Wir sind im Jahr 1945. Hitler ist besiegt - nach sowjetischer Geschichtsschreibung praktisch einzig und allein durch einen verlustreichen, aber heroischen Kampf der Roten Armee und einer nicht wankenden Zivilbevölkerung. Stalin ist der Triumphator.
Genossen, das muß gefeiert werden!
Da trifft es sich doch gut, daß Dmitri Schostakowitsch gerade eine Achte Symphonie komponiert hat (schnell in die allerunterste Schublade mit dem depressiven Zeug!) - und damit ganz zwangsläufig die Neunte folgt.
Just die Neunte.
Sie sind (oder eher waren einmal) zwar antibürgerliche Revolutionäre, die Genossen Parteifunktionäre, aber der Russe lebt nun einmal mit seinen Klassikern.
Kurzer Exkurs: Der Russe und seine Klassiker
In Rußland konnte damals jeder zumindest ein Gedicht Puschkins auswendig. In den Smalltalk hat man Zitate großer (auch zeitgenössischer) Autoren einzustreuen, sonst gilt man als ungebildet. (Heute schleift sich das etwas ab - aber der größte Fernseh-Erfolg der jüngsten Zeit war nicht etwa eine Sitcom, sondern eine tatsächlich fabelhafte Serie nach Bulgakows "Meister und Margerita".) Man hatte die großen Klassiker der russischen und ausländischen Literatur dermaßen intus, daß sich Autoren auf diese Klassiker beziehen konnten - und die Anspielungen wurden verstanden. Für uns Mittel- und Westeuropäer macht das russische Literatur mitunter so schwer lesbar: Wir erkennen die Vorlage nicht, die der russische Leser aber sofort assoziiert.
Nicht anders in der Musik: Der Russe denkt automatisch den Kontext der Klassiker mit. Wenn Schostakowitsch beispielsweise ein Klaviertrio schreibt, dann tut er das im Bewußtsein, daß das Publikum die Klaviertrios von Tschaikowskij und Rachmaninow quasi als Hintergrund mitdenkt.
Nun wäre es falsch zu glauben, russische Ensembles hätten nur russische Komponisten gespielt. Natürlich hat die nationale Musik einen hohen Stellenwert. Aber die großen nicht-russischen Klassiker sind im Repertoire der Künstler und der Orchester - und somit im Bewußtsein des Publikums. Geschätzt werden vor allem Bach, Beethoven und Brahms, während Mahler und Bruckner, von Einzelaufführungen abgesehen, erst relativ spät ins russische Repertoire einzogen: Mahler durch Kondraschin und Swetlanow, Bruckner durch Roschdestwenskij. In beiden Fällen waren die religiösen Bezugnahmen der Komponisten lange Zeit allzu verdächtig.
Zurück zu Schostakowitschs Neunter.
Daß die Genossen Parteifunktionäre und auch das Publikum bei einer Neunten Symphonie automatisch an Beethoven denken, ist uns jetzt natürlich klar.
Aber die Assoziationen gehen viel weiter:
Neunte Symphonie = Neunte Beethoven = per aspera ad astra = aus Bedrängnis durch Hitler zum Sieg der Roten Armee = Hymne an die Freude über den Sieg der Roten Armee = Gewaltiges symphonisches Portrait vom heroischen Kampf der Sowjetunion.
Ja - und genau das hat er versprochen, der Genosse Dmitri Dmitrijewitsch: Eine heroische Chorsymphonie mit einem Loblied auf den Triumphator Stalin.
Aber nicht genug damit: Daß Schostakowitschs Ruhm längst über die Grenzen der Sowjetunion hinausgedrungen ist, weiß jeder. Und man stelle sich vor: Weltweit wird der Sieg der Roten Armee und der Ruhm Stalins in Konzerten verkündet werden. Ein unvergängliches Denkmal in Tönen.
Und das von einem einst widerspenstigen Komponisten, den Stalin erst auf den rechten Weg bringen musste.
Welch ein Triumph!
Welch eine Vorfreude!
Und dann kommt sie, die glorreiche Neunte Symphonie des Genossen Dmitri Dmitrijewitsch.
Aber was ist das? Ist Ihnen der Borschtsch nicht bekommen, Genosse Dmitri Dmitrijewitsch? Hat der Kwas zuviel Alkohol gehabt? Konnten Sie Ihre Finger nicht vom Altai-Wodka lassen? Und noch dazu in Es-Dur, der heroischen Tonart! Genosse, Sie werden doch nicht spotten...?
Diese "Neunte" ist eine Frechheit sonder gleichen. Ein Komponist zeigt dem glorreichen Führer der Sowjetunion die lange Nase. Und streckt ihm gleich die Zunge auch noch heraus. Keine Soli, kein Chor. Nicht einmal ein großes, sondern sogar ein relativ kleines Orchester. Kein Epos, kein Heroismus, kein Hymnus. Eigentlich nicht einmal eine Symphonie, sondern eine Sinfonietta, ein fünfsätziges Divertimento.
Ganz leicht und heiter geht's zu. Offziell sagt Schostakowitsch, das Werk stelle die Freude des russischen Volkes über das Ende des Krieges und den Sieg dar. So kann man's auch sagen - etwa, wenn Kinder im Sandkasten Krieg gespielt haben und einer dann gewonnen hat, muß seine Freude so ähnlich gewesen sein.
Nur im 4. Satz schlägt Schostakowitsch in dünnen solistischen Linien andere Töne an - da klingt wieder Trauer hinein. Aber sonst: Jede heroische Geste wird abgebogen in ein Schmunzeln oder, noch schlimmer, in Belanglosigkeit. "Gar nicht hinhören auf den heroischen Quatsch", scheint Schostakowitsch zu sagen.
Am 3. November 1945 dirigiert Jewgenij Mrawinskij die Uraufführung. Knapp ein Jahr läßt sich die sowjetische Kritik mit der Beurteilung Zeit. Dann schäumt sie: Die "ideologische Schwäche" der Symphonie "reflektiert nicht den wahren Geist der Völker der Sowjetunion." Schnell in die Schublade damit (in die allerunterste, falls dort neben der Achten und der "Nase" noch Platz sein sollte.)
Aber auch im Westen staunt man über die "kindische Freude" über das Kriegsende.
Mir wurde allerdings von einigen russischen Musikern und anderen Zeitzeugen versichert, daß das russische Publikum sehr wohl verstanden hatte: Keine "Neunte" war das, sondern eine "Gegen-Neunte", eine Ablehnung all dessen, was ideologisch zu erwarten gewesen war. Dem begeistert zuzustimmen, hätte in einem Staat, in dem jede Kleinigkeit für eine Denuntiation genützt wurde, gefährlich werden können. Die flaue Publikumsreaktion basierte nicht auf Ablehnung, sondern auf der Angst, wegen der Zustimmung zur Rechenschaft gezogen zu werden.
Zu den Aufnahmen:
Hier zeigt es sich, wie heikel dieses Werk ist, wie schwierig es ist, diesen leicht ironischen, aber keineswegs satirischen Tonfall zu treffen.
Mrawinskij ist natürlich glänzend, Barschai und Kitaenko sind für mein Gefühl etwas zu gewichtig, auch bei Gergiev ist für mich etwas zu viel Druck dahinter. Katastrophal finde ich Bernsteins Mißverständnis - eine Musical-Ouvertüre ist das Werk nun auch wieder nicht! Die beste reine West-Aufnahme legt meiner Meinung nach Hugh Wolff mit dem RSO Frankfurt hin.
Aber es punkten für mich auch hier wieder die üblichen Verdächtigen im Fall Schostakowitsch am höchsten: Kondraschin wagt es, dieses Leichtgewicht wirklich als solches zu dirigieren mit Witz und Pfiff und merklicher Freude an dem Späßchen - und eröffnet im Kontext mit dem Hintergrund des Werkes am besten die unglaubliche Frechheit, die sich Schostakwitsch da herausgenommen hat.
Bei Roschdestwenskij ist der Ton schon wieder schärfer, etwas mehr in Richtung Satire. Aber es funktioniert, weil Roschdestwenskijs Tempi immer frisch bleiben und das Zusammenbrechen der heroischen Gesten nicht übertrieben wird, sondern eher als Pointe eines (politischen) Witzes verstanden wird.