seltenen) Fall, dass sich Kunst und Künstler nicht nur freiwillig in den Dienst stellen lassen, sondern dies sogar aus vollster Überzeugung tun, d.h. den Dienst quasi bewusst suchen.

    Eben. Wenn z.B. Gergiev im zerbombten Syrien vor Soldaten spielt, die vorher Zivilisten massakriert haben.


    Schöne Grüße

    Holger

  • Mit dem alten Jean-Paul Sartre muss auch das der Einzelne verantworten und verantworten können. Das nicht zu sehen, wäre amoralisch und realitätsblind.



    Schöne Grüße

    Holger

    Wundervoll, der gute, alte Sartre feiert Auferstehung. Sein Aufsatz"Ist der Existenzialismus eine Humanimus" hat mir als Schüler mehr ins Leben gewiesen als die Bibel (und ich war damals sehr katholisch). Vor Jahren las ich im Römerbrief und fand Ähnlichkeiten im Denken Sartres und Paulus'. Und da wird es mit dem Verantworten nicht ganz so einfach, den zu Verantwortung und Handlung gehören Wissen und Absicht. Der Grad meiner Verantwortung ist also abhängig von meiner Bildung und meinem Wissen und meiner Absicht. Nehmen wir das biblische Beispiel David: der schickt den Uija mit einem Brief an die Front eines Krieges, in dem er den Feldherren auffordert, Urija in den vordersten Linien einzusetzen. Urija wird dabei getötet. In Kriegszeiten normal, möchte man meinen. Allerdings hatte David zu vertuschen, dass er mit Urijas Frau nicht nur geschlafen, sondern sie auch noch geschwängert hatte. Dies im Hinterkopf wird aus einem strategisch verbrämtem Einsatz ein absichtsvoller Mord, um das Gesetz dem Schein nach zu wahren. Zurück zu Sartre: der hat ja auch noch die Freiheit der Entscheidung oder die Freiheit der Wahl. Letztlich ist auch Opportunismus eine mögliche Wahl, die von Sartre sogar sanktioniert wäre, wenn sie als bewusste Entscheidung getroffen worden wäre.


    Da ich nun in den Kopf Currentzis nicht hineinschauen kann, enthalte ich mich jedweden Urteils. Zumal ich selbst ja von meinem Kulturkreis und mit den Kommentaren hiesiger Medien zurecht kommen muss, die die Wertung bereits in die Überschrift packen (ganz übel hier: der "Kölner Stadt-Anzünder")


    Zurück zu Currentzis, dem Dirigenten. Aufmerksam auf ihn bin ich durch eine -wie ich fand- formidable Einspielung von Mozarts "Don Giovanni".Beim genaueren Stöbern fand ich noch eine Platte mit Werken von Rameau, die mir ebenfalls gut gefiel. Was mich ans Grübeln bringt ist der Sprung von Barock und Wiener Klassik zu Mahler und Schostakowitsch, dessen 7.Sinfonie Currentzis fulminant aufgeführt haben soll. Das umso mehr, als Musica Aeterna -man korrigiere mich, wenn ich falsch liege- doch eher ein Spezialistenensemble ist. Wird das Orchester für die jeweiligen Bedarfe immer unterschiedlich zusammengesetzt?


    Wie gesagt, ich finde Currentzis durchaus interessant, konnte mich bislang aber noch nicht entschließen, in sein 20. Jh.-Repertoire hineinzuhören. Ein Fehler?


    Liebe Grüße vom Thomas :hello:

    Früher ist gottseidank lange vorbei. (TP)
    Wenn ihr werden wollt wie eure Väter waren werdet ihr so wie eure Väter niemals waren.

  • Wie gesagt, ich finde Currentzis durchaus interessant, konnte mich bislang aber noch nicht entschließen, in sein 20. Jh.-Repertoire hineinzuhören. Ein Fehler?

    Lieber Thomas,


    ans Herz legen kann ich Dir vorbehaltlos Currentzis' Aufnahme der Symphonie Nr. 14 von Schostakowitsch. Eine der Großtaten in der Diskographie dieses Werkes.




    Die Erstveröffentlichung (links) hatte das weitaus ästhetischere Cover, finde ich. So nur mehr gebraucht erhältlich. Der Werbepartner bietet die Einspielung mittlerweile bloß noch in folgender Exklusivauflage für jpc an (plus Purcell und Mozart):


    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Eine der Großtaten in der Diskographie dieses Werkes.

    Josephs Urteil schließe ich mich voll und ganz an. Meine Erfahrung ist die: Seit versucht wird, Currentzis von Konzertpodien zu verbannen, habe ich mich umso mehr mit ihm befasst. Das kann Ausgrenzung also auch bewirken. Sie hat ihm offenkundig nicht geschadet und womöglich noch interessanter und populärer gemacht. Boykotte gehen nach meiner Beobachtung meist nach hinten los. Und das ist auch gut so.

    Es grüßt Rüdiger als Rheingold1876


    "Was mir vorschwebte, waren Schallplatten, an deren hohem Standard öffentliche Aufführungen und zukünftige Künstler gemessen würden." Walter Legge (1906-1979), britischer Musikproduzent

  • Wundervoll, der gute, alte Sartre feiert Auferstehung. Sein Aufsatz"Ist der Existenzialismus eine Humanimus" hat mir als Schüler mehr ins Leben gewiesen als die Bibel (und ich war damals sehr katholisch).

    Lieber Thomas,


    :) :thumbup:.


    In meinem Wuppertaler Vortrag unmittelbar nach den Anschlägen von Paris hatte ich ausgeführt, dass Sartres Atheismus existenzialistisch betrachtet eigentlich nicht zwingend ist. Wieso soll man nicht Jude (Sartre hat sich sehr gegen Antisemitismus engagiert!), Moslem oder Christ sein dürfen, wenn man das als Lebensentwurf verantworten kann und will? Sartre ist ja nicht Nietzsche. Wenn Nietzsche sagt, die christlichen Werte haben sich nihilistisch entwertet, dann ist das eine essentialistische und keine existenzialistische Position. Inzwischen sind aus Sartres Nachlass seine umfangreichen Schriften zur Moralphilosophie herausgekommen ("Wahrheit und Existenz", "Entwürfe für eine Moralphilosophe"), die viel differenzierter sind als selbst Das Sein und das Nichts und wo man manches erst richtig versteht aus "Ist der Existenzialismus ein Humanismus", was da sehr verkürzt dargestellt ist und auch Heidegger völlig missverstanden hat.

    Zurück zu Sartre: der hat ja auch noch die Freiheit der Entscheidung oder die Freiheit der Wahl. Letztlich ist auch Opportunismus eine mögliche Wahl, die von Sartre sogar sanktioniert wäre, wenn sie als bewusste Entscheidung getroffen worden wäre.

    Der Grundgedanke von Sartre ist eigentlich ganz einfach. Beispiel: Triage und Corona. Die Behauptung, Triage nehme dem Arzt die Verantwortung für sein Tun ab, wenn er da nach Regel und Vorschrift handelt und zwischen mehr lebenswerten und weniger lebenswerten Patienten unterscheidet, dann ist das falsch. Das zeigt sich allein schon daran, dass der Arzt Triage hin oder her sich immer schuldig fühlen wird und wie ein Mengele, weil so eine Ungeheuerlichkeit seinem hippokratischen Eid widerspricht, den er geleistet hat, jedem Menschen zu helfen. Immer für alles verantwortlich sein heißt natürlich nicht, dass eine Handlungsentscheidung immer richtig und gerechtfertigt ist. Man darf nie vergessen, dass Sartre ein Dramatiker ist. Nein, eine solche Entscheidung kann sehr falsch sein und bedeuten, dass man eine große Schuld auf sich lädt - was einem die Anderen dann auch vorhalten (diese intersubjektive Bedeutung kommt in den nachgelassenen Texten sehr deutlich heraus). Was nur nicht geht, ist, die Verantwortung auf eine andere Instanz abzuschieben - ich habe nur Befehle befolgt oder nach einer allgemein geltenden Norm gehandelt und deshalb habe ich persönlich für das, was ich tue, keine Schuld.


    Zu Currentzis: Der Krieg macht auch uns schuldig. Wir finanzieren, wenn wir russisches Gas kaufen, diesen Krieg mit. Das ist eine gewisse Doppelmoral, und die müssen wir mit Sartre verantworten und können uns auch nicht rausreden mit einer vermeintlichen Notwendigkeit. Wie wir da unserer Verantwortung gerecht werden bzw. gerecht zu werden versuchen, dafür gibt es freilich keine Norm. Dies kann z.B. darin bestehen, dass wir alles tun, uns so schnell wie möglich von russischen Gaslieferungen unabhängig zu machen. Im Falle von Currentzis: Die Musiker sind wie wir auf russisches Gas auf das Geld dieser Bank angewiesen, sonst werden sie arbeitslos. Was aber nicht heißt, dass sie sich damit zufrieden geben müssten als Entschuldigung für ein "weiter so wie bisher". Sie können eben auch versuchen, sich unabhängiger vom System Putin zu machen und nach anderen Finanzierungsquellen im Westen suchen. In so einem Fall hat man nie eine "reine Weste", man wird immer schuldig, nur sucht man einen Weg, wie man das irgendwie verantworten kann. :hello:


    Einen schönen Sonntag wünschend

    Holger

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  • Dies kann z.B. darin bestehen, dass wir alles tun, uns so schnell wie möglich von russischen Gaslieferungen unabhängig zu machen

    Wenn die Lösung heißt "Abhängigkeit von arabischen Schurkenstaaten" oder von sauteurem amerikanischem Frackinggas (wofür die grüne Umweltpolitik alle bisherigen Idealvorstellungen über Gasgewinnung weggeschmissen hat und noch dazu milliardenschwere Terminals ohne Einhaltung aktuell gültiger Zulassungsvorschriften zu bauen wären) was ist da gewonnen? Alte Abhängigkeiten werden durch neue abgelöst, wodurch Erpressungen durch andere Lieferer vorprogrammiert sind. Jetzt lese ich gerade, daß Steinkohle wieder verwendet werden soll. Da unsere Schächte stillgelegt wurden, kaufen wir Steinkohle in Südamerika und helfen damit, die Umwelt der Indios zu zerstören und jagen CO2 für den Transport in die Luft. Ich finde die ganze Politik eine einzige Heuchelei. Egal welche Partei ich meine, es gilt das Adenauer-Motto "was interessiert mich mein Geschwätz von gestern".

    Aber was solls, Currentzis (dem dieser Thread gehört) wird es egal sein.

    La Roche

    Ich streite für die Schönheit und den edlen Anstand des Theaters. Mit dieser Parole im Herzen leb' ich mein Leben für das Theater, und ich werde weiterleben in den Annalen seiner Geschichte!

    Zitat des Theaterdirektors La Roche aus Capriccio von Richard Strauss.

  • Wenn die Lösung heißt "Abhängigkeit von arabischen Schurkenstaaten" oder von sauteurem amerikanischem Frackinggas (wofür die grüne Umweltpolitik alle bisherigen Idealvorstellungen über Gasgewinnung weggeschmissen hat und noch dazu milliardenschwere Terminals ohne Einhaltung aktuell gültiger Zulassungsvorschriften zu bauen wären) was ist da gewonnen? Alte Abhängigkeiten werden durch neue abgelöst, wodurch Erpressungen durch andere Lieferer vorprogrammiert sind. Jetzt lese ich gerade, daß Steinkohle wieder verwendet werden soll. Da unsere Schächte stillgelegt wurden, kaufen wir Steinkohle in Südamerika und helfen damit, die Umwelt der Indios zu zerstören und jagen CO2 für den Transport in die Luft. Ich finde die ganze Politik eine einzige Heuchelei. Egal welche Partei ich meine, es gilt das Adenauer-Motto "was interessiert mich mein Geschwätz von gestern".

    Aber was solls, Currentzis (dem dieser Thread gehört) wird es egal sein.

    La Roche

    Das gefällt mir alles auch gar nicht. Das ist die Wahl zwischen Übeln, wo das eine dann das etwas kleinere ist gegenüber dem anderen. ;(


    Schöne Grüße

    Holger

  • Ein Kanzler, der einen Amtseid geschworen hat, sollte das Wohl seines Landes vor dem Wohl eines Landes sehen, in dem er nicht der Kanzler oder der Staatschef ist. Wer die Wahl zwischen zwei Übeln hat, sollte wohl überlegen, welches Übel seinem Land mehr schadet als nützt. Herr Orban macht uns das vor. Aber immerhin glaube ich, daß unser Kanzler besonnen handelt, auch wenn er gerade deswegen unter Kritik steht. Die Forderungen deutscher und ausländischer Poiltiker nach immer mehr Waffen aller Art für die Ukraine ist nicht positiv. Ein schneller Frieden ist die einzige Lösung. Selbst in den USA mehren sich die Stimmen, daß die Ukraine ohne Gebietsverluste keinen Frieden erreichen wird. Warum da noch Tausende Tote und ein total verwüstetes Land erzwingen, wenn das Ergebnis dasselbe ist?


    La Roche

    Ich streite für die Schönheit und den edlen Anstand des Theaters. Mit dieser Parole im Herzen leb' ich mein Leben für das Theater, und ich werde weiterleben in den Annalen seiner Geschichte!

    Zitat des Theaterdirektors La Roche aus Capriccio von Richard Strauss.

  • Selbst in den USA mehren sich die Stimmen, daß die Ukraine ohne Gebietsverluste keinen Frieden erreichen wird.

    Nur das der Gebietsverlust der Ukraine eben in der gesamten Ukraine bestehen wird - und sich Putin, wenn das erst "funktioniert" hat, nicht alleine mit der Ukraine zufrieden geben wird. Wenn Orbán dann Pech hat, klopft der russische Kriegverbrecher irgendwann auch an seine Tür ...

  • Wenn Orbán dann Pech hat, klopft der russische Kriegverbrecher irgendwann auch an seine Tür ...

    Was ich nicht glaube. Ungarn sowie auch das Baltikum und Polen/Slowakei......sind NATO-Mitglieder. Das wäre der 3. Weltkrieg und der Untergang von Rußland und zumindestens Europa.

    La Roche

    Ich streite für die Schönheit und den edlen Anstand des Theaters. Mit dieser Parole im Herzen leb' ich mein Leben für das Theater, und ich werde weiterleben in den Annalen seiner Geschichte!

    Zitat des Theaterdirektors La Roche aus Capriccio von Richard Strauss.

  • Es ist schade, in welcher Weise hier die Ausübung der Kunst politisiert wird. Ich schließe mich den Ausführungen von astewes in Beitrag 281 an und will deshalb diese Problematik nicht weiter vertiefen. Im "Rondo"-Heft Nr. 3 las ich jetzt, dass die Salzburger Festspiele vorhaben, im Sommer Teodor Currentzis mit seinem Orchester das Opernprojekt "Herzog Blaubarts Burg /De temporum fine comoedia" spielen zu lassen. Da die Musiker aber von der russischen, sanktionierten VTB-Bank mitfinanziert werden, wird von manchen eine Ausladung gefordert. Dazu befragt, soll sich Intendant Markus Hinterhäuser gegenüber dem "Standard" so geäußert haben: "Erklären Sie mir mal, wie man in Russland ein Orchester ohne stattliche bzw. teilstaatliche Unterstützung gründen und finanzieren will." Soweit das Magazin "Rondo". Ich habe jetzt mir einmal das Programm der Salzburger Festspiele angesehen, siehe da, das musicAeterna Orchester ist nicht dabei. Wohl aber Currentzis , mit dem Mahler Jugendorchester, sogar zweimal einmal Oper und dann noch ein Konzert mit dem russischen Komponisten Schostakowitsch, dessen 13. Sinfonie gegeben wird. In beiden Konzerten tritt allerdings der musicAeterna Chor auf.

    Ich bin sehr dafür, Currentzis nicht auszugrenzen, das ist ein großartiger Musiker, sicher auch etwas exaltiert, den ich selber in einem Konzert in Berlin erleben durfte. Wenn er sich gegen den Krieg ausspricht, kann er in Russland seine Sachen einpacken und seine Musiker sind arbeitslos. So dumm ist er nicht. Da ich meine Wurzeln in der ehemaligen DDR habe, weiß ich wie man in einer Diktatur mit seiner Wortwahl umgehen muss.

    :hello:

    Wenn schon nicht HIP, dann wenigstens TOP

  • Die Forderungen deutscher und ausländischer Poiltiker nach immer mehr Waffen aller Art für die Ukraine ist nicht positiv. Ein schneller Frieden ist die einzige Lösung.

    Wie im Falle der Krim? Was ist danach passiert? Also ein schneller Frieden mit Abtretung des Donbass. Was kommt aber dann? Das nächste Ziel: Ein Krieg gegen Moldavien und die russischen Gebiete dort, die abgetreten werden sollen. Dazu wird Russland wieder Krieg führen gegen die Ukraine, um einen Korridor zu schaffen - sprich Odessa erobern. Das alles wurde ja ganz offen gesagt im russischen Fernsehen. Und schließlich: Putin hat der Ukraine jegliches Existenzrecht abgesprochen. Zuletzt wird also Kiew erobert und die Ukraine ausgelöscht. Putin hat seine Ziele doch alle deutlich ausgesprochen - und es wäre töricht, ihn da nicht Ernst zu nehmen: Er will alle seine Ziele erreichen, verkündet er. Dazu gehört auch - und dann kommt die Nato dran - eine Entmilitarisierung Polens, Ungarns und der baltischen Staaten. Das ist Putins Forderung. Das geht nicht ohne Kriegsdrohung gegen den Westen. Klug ist, erst dann die Waffen ruhen zu lassen, wenn Putin klar geworden ist, dass er mit dieser Strategie keinen Erfolg haben kann bzw. der Preis für ihn zu hoch ist, so weiter zu machen. Also keinen Waffenstillstand um jeden Preis. Das wird er dem Westen nur als Schwäche auslegen und erst recht so weiter machen.

    Ich habe jetzt mir einmal das Programm der Salzburger Festspiele angesehen, siehe da, das musicAeterna Orchester ist nicht dabei.

    Wie soll ein russisches Orchester derzeit in den Westen reisen? Allein die Flugverbindung ist abenteuerlich - und dann können sie kein Geld abheben, um ihre Hotelrechnung zu bezahlen, weil es ein Embargo gegen russische Banken gibt.


    Schöne Grüße

    Holger

  • Wie war doch gleich die Überschrift dieses Threads? Mal nachdenken.... Irgendwas mit einem Dirigenten und seinen Interpretationen... Oder doch was anderes?

    Einer acht´s - der andere betracht´s - der dritte verlacht´s - was macht´s ?
    (Spruch über der Eingangstür des Rathauses zu Wernigerode)

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