Im Tamino-Klassik-Forum wurde und wird ausgiebig über das Regietheater diskutiert. Jegliche Diskussion über das moderne Musiktheater - diese Bezeichnung ziehe ich vor - ist jedoch nur unvollständig, wenn dabei nicht auch der kulturpolitische Auftrag der Theater mit einfließt. Aus diesem ergibt sich, dass das moderne Musiktheater oder auch das Regietheater unerlässlich ist. Aber der Reihe nach. Zuerst muss man sich fragen, was Theater überhaupt ist. Nun, das ist leicht gesagt: Theater ist die Gesamtheit der darstellenden Künste (Oper, Operette, Ballett und Schauspiel). Erst wenn man diese Frage beantwortet hat, kann man daran gehen, den kulturpolitischen Auftrag der Theater zu definieren. Dieser ist mannigfaltig und von verschiedenen Faktoren abhängig. Die Grundfrage ist, warm der moderne Mensch in die Oper oder ins Theater geht. Das erscheint auf den ersten Blick ganz simpel: Er sucht Abwechslung und Entspannung von seinem Tageswerk, will der oft unbequemen Alltagswelt entfliehen und sich im Theater einem Meer von Illusionen hingeben, die ihn der realen Welt entrücken und ihn nicht geistig fordern. Die Flucht in eine glückliche Scheinwelt endet jedoch oft mit einem Missklang: Der Zuschauer trifft im Theater nicht auf das, was er erwartet hat, er versteht das komplizierte Stück oder die anspruchsvolle Inszenierung nicht. Seinen Erwartungen wird nicht entsprochen, der Theaterbesuch übt eine desillusionierende Wirkung auf ihn aus. Es ist fraglich, ob dieser Mensch auch künftig noch die Neigung verspürt, ins Theater zu gehen, das ihn enttäuscht hat. Andere dagegen sind von derselben Aufführung begeistert und loben sie wegen ihres hohen geistigen Niveaus, das intensiv ihren Intellekt angeregt hat. Zu letzteren zähle ich mich in einem Großteil der Fälle. Damit wird deutlich, dass das Theater nicht nur zur Unterhaltung und Entspannung da ist, sondern auch einem tieferen Sinn, der Bildung und Besinnung, dienen soll. Wie kann das Theater dieser Aufgabe gerecht werden? Auf den Spielplänen der Theater steht regelmäßig ein buntes Gemisch von alten und neuen Stücken aus den verschiedensten Zeiten. Oft sind es gerade die alten Klassiker, die zu einem Theaterbesuch anregen. Die gesellschaftliche Grundlage, auf der diese frühen Werke entstanden sind, hat sich indes gewandelt, das Anliegen ihrer Schöpfer ist in seiner ursprünglichen Form überholt. Deshalb müssen die Werke in einen neuen, zeitgemäßen Sinnzusammenhang gestellt werden, der Erscheinungsformen und Probleme der Zeit aufzeigt, in der der konkrete Zuschauer ins Theater geht. Diese ändern sich natürlich von Generation zu Generation, und damit werden auch die Anforderungen an die Aufführungen ständig anders. Manche Theater und Opernhäuser haben zwar durchaus noch sehr alte Inszenierungen im Spielplan. Diese Vorstellungen sind aber meistens nur noch als Überbleibsel eines früheren Inszenierungsstils interessant, mit der die junge Generation häufig gar nichts mehr anfangen kann und den sie vielleicht sogar langweilig findet. Diese Erfahrung habe ich auch schon gemacht. Viele alte, traditionelle Produktionen finde ich ausgesprochen langatmig. Zusammenfassend liegt der kulturpolitische Auftrag der Theater darin, es zu einem Spiegel der Gegenwart zu machen, der die verschiedenen gesellschaftspolitischen Strömungen aufnimmt und auf das Publikum zurückwirft. Das Theater oder auch das Opernhaus wird so einer sozialen Ader der Gesellschaft, die dieser seine Sicht der aktuellen Gegebenheiten vermittelt. Es muss seine Besucher zum Nachdenken veranlassen und ihnen einen Weg weisen, sich in den Gestalten und dem Geschehen auf der Bühne selbst wiederzuentdecken und daraus Konsequenzen zu ziehen. Von dieser Funktion des Theaters ging insbesondere Bertolt Brecht aus, der mit jedem seiner Stücke dem Publikum eine Lehre erteilen wollte. Für sein "Episches Theater" wesentlich war der sogenannte Verfremdungseffekt. Dieser sollte den Theaterbesucher zu aktiver Teilnahme anregen und zu einer Stellungnahme zwingen.
Die Möglichkeiten der Theater, ihrem kulturpolitischen Auftrag nachzukommen, sind vielfältig und hängen auch von den technischen Errungenschaften ihrer Zeit ab. Von Generation zu Generation werden alte durch neue Umsetzungsformen abgelöst. Diese Dynamik zeigt bereits Goethe im "Vorspiel auf dem Theater" in seinem "Faust 1" auf, wenn er den Theaterdirektor sagen lässt: "Wie machen wir's, dass alles frisch und neu und mit Bedeutung auch gefällig sei?" Goethe hat mit diesem Postulat gleichsam ein immer gültiges, zeitloses Leitmotiv geschaffen, das für jede Generation gilt. Diese Grundlinie des "Frischen" und "Neuen" dürfen die Theater dabei nie aus den Augen verlieren. Ob das Ganze aber auch gefällig ist, steht auf einem anderen Blatt. Ein Blick auf die derzeitige Aufführungspraxis zeigt, dass sich die Theater in einem Spannungsverhältnis zum Publikum befinden. In dem Bemühen, den oben dargestellten Inhalt ihres kulturpolitischen Auftrags zu verwirklichen, präsentieren die heutigen Theater und Opernhäuser zum großen Teil modern-zeitgemäße Produktionen. Damit stoßen sie aber oft auf strikten Widerstand des Publikums. Auch symbolisch-zeitlose Inszenierungen sind ein möglicher und oft beschrittener Weg, erfreuen sich indes nicht immer der Gunst der Zuschauer. ein großer Teil von ihnen bevorzugt sogenannte "romantische" bzw. "Bilderbuch"-Inszenierungen, die zwar durchaus schön sind, aber keine zeitgemäße, aktuelle Aussage enthalten, und bleibt modernen Interpretationen fern. Diese Situation macht es den heutigen Theatern und Opernhäusern anscheinend unmöglich, der von Goethe aufgezeigten Leitlinie nachzukommen. Häufige heftige Buhkonzerte gegenüber dem Regieteam bei einer Premiere scheinen nur allzu deutlich zu belegen, dass Neudeutungen alter Werke nicht immer als gelungen erscheinen und schon gar nicht immer gefällig sind. Dabei kann es sich sehr wohl um die besten und bedeutendsten zeitgemäßen szenischen Realisationen des betreffenden Stückes handeln, was das Auditorium oft aber gar nicht bemerkt oder was es nicht akzeptiert, weil es zu bequem ist, sich über das übergeordnete Regiekonzept Gedanken zu machen. Oftmals wird eine neue Sichtweise auch als Zerstörung eines schon oft schöner und angeblich besser gesehenen altvertrauten Werkes empfunden. Dann werden zur Begründung des ablehnenden Standpunktes Argumente wie "nicht werktreu" oder "gegen das Stück inszeniert" angeführt. Eine derartige Interpretation ist abzulehnen. Man kann immer wieder die Beobachtung machen, dass insbesondere die ältere Zuschauer-Generation diese Schlagwörter fälschlicherweise auf jede nicht im konventionell-naturalistischen und romantischen Stil gehaltene Aufführung anwendet. Sie ist von alten, längst überholten Konventionen geprägt, in er sie zu verharren beschlossen hat, und lehnt deshalb alles Neue ab. Das jüngere Publikum dagegen steht modernen Regiekonzepten in der Regel aufgeschlossener gegenüber und ist eher bereit, provokante Inszenierungen zu akzeptieren, wenn diese ein erkennbares Konzept haben. Damit wird deutlich, dass das zwischen dem Theater bzw. den Opernhäusern und ihren aus unterschiedlichen Altersgruppen zusammengesetzten Publikum bestehende Spannungsverhältnis seine Wurzeln in einem Generationenkonflikt hat. Ansichten und Konventionen junger Leute sind - nicht nur im Bereich der Kunst - naturgemäß anders als die ihrer Eltern und Großeltern. Es wäre schlimm, wenn dem nicht so wäre. Dann hätte nämlich überhaupt keine gesellschaftliche Entwicklung stattgefunden. Und gerade das soll ja anhand von ständigen Neudeutungen altbekannter Stücke und Opern belegt werden. Wenn man Theater und Oper nur nach den Vorstellungen der älteren Generation machen würde, könnten Opernhäuser und Sprechtheater ihrer Aufgabe nicht mehr erfüllen. Anstatt den sozialen Pulsschlag ihrer Zeit aufzunehmen, würden sie zu einer Art Museum degradiert, das nur längst vergangene Zeiten widerspiegelt. Das Ausklammern des Heute aus Neuproduktionen würde zu einer Stagnation des Theaters führen, das infolgedessen seinem kulturpolitischen Auftrag nicht mehr nachkommen könnte. Ohne diese Funktion wäre es aber mehr oder weniger überflüssig und gliche einem niveaulosen Kasperletheater. Soweit darf es aber niemals kommen. Um dieser Gefahr erfolgreich zu begegnen, ist das moderne Musiktheater oder auch Regietheater unerlässlich! Zeitgenössische, auch provokante Inszenierungen sind die Voraussetzung dafür, dass Theater weiterhin Sinn macht, auch wenn sich der Sinn einzelner Produktionen dem Publikum nicht immer erschließt. Das kommt daher, weil sich das Auditorium aus unterschiedlichen Bildungsschichten zusammensetzt. Daraus resultiert, dass hervorragende neue Sichtweisen bedeutender Opern- und Theaterregisseure häufig nur deshalb so vehement abgelehnt werden, weil man sie nicht versteht. Einführungsveranstaltungen, in denen die Inszenierungen erklärt werden, finden sich seit einigen Jahren aus diesem Grund oft im Programm von Theatern und Opernhäusern. Andererseits müssen die Besucher animiert werden, sich über die Aufführungen selbst ein Urteil zu bilden und darüber in der Öffentlichkeit zu diskutieren. Das ist der springende Punkt: Die Theater und Opernhäuser können ihrer Aufgabe ohne Mühe dadurch gerecht werden, dass sie die Diskussion um die Bretter, die die Welt bedeuten, stets aufrechterhalten. Die öffentliche Meinung ist immer zeitgemäß, deshalb ist es auch das Opernhaus oder Theater, das sich ihm stellt. Auf diese Weise kann das Theater seine Funktion, ein Spiegel der Zeit zu sein, leicht erfüllen. So muss sein kulturpolitischer Auftrag verstanden werden. Aus den oben dargestellten Gründen ist für mich die Aufgeschlossenheit des Publikums gegenüber modernen Inszenierungen ein ganz wesentlicher Punkt für das Funktionieren von Opern- und Theaterproduktionken.
Herzliche Grüße
lustein