Ich würde nicht jeden Punkt unterschreiben, aber grundsätzlich liegen unsere Meinungen sehr dicht beieinander.
Zwei Gedanken möchte ich hinzufügen, vorher aber eine Zusatzbemerkung: Mir persönlich (andere mögen das anders sehen) geht es bei solchen Diskussionen weniger um die Frage, ob Begriffe wie »Werktreue« oder »Regietheater« und die Konzeptionen, die mit ihnen zusammenhängen, sinnvoll sind. Mit dieser Frage verschwendet man nur seine Zeit, denn die Antwort liegt ja klar auf der Hand. Mir geht es allerdings auch nicht darum, irgendwem vorzuschreiben, dass er diese Begriffe nicht verwenden soll, das kann schließlich jeder halten, wie er will. Worum es mir geht, ist, dass ich sehr viel dagegen habe, wenn irgendwer daherkommt und Vorschriften erlässt, an die sich die Künstler zu halten haben. Und zwar so, dass er jede sinnvolle Begründung für diese Vorschriften ebenso konsequent verweigert wie die Auskunft darüber, wer oder was ihn ermächtigt, solche Vorschriften zu erlassen. Wie ich schon schrieb: Ich kenne das Verfahren nur zu gut (der Stil der Äußerungen ist übrigens erstaunlich ähnlich, bis in einzelne Formulierungen hinein, die in der kulturpolitischen Dokumenten der SED ebenso auftauchen wie in den Äußerungen der heutigen Apologeten der Werktreue), und ich denke gar nicht daran, mich solchen ordre du mufti zu fügen.
Was nun die häufig vorgebrachte Frage betrifft, warum man in der Musik so historisch wie möglich sein will, auf der Bühne aber nicht, wäre vieles zu antworten. Um nur einiges herauszugreifen:
Die Aufführungspraxis alter Musik hat sich in den letzten Jahrzehnten insofern radikal geändert, als die ausführenden Musiker genauer studieren, wie diese Musik damals gespielt worden ist. Der ursprüngliche Begriff der »historischen Aufführungspraxis« wurde inzwischen durch den der »historisch informierten Aufführungspraxis« ersetzt, der viel genauer wiedergibt, was gemeint ist. Es gibt, Christian hat darauf hingewiesen, ebenso wenig alte Musik wie altes Theater. (Ungeachtet des Sprachgebrauchs, der das suggerieren könnte.) Denn die Partituren, die uns überliefert sind, sind keine Musik, sondern nur eine mehr oder weniger (oft sehr wenig) genaue Aufzeichnung dessen, was erklingt, wenn nach diesen Partituren musiziert wird. Darum gibt es auch keine historische Aufführungspraxis, sondern nur eine zeitgenössische. Wenn sich nun die Musiker, die ein altes Stück Musik darbieten wollen, darüber informieren, wie das damals gespielt wurde, informieren sie sich in Wahrheit darüber, wie das, was in der Partitur steht, gemeint ist. Das heißt, sie erlernen die Sprache, in denen diese Dokumente verfasst sind. Sie erkennen dann, dass z. B. in der Barockmusik noch viel mehr nicht notiert ist als in der des 19. Jahrhunderts und erlernen, wie da zu ergänzen ist. Sie lernen auch, dass z. B. die Bezeichnung »Adagio« bei Händel einen ganz anderen Sinn hat als bei Bruckner. Daraus ziehen sie dann die Schlussfolgerung, die Musik, die so bezeichnet ist, auch anders zu spielen. Aber auf keinen Fall kommt damit eine Aufführung des 18. Jahrhunderts zustande. Die könnten wir im 21. Jahrhundert ja gar nicht hören.
Nun ist, wenn man ein paar Jahrzehnte zurückblickt und anhand von Tondokumenten sich ein Bild davon verschafft, wie solche Musik früher gespielt wurde (was heute oft kurios bis irrwitzig anmutet) eins auffällig: Es gibt in den Entwicklungen des Aufführungsstils eine Tendenz zu größerer Leichtigkeit, zu geringerem Pathos, zu mehr Humor usw. Diese Tendenz ist keineswegs auf die Musik beschränkt. Man erkennt dieselbe Tendenz, wenn man die heutigen Speisekarten mit denen der 50er Jahre vergleich. (Ich meine selbstverständlich nicht die grafische Gestaltung sondern die aufgeführten Gerichte.) Oder wenn man die Einrichtung der Wohnungen vergleicht. Der Filmausschnitt mit Winifred Wagner zeigt die Innenausstattung ihre Wohnräume. Man weiß manchmal nicht, was grausiger ist: was sie erzählt oder dieser Anblick. Der gewaltige Unterschied zu heutiger Innenarchitektur hat eine Parallele in der Veränderung de Aufführungsstils von Musik, wie man leicht sehen kann.
Damit ist nichts darüber gesagt, wie diese Tendenzen zu bewerten sind. Aber es liegt auf der Hand, dass die historisch informierte Aufführungspraxis eine Idee ist, die zur zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gehört (sie hat Anfänge in den 20er Jahren, konnte sich aber damals nicht zufällig nicht durchsetzen), also ganz zeitgenössisch und überhaupt nicht alt oder historisch vergangen ist. Es gibt also diesen Widerspruch zwischen einer ausdrücklich zeitgenössisch gestalteten Szene und einer ausdrücklich historisch gestalteten Musik gar nicht. Mithin passt das schon ganz gut zusammen. (Mal besser, mal schlechter, wie das im Leben so ist: Nicht jede Ehe ist eines glückliche.)
Und ganz nebenbei sei angemerkt, dass Widersprüche zwischen den Elementen und Ebenen eines komplexen Kunstwerks kein Makel sein müssen, sondern sowieso unvermeidlich sind. Der Hegelkenner weiß, was gemeint ist.
Die zweite Bemerkung: Ein stetig auftretender aber für mich immer wieder besonders rätselhafter Punkt in solchen Diskussionen über die sog. »Werktreue« (vor allem, wenn es sich um Oper dreht) ist, dass die Apologeten dieses Begriffs, so gut wie immer nahezu ausschließlich vom Libretto sprechen, als sei dies das alles entscheidende Element der Oper. Mir scheint allerdings, dass sich die Oper vom Schauspiel vor allem dadurch unterscheidet, dass zur dramatischen Dichtung die Musik hinzutritt. Und zwar – das ist der Unterschied zwischen Opern- und Schauspielmusik – als strukturbestimmendes Element. (Was sich schon in der allseits bekannten Tatsache ausdrückt, dass viele Opernfreunde bekunden, vor allem oder ausschließlich wegen der Musik in die Oper zu gehen, aber auch in in der Tatsache, dass es nur äußerst wenige Opernlibretti geben dürfte, nach denen heute noch ein Hahn krähen würde, wenn sie nicht vertont wären.) Nun meine ich – was vielleicht naiv ist –, dass in einer Diskussion über die Praxis der Opernaufführung dieses strukturbestimmende Element eine wesentliche Rolle spielen sollte. Es ist ein alter Hut, dass es zwischen dem, was die Musik in der Oper erzählt und dem Libretto erhebliche Differenzen gibt. (Anders ist es ja nicht erklären, dass durch die Musik aus eine scheinbar minderwertigen Dichtung – sie ist es nicht, weil sie genau diesen Prozess ermöglicht – ein unsterbliches Drama wird.) Warum also soll sich die Aufführung vor allem am Libretto orientieren und nicht an der Komposition? Ist es wirklich wichtiger, dass Wotan einen Speer bei sich hat und Brünnhilde einen Flügelhelm trägt, wenn sie auf dem der Regieanweisung genau nachgebildeten Pappfelsen zur Ruhe gebettet wird, als dass die für die Aufführung ein Weg gesucht wird, den Gehalt einer der inhaltlich und dramaturgisch wichtigsten Stellen des ganzen »Rings«, nämlich die orchestrale Passage zwischen »...der freier als ich der Gott« und »Der Augen leuchtendes Paar« im dritten Akt der »Walküre« so zu spielen, dass die Bedeutung und der Stellenwert dieser Stelle dem Zuschauer deutlich werden kann? Ich muss gestehen, dass ich nicht verstehe, warum das so sein soll.
Um nicht missverstanden zu werden: Das ist ein Beispiel, und der Umgang mit einem solchen Vorgang ist eine Möglichkeit von vielen. Ich will ganz und gar nicht sagen, dass es irgendeine Verpflichtung gibt, an dieser Stelle so zu verfahren, wie ich es skizziert habe. Wenn einer etwas anderes erfindet, und das gut ist, ist es natürlich vollkommen in Ordnung. Nur weil meine Phantasie logischerweise begrenzt ist, muss ich nicht anordnen, dass auch alle anderen die ihre zu begrenzen haben.
(Ich werde zu Tisch gerufen, vielleicht nächstens mehr.)