Karfreitag- welche Matthäus-Passion hört ihr ?

  • Top.

    Ich bin gerade aus der Passion wieder aufgetaucht.

    Meditativ, sensibel, ausbalanciert.

    Man sollte ja auch das Cover beachten.

    The choir of Kings College. Er ist quasi das Herz der Aufnahme und jegliches Überbetonen von kräftigen Stimmen, egal ob weiblich oder männlich, würde die Balance zerstören.

    So passt auch der wunderbare Countertenor David Alsopp.

  • Ich habe keine Aufnahme aufgelegt, sondern höre im WDR 3 Hörfunk gerade diese:



    Es ist die zweite Aufnahme von Herreweghe mit seinem Collegium Vocale Gent und den Solisten Bostridge, Scholl, Güra, Rubens, Volle.



    Liebe Grüße


    Portator

  • Ich habe die letzte halbe Stunde hier hereingehört (Beitrag 92) und muss sagen, dass diese Aufnahme bei weitem nicht heranreicht an die Live-Aufnahme 2010 (Essen, Köln). Es liegt vor allem an den Solisten. Ian Bostridge ist mir, wenn man das sagen darf, zu "süßlich", Sibylla Rubens trifft den richtigen Ton, Güra ist mir zu blass, besonders Volle ist zu baritonal. Ich merke das immer an einem meiner Lieblingsrezitative und -arien, nämlich an "Am Abend, da es kühle ward" und "Mache dich mein Herze rein". Stephen McLeod hat das 2010 ideal gesungen. Was mich dabei noch zusätzlich stört, ist das viel zu rasche Tempo. Vor allem das Rezitativ muss relativ langsam gesungen werden, weil der Text so theologisch bedeutend ist, jedenfalls wichtiger als die Arie. Insgesamt ist es sicher eine gute Aufnahme, aber das Bessere ist des Guten Feind.

    Schönheit du kannst zwar wol binden...

    Schönheit machet viel zu blinden...

    Schönheit alle Freyer grüssen...

    Schönheit reitzet an zum küssen...

    Schönheit lässt sich gerne lieben...

    (Andreas Hammerschmidt,1611-1675)

  • Der renommierte Düsseldorfer Musikkritiker Wolfram Goertz (Rheinische Post) hat am 1.4. eine ausführliche Übersicht über 4 Neuaufnahmen von Matthäuspassion und Johannespassion gegeben. In diese Übersicht ist ein großes Foto und eine Würdigung der Sopranistin Dorothee Mields (aus Dinslaken, bei uns um die Ecke) eingebaut. Ich mache hier eine Kurzfassung, danach kann jeder selber nachsehen.

    1. Johannespassion: Collegium vocale Gent, Herreweghe (Schmitt, Guillon, Mields, Kooj). Hier bemängelt Goertz zu großen Manierismus in den Chorälen und die schwache Leistung des Evangelisten Maximilian Schmitt.

    2. Johannespassion: Gächinger Kantorei, Rademann. Hier meint er, dass alles zu unverbindlich ist und bemängelt den Altus von Benno Schachtner "in seiner wummernden Diktion".

    3. Matthäuspassion: Bach-Collegium Japan, Suzuki: eine gute Aufnahme, aber völlig überzogen interpretierte Choräle. Diesen Fehler machen viele Dirigenten. Die Choräle imitieren den Gemeindegesang, sodass die Hörer diese Stücke - mindestens stumm - mitsingen können. Es ist verfehlt, sie zu stark textnah zu interpretieren. Die meisten Choräle kenne ich noch. Man hört sofort, ob ein Dirigent im Kreis der evangelischen Kirche aufgewachsen ist.

    4. Matthäuspassion: Gli Angeli Genève unter Stephan MacLeod (einer meiner Lieblingsbässe, hier als Dirigent). Eine etwas konventionelle, trotzdem ansprechende Darbietung mit Dorothee Mields und einem aufregenden neuen Evangelisten, Benjamin Bruns.

    Schönheit du kannst zwar wol binden...

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    (Andreas Hammerschmidt,1611-1675)

  • Zitat von Dr. Pingel

    Stephen McLeod hat das 2010 ideal gesungen

    Zitat von Dr. Pingel

    Gli Angeli Genève unter Stephen McLeod (einer meiner Lieblingsbässe, hier als Dirigent).

    Werter dr.pingel, der gute Mann heisst Stephan MacLeod.

    Il divino Claudio
    "Wer vermag die Tränen zurückzuhalten, wenn er den berechtigten Klagegesang der unglückseligen Arianna hört? Welche Freude empfindet er nicht beim Gesang seiner Madrigale und seiner Scherzi? Gelangt nicht zu einer wahren Andacht, wer seine geistlichen Kompositionen anhört? … Sagt nur, und glaubt es, Ihr Herren, dass sich Apollo und alle Musen vereinen, um Claudios vortreffliche Erfindungsgabe zu erhöhen." (Matteo Caberloti, 1643)

  • In der Tat!8-) Danke, ich habe es korrigiert.

    Schönheit du kannst zwar wol binden...

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    (Andreas Hammerschmidt,1611-1675)

  • Eine der für meine Ohren besten Kompositionen einer Passionsmusik nach dem Evangelisten Matthäus. Und als ein begeisterter Telemann-Hörer muss ich bekennen, dass ich nur diese eine von mehreren Matthäus-Vertonungen des Magdeburger Meisters habe. Insofern vermag ich nicht zu sagen, ob Telemanns andere Kompositionen dieses Bibel-Textes, wie man oftmals lesen kann, den Standard, denn diese 1730er Passion vorgibt, auch hält. Jedenfalls hat eine Telemann-Passion, gleich nach welchem der Evangelisten, einen Vorzug gegenüber Bach: Sie ist kurzweiliger und in harten Kirchenbänken sicherlich nicht so anstregend für das "Hinterteil" - was im häuslichen Bereich natprlich keine Rolle spielt, die Kürze schon. Was hier nach künstlerischer Abwertung sich liest, ist jedoch keinesfalls so gemeint, denn der Gipfel Bach bleibt ja trotzdem bestehen.


    :hello:

    .


    MUSIKWANDERER

  • Gerade klingt die Bach'sche Matthäus-Passion aus. Ein Rundfunk-Mitschnitt aus Boston von 1959 unter dem legendären Charles Munch in astreinem Stereo (u. a. hier erhältlich). Meine Höreindrücke sind doch deutlich nachdrücklicher als vor etlichen Jahren. Ich weiß nicht, ob das an der Aufnahme lag (Klemperer gilt doch als Klassiker). Wohl eher am damals fehlendem Zugang. Für manche Werke braucht man eine gewisse Reife. Noch immer liegt mir der dramatischere Ansatz der Johannes-Passion eher, doch hat die Matthäus-Passion ja durchaus auch stellenweise Dramatik zu bieten. Frappierend die Stelle, wo das Volk schreit: "Barabbam!" Das geht ja fast schon in eine atonale Richtung, sehr schrill, da zuckt man auf. Es kann natürlich sein, dass Munch das besonders betont bringt. Von diesem Dirigenten kenne ich keine mittelmäßigen oder gar schlechten Interpretationen.

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Die JoPa hat halt auch deutlich weniger Stoff (beginnt mit der Gefangennahme, da hat die MPa schon 23 Nummern vorbei!), die turbae sind teilweise "naturalistischer". Letzteres finde ich aber nicht unbedingt überzeugender; zB gefällt mir das wuchtige "Lass ihn kreuzigen" in der MPa besser als das mehrfache hektische "Kreuzige, kreuzige..." usw.

    Bzgl. der Choräle hat man in früheren Aufnahmen (habe unlängst Scherchens Aufn. der JoPa von 1961-62 gehört) oft sehr langsame, "meditative" Tempi gewählt. Die ersten HIP-Aufnahmen haben dann meinem Eindruck nach eher auf zügig-geradlinige Choräle (nach Art eines schlichten Gemeindegesangs) gesetzt. Noch später gibt es dann wieder eine Tendenz zu mehr Differenzierung zwischen den verschiedenen Chorälen je nach Text/Kontext. Wie fast immer kommt es hier auf Nuancen. Zu geradeheraus verschenkt evtl. schon einiges an Ausdruckwirkung, aber ich meine auch, dass es eine Gefahr des Manierierten gibt, die gerade zu den Chorälen nicht passt.

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Zitat von Dr. Pingel

    und bemängelt den Altus von Benno Schachtner "in seiner wummernden Diktion".

    Ich hätte zu gerne gewusst was eine wummernde Diktion ist!?

    Ebenso, warum unverbindlich, ich finde der Evangeliist macht das sehr schön und mit bedacht, nicht aufdringlich (vielleicht meint er das)* sonder wohlüberlegt.

    Der Chor ist sehr gut und die Solistenriege singt mit Ausdruck und eher mit dienenden dem Werk gerechten unaufdringlichen Zugriff.*

    Zitat von Dr. Pingel

    Ich mache hier eine Kurzfassung, danach kann jeder selber nachsehen.

    Für einmal lesen gebe ich kein Geld aus!


    LG Fiesco

    Il divino Claudio
    "Wer vermag die Tränen zurückzuhalten, wenn er den berechtigten Klagegesang der unglückseligen Arianna hört? Welche Freude empfindet er nicht beim Gesang seiner Madrigale und seiner Scherzi? Gelangt nicht zu einer wahren Andacht, wer seine geistlichen Kompositionen anhört? … Sagt nur, und glaubt es, Ihr Herren, dass sich Apollo und alle Musen vereinen, um Claudios vortreffliche Erfindungsgabe zu erhöhen." (Matteo Caberloti, 1643)

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  • Für einmal lesen gebe ich kein Geld aus!


    LG Fiesco

    Diesen Satz habe ich nicht verstanden.

    Ansonsten habe ich doch sehr klar gesagt, dass es eine Vorstellung neuer Aufnahmen der Passionen ist, für die der Kritiker bezahlt wird, dass er sie hört und vorstellt. Nur diese Vorstellung war beabsichtigt, selber habe ich die neuen CDs nicht gehört.

    Schönheit du kannst zwar wol binden...

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    (Andreas Hammerschmidt,1611-1675)

  • Diesen Satz habe ich nicht verstanden.

    Ansonsten habe ich doch sehr klar gesagt, dass es eine Vorstellung neuer Aufnahmen der Passionen ist, für die der Kritiker bezahlt wird, dass er sie hört und vorstellt. Nur diese Vorstellung war beabsichtigt, selber habe ich die neuen CDs nicht gehört.

    Man kann es nicht lesen ohne zu bezahlen!


    OK, der Rest ist dann erledigt, auch ohne Antwort!


    LG Fiesco

    Il divino Claudio
    "Wer vermag die Tränen zurückzuhalten, wenn er den berechtigten Klagegesang der unglückseligen Arianna hört? Welche Freude empfindet er nicht beim Gesang seiner Madrigale und seiner Scherzi? Gelangt nicht zu einer wahren Andacht, wer seine geistlichen Kompositionen anhört? … Sagt nur, und glaubt es, Ihr Herren, dass sich Apollo und alle Musen vereinen, um Claudios vortreffliche Erfindungsgabe zu erhöhen." (Matteo Caberloti, 1643)


  • Mir ist dieser Tage wieder diese Aufnahme untergekommen. Ich hatte sie sehr lange nicht gehört und staune nun, wie erfüllt und gelungen sie ist für mein Dafürhalten. Theo Altmeyer hat als Evangelist wirklich etwas zu berichten - und er hat auch einen eigenen Thread. Unaufgeregt, doch voller Ehrfurcht und eigener Ergriffenheit. Es ist, als höre man die Geschichte zum ersten Mal. Was für eine wunderbar geführte Stimme! So gut hatte ich ihn nicht in Erinnerung. Man sollte eben des öfteren Aufnahmen hervorholen, die man fast schon vergessen hatte. Mitunter ist mir das Tempo zu behäbig. Das hat aber den großen Vorteil, dass man alles versteht. Das ist mir sehr, sehr wichtig, obwohl ich den Text gut memoriert habe.


    In diesem Sinne schöne Ostern!

    Es grüßt Rüdiger als Rheingold1876


    "Was mir vorschwebte, waren Schallplatten, an deren hohem Standard öffentliche Aufführungen und zukünftige Künstler gemessen würden." Walter Legge (1906-1979), britischer Musikproduzent

  • Ich habe diese Aufnahme auch und schätze sie sehr. Sie war für mich die beste "normale" Aufnahme vor der HIP-Periode. Sehr gut kann ich mich auch an die beiden Sängerinnen erinnern, Teresa Zylis-Gara und Julia Hamari, die regelmäßig in Düsseldorf in der Oper sangen. Besonders das berühmte Duett "So ist mein Jesus nun gefangen" mit dem nachfolgenden Chor "Sind Blitze, sind Donner..." kann man sich heute noch gut anhören. Die Wertschätzung von Theo Altmeyer teile ich ebenfalls. Das behäbige Tempo war damals Standard, denn für die Leichtigkeit, mit der man heute Bach singt, war damals die Schulung und die Zahl der Choristen und die Zahl der Orchestermitglieder zu groß.

    Schönheit du kannst zwar wol binden...

    Schönheit machet viel zu blinden...

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    Schönheit lässt sich gerne lieben...

    (Andreas Hammerschmidt,1611-1675)

  • Johann Sebastian Bach Matthäus Passion BWV 244


    Verfügbar auf arte mediathek vom 02/04/2021 bis 24/06/2021



    "Die Deichtorhallen in Hamburg sind der Rahmen für bildgewaltiges Musiktheater mit Starbesetzung: Romeo Castellucci inszeniert Johann Sebastian Bachs Matthäus-Passion. Die musikalische Leitung hat der Generalmusikdirektor der Staatsoper Hamburg Kent Nagano. Die Solisten sind erstklassig besetzt: Zu erleben sind u.a. Ian Bostridge, Hayoung Lee, Christina Gansch und Dorottya Láng.

    Die gerade sanierte Halle für aktuelle Kunst der Deichtorhallen in Hamburg ist der Rahmen für bildgewaltiges Musiktheater mit Starbesetzung: Romeo Castellucci, einer der wichtigsten europäischen Theaterkünstler, inszeniert Johann Sebastian Bachs Matthäus-Passion. Die musikalische Leitung hat Kent Nagano, der Generalmusikdirektor der Staatsoper Hamburg. Castelluccis Aufführungen bewegen sich im Grenzgebiet von Theater, Installation und Performance. Er forscht nach den Wechselwirkungen zwischen Bild und Betrachter. Im Zentrum seiner Arbeit steht die sinn- und identitätsstiftende Macht der Bilder in unserer abendländischen Kultur. 2013 wurde Castellucci für sein Gesamtwerk mit dem Goldenen Löwen der Biennale Venedig ausgezeichnet. Bei der Matthäus-Passion zielt Castellucci mit seiner Inszenierung ins Herz des christlichen Glaubens: die Erlösung der Menschheit durch den Opfertod Jesu Christi. Die komplett in Weiß gehaltene Bühne intensiviert den Blick auf das Geschehen. Erläuternde Texte leiten den Zuschauer durch die Inszenierung wie der Katalog einer Museumsausstellung. Die Solisten des außergewöhnlichen Bach-Projektes „La Passione“ sind erstklassig besetzt: Zu erleben sind als Evangelist Ian Bostridge, die Sopranistinnen Hayoung Lee und Christina Gansch, Altistin Dorottya Láng, der Tenor Bernard Richter und als Jesus/Bass Philippe Sly. Es singt unter der Leitung von Martin Steidler die Audi Jugendchorakademie."



    https://www.arte.tv/de/videos/062272-000-A/la-passione/


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    Vor Schuberts Musik stürzt die Träne aus dem Auge, ohne erst die Seele zu befragen:
    so unbildlich und real fällt sie in uns ein. Wir weinen, ohne zu wissen warum; Theodor W. Adorno - 1928




  • Diese Matthäus-Passion von 2016 habe ich mir vergangene Nacht im TV in Teilen angesehen. Es tut mir leid, das sagen zu müssen: Der Evangelist ging mir derart auf die Nerven, dass ich nicht durchhielt. :no: Die Inszenierung? Mir war das etwas zuviel an Szene. Dabei geriet nach meinem Gefühl das Werk selbst fast unter die Räder. Ich höre diese Passion lieber, als dass ich sie so sehe. Es kann sein, dass die Kameras das, was die eigentliche Wirkung dieser extremen Breitwandproduktion ausmachte, nicht einfangen konnten. Die Linse ist Auswahl, subjektive Auswahl. Man ist ihr quasi ausgeliefert.

    Erläuternde Texte leiten den Zuschauer durch die Inszenierung wie der Katalog einer Museumsausstellung.*

    * Dieses Zitat ist selbst ein Zitat - und zwar aus der Programmvorschau. Es stammt also nicht von moderato!


    Diese Texte fand ich letztlich belehrend und überflüssig. Sie waren teils auch nur schwer zu entziffern. Wenn sich eine szenische Deutung nicht aus sich heraus erklärt, taugt sie - wie ich finde - nichts.

    Es grüßt Rüdiger als Rheingold1876


    "Was mir vorschwebte, waren Schallplatten, an deren hohem Standard öffentliche Aufführungen und zukünftige Künstler gemessen würden." Walter Legge (1906-1979), britischer Musikproduzent

  • Ich habe mich am gestrigen Karfreitag mal nicht für meine Lieblingsaufnahme, die späte Richter-Aufnahme mit Mathis, Baker, Schreier, Fischer-Dieskau und Salminen, entschieden, sondern für diese:



    Grümmer und den jungen Fischer-Dieskau fand ich einfach himmlisch, Höffgen auch sehr gut, Dermota hat auch seine Vorzüge, aber hat an einigen Stellen doch auch seine Problemchen. Diese hat Edelmann stimmlich zwar nicht, trotzdem bleibt er für mich ein Langweiler, der erst gar keine Gestaltung versucht, die mich erreichen könnte.

    Furtwänglers Aufnahme hat eine Aura, diese immer wieder vorkommenden Temposchwankungen, so falsch sie auch objektiv sein mögen, machen die Sache andererseits aber auch besonders spannend.

    Da die Tonqualität weit schlechter ist als beim späten Richter, was insbesondere meinen Hörgenuss der Chöre doch beeinträchtigt hat, wird die nächste Aufnahme des Stückes, die ich höre, sicher eine andere sein.

    Beste Grüße vom "Stimmenliebhaber"

  • Lieber Rheingold1876


    Musikalisch hat mir die Darbietung ebenfalls nicht zugesagt. Gefallen hat mir, dass der Chor aus ausnahmslos jungen Sängern bestand.


    Ein Oratorium ist ein Oratorium und bedarf keiner szenischen Unterstützung. Da gehe ich mt dir einig. Die Staatsoper Hamburg wollte die Passion in unsere Zeit stellen und hat Romeo Castelluccis Stück „Über das Konzept des Angesichts bei Gottes Sohn“ übernommen. In Paris war polizeilicher Schutz vor empörten Katholiken nötig. In Hamburg ging es sachlicher über die Bühne.

    Ohne preiszugeben, worin dieses Konzept besteht, war ich von den Bezügen, die Castellucci durch die gezeigten Attribute und den eingeblendeten Texten herstellt, überrascht. (Die Zuschauer erhielten ein Textbüchlein mit den Texten.) Leiden und Tod hat heute andere Begleiterscheinungen als zu Zeiten Bachs. Was gezeigt wurde und der begleitende Text war für mich erhellend. Es lief in mir ein innerer Monolog mit dem gehörten Text des Oratoriums und dem, was die Attribute im Szenenraum mit unserem Glauben und der Gegenwart zu tun haben, ab. Einzelnes fand ich voyeuristisch.


    Die Bühnen-Crew ging routiniert ihren Aufträgen nach. Die Bewohner Hamburgs, die sich zeigten, haben mich daran erinnert, dass Bachs Passion eine Leidensgeschichte darstellt: Je nach Glaube oder Nicht-Glaube des Betrachters wird sie als die eines Menschen oder des Sohnes Gottes erlebt.


    Als Evangelist gefielt mir Ian Bostridge mit seiner überbetonten Aussprache nicht. Er ging stimmlich an seine Grenzen. Englischen Akzent kann man ihm nicht vorwerfen. Ich gebe zu bedenken, der Aufführungsort war eine riesige Halle. Ob die Sänger über Lautsprecher verstärkt wurden, konnte ich nicht beobachten. Mikrofone waren platziert. Die Sopranistinnen Hayoung Lee und Christina Gansch, die Altistin Dorottya Láng, der Tenor Bernard Richter und als Jesus der Bass Philippe Sly haben mich überzeugt.

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    Vor Schuberts Musik stürzt die Träne aus dem Auge, ohne erst die Seele zu befragen:
    so unbildlich und real fällt sie in uns ein. Wir weinen, ohne zu wissen warum; Theodor W. Adorno - 1928




  • Ein Oratorium ist ein Oratorium und bedarf keiner szenischen Unterstützung.

    So pauschal würde ich das nicht unterschreiben wollen. Es ist zwar in Prinzip richtig, aber es gibt Ausnahmen, welche das Werkerlebnis durchaus vertiefen können. Das ging mir schon bei Götz Friedrichs szenischer Umsetzung in den Neunzigern an der Deutschen Oper Berlin so - und erst recht beim szenischen arrangement von Peter Sellars 2010 in der Berliner Philharmonie, das ich mir im letzten Jahr noch einmal angesehen habe, als die Digital Concert Hall kostenlos verfügbar war.


    Diese Rattle-Sellars-"Matthäus-Passion" halte ich für ungemein lohnend:


    Beste Grüße vom "Stimmenliebhaber"

  • Lieber Stimmenliebhaber


    Diese Aufführung Matthäus-Passion der Berliner Philharmonie habe ich auch gesehen. Ich besitze sie auf DVD. Sie spielt sich aber auf einer gänzlichen anderen künstlerischen Ebene ab, als die Darbietung durch die Hamburger Staatoper. In der Aufzeichnung aus der Elbestadt wurde mein Intellekt mehr gefordert.


    Sind uns die Worte Picanders im bachschen Oratorium zu fern, dass sie eine szenische Interpretation erfahren müssen?

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    Vor Schuberts Musik stürzt die Träne aus dem Auge, ohne erst die Seele zu befragen:
    so unbildlich und real fällt sie in uns ein. Wir weinen, ohne zu wissen warum; Theodor W. Adorno - 1928




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  • Sind uns die Worte Picanders im bachschen Oratorium zu fern, dass sie eine szenische Interpretation erfahren müssen?

    Lieber "moderato",


    sie (die Worte) sind uns jedenfalls etwa 300 Jahre entfernt und diese Entfernung wird immer größer. Von MÜSSEN war nicht die Rede, um Gottes Willen! Ich wollte nur darauf hinweisen, dass eine szenische Interpretation lohnend sein KANN. Hamburg habe ich nicht gesehen und habe es auch nicht vor.

    Beste Grüße vom "Stimmenliebhaber"

  • Alle Jahre wieder kommt bei mir die Aufnahme unter Karl Münchinger auf den nicht mehr vorhandenen Plattenteller. In den frühen Siebzigern teuer erworben, später von der schwarzen auf silberne Scheibe gewechselt. Für die Remastering-Version verlangt Decca unverändert ordentlich Geld. Seit Jahrzehnten ist diese Matthäuspassion ein Dauerbrenner in deren Katalog.


    Gänsehaut wieder und wieder bei "Ich will bei meinem Jesu wachen" - ein Glanzstück der umfangreichen Diskografie von Fritz Wunderlich.


  • Alle Jahre wieder kommt bei mir die Aufnahme unter Karl Münchinger auf den nicht mehr vorhandenen Plattenteller. In den frühen Siebzigern teuer erworben, später von der schwarzen auf silberne Scheibe gewechselt. Für die Remastering-Version verlangt Decca unverändert ordentlich Geld. Seit Jahrzehnten ist diese Matthäuspassion ein Dauerbrenner in deren Katalog.

    Auch mir geht diese Aufnahme immer wieder sehr nahe. HIP hin, HIP her. Ich habe mich durch alle Tontröger-Epochen gehört und lande immer wieder genau hier. Was den Preis der verlinkten Ausgabe angeht: Eloquence Australian war immer etwas teurer.

    Es grüßt Rüdiger als Rheingold1876


    "Was mir vorschwebte, waren Schallplatten, an deren hohem Standard öffentliche Aufführungen und zukünftige Künstler gemessen würden." Walter Legge (1906-1979), britischer Musikproduzent

  • Lieber Rheingold1876


    Musikalisch hat mir die Darbietung ebenfalls nicht zugesagt. Gefallen hat mir, dass der Chor aus ausnahmslos jungen Sängern bestand.


    Ein Oratorium ist ein Oratorium und bedarf keiner szenischen Unterstützung. Da gehe ich mt dir einig. Die Staatsoper Hamburg wollte die Passion in unsere Zeit stellen und hat Romeo Castelluccis Stück „Über das Konzept des Angesichts bei Gottes Sohn“ übernommen. In Paris war polizeilicher Schutz vor empörten Katholiken nötig. In Hamburg ging es sachlicher über die Bühne.

    Lieber moderato, ich wollte ja tapfer sein und drückte also den Knopf, um die Sendung dieser szenischen "Matthäus-Passion" aus Hamburg fortzusetzen. Als dann eine Wachmaschine auf die Breitwandbühne gerollt wurde, konnte ich nicht mehr folgen. Ich gehöre nämlich nicht zu denen, die die Augen schließen, wenn ihnen eine Darbietung optisch nicht zusagt. Zumal ich die starken Bilder nicht los werden, die mir einst die choreographische Umsetzung des Werkes durch John Neumeier vermittelten.



    Ich erlebte hier in Berlin ein Gastspiel, bei dem auf der Bühne und teils auch im Zuschauerraum die Tänzer in Erscheinung traten, hinter einem Schleier auf der Hinterbühne die Academy of St Martin in the Fields unter Neville Marriner wirkte. Ich trage einige solcher musikalische Erlebnisse mit mir herum, die sind in der Erinnerungen so stark, dass sie sich immer und immer wieder vor das schieben, was ich gerade jetzt höre und sehe und was mir dadurch völlig bedeutungslos erscheint, so gut es in Teilen auch sein möge.

    Es grüßt Rüdiger als Rheingold1876


    "Was mir vorschwebte, waren Schallplatten, an deren hohem Standard öffentliche Aufführungen und zukünftige Künstler gemessen würden." Walter Legge (1906-1979), britischer Musikproduzent

  • Lieber Rheingold1876


    Letzthin bin ich in einem Booklet-Text dem provokanten Satz begegnet, dass nur Kunst zur Kunst taugt, die zensuriert wird.

    Es kann einem etwas gegen das eigene ästhetische Empfinden gehen. Man hat seine Präferenzen. Es ist jedem freigestellt, ob man sich mit einer Inszenierung auseinandersetzen möchte.


    Ich habe mich ein zweites Mal der Matthäus-Passion der Hamburger Staatsoper ausgesetzt. Ich wollte nichts über die Inszenierung offenbaren, tu es nun trotzdem, um etwas von meinen Eindrücken zu schildern.


    Der Szene mit der Waschmaschine geht eine der bewegendsten Teile voran. Der zehnte Teil wird Tempel genannt. Eine 74jährige Frau betet knieend. entkleidet sich, wird in einen Kokon gesteckt, der die Form der betenden Gestalt aufweist. Minutenlang ist sie darin. Man hört den Text der Passion, die Musik und ist in Gedanken bei der Frau und setzt Bezüge. Es ist eine ehemalige Klosterschwester, die ihre Lebensgeschichte darstellt. Mit 16 Jahren war sie nach dem Tod ihrer Schwester in ein Kloster eingetreten. Nach 41 Jahren ist sie aus dem Kloster ausgetreten. Die Gründe will sie nicht nennen. Sie bezeichnet sich heute als Atheistin. Als sie aus der starren Hülle befreit wird, ertönt die Arie Erbarme dich mein Gott. In ein rotes Tuch gehüllt schreitet die Frau von der Bühne. Der Gesang der von der Soloviolie begleitet wird, geht in den elften Teil Preis des Blutes über, worin die von dir erwähnte Waschmaschine vorkommt. Es wird ein Laken aus einer verschweissten, mit einer Klebeetikette beschrifteten Kunststoff-Hülle entnommen. Das Tuch, das vor dem Publikum von einem Mitglied der Bühnencrew entfaltet wird, zeigt die blutigen Spuren einer Geburt, ehe es in die Waschmaschine gesteckt wird. Die Assoziationen von Reinigung im übertragenen Sinne und mit dem Grabtuch Christi drängen sich mir auf.

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    Vor Schuberts Musik stürzt die Träne aus dem Auge, ohne erst die Seele zu befragen:
    so unbildlich und real fällt sie in uns ein. Wir weinen, ohne zu wissen warum; Theodor W. Adorno - 1928




  • Ich habe mir heuer wieder einmal die Matthäus-Passion von John Eliot Gardiner angehört. Ich habe mir damals die Aufnahme wegen des Jesus von Andreas Schmidt zugelegt, der einer meiner absoluten Lieblingssänger ist und den Jesus auch sehr gut singt. Leider kann mich auf dieser CD sonst aber nur die Altistin überzeugen. Alle anderen hier aufgebotenen Sänger/innen sind herzlich schlecht, singen ziemlich dünn und überhaupt nicht im Körper. Auch das Dirigat von Gardiner ist nicht unbedingt mein Favorit. Insgesamt ist diese Aufnahme in hohem Maße mittelmäßig.


    Ich wollte mir neulich die Aufnahme von Furtwängler bestellen. Die scheint aber nicht mehr lieferbar zu sein. Weiß vielleicht irgendjemand, wo man diese CD noch - nicht zu teuer - bekommt?


    Frohe Ostern


    Lustein

  • Ich wollte mir neulich die Aufnahme von Furtwängler bestellen. Die scheint aber nicht mehr lieferbar zu sein. Weiß vielleicht irgendjemand, wo man diese CD noch - nicht zu teuer - bekommt?

    Als Daten-CD (im mp3-Format) ist sie (gemeinsam mit zwei anderen Aufnahmen) zu einem günstigen Preis bei JPC lieferbar.


    Beste Grüße vom "Stimmenliebhaber"

  • Alle anderen hier aufgebotenen Sänger/innen sind herzlich schlecht, singen ziemlich dünn und überhaupt nicht im Körper.

    So und nicht anders wird das stimmen! Anthony Rolfe Johnson und Barabara Bonney sind wahrlich herzlich schlechte Sänger, insbesondere bei Bach! Und wo das technisch angeblich so vorbildliche Singen Andreas Schmidt hingeführt hat, kann man auf diesem Mitschnitt eindrücklich nachhören:



    Natürlich kann jeder seinen eigenen Geschmack haben, aber Äußerungen und Bewertungskriterien wie im oben zitierten Beitrag sind für mich eindeutig Realsatire!

  • Ich habe mir heuer wieder einmal die Matthäus-Passion von John Eliot Gardiner ....

    Alle anderen hier aufgebotenen Sänger/innen sind herzlich schlecht, singen ziemlich dünn und überhaupt nicht im Körper.

    Frohe Ostern

    Lustein

    Lieber Herr Musikkritiker,

    als musikalischer und gesangstechnischer Vollblutlaie bitte ich dich um Erklärung, was „nicht im Körper singen“ bedeutet.
    Kann man auch außerhalb des Körpers singen? Woran erkennt man das?

    Frohe Ostern 🐣

    Freundliche Grüße Siegfried

  • Lieber Rheingold1876


    Letzthin bin ich in einem Booklet-Text dem provokanten Satz begegnet, dass nur Kunst zur Kunst taugt, die zensuriert wird.

    Es kann einem etwas gegen das eigene ästhetische Empfinden gehen. Man hat seine Präferenzen. Es ist jedem freigestellt, ob man sich mit einer Inszenierung auseinandersetzen möchte.

    Lieber modeato, dieser provokante Satz ging mir die ganze Zeit durch den Kopf. Nun bin ich zu dem Schluss gelangt, dass ich ihm nichts abgewinnen kann für mich. Ich finde ihn sogar falsch, bedrohlich und arrogant, was er wohl auch sein will. Dagegen habe ich grundsätzlich nichts einzuwenden. Künstler müssen und können auch provozieren, um auf sich aufmerksam zu machen. Das gehört zum Geschäft. Gewiss, durch Zensuierung jedweder Art wird ein schriftlich überliefertes Kunstwerk nicht beschädigt. Es besteht die Möglichkeit, jederzeit zum Original zurückzufinden. Niemand dürfte daher kommen und Partituren verbrennen. Was aber ist mit der bildende Kunst? Taugt die auch nur dann zur Kunst, wenn sie zensuiert wird?


    Um zur Matthäus-Passion zurückzukommen. Sie erschließt sich mir auch ohne Bilder, durch die ich mich gestört fühle, was offenbar auch ein Zweck der Darbietung gewesen ist. Ich kenne das Werk nämlich sehr gut. Diese Waschmaschine und viele andere Gegenstände empfand ich ehr als Profanisierung denn als Vertiefung. Ich verspüre keinerlei Bedarf, mich mit einer Inszenierung, die ich als zufielst belehrend erlebte wie viele ähnliche Umsetzungen, auseinanderzusetzen. Warum auch? Das ist meine Freiheit. Ich danke Dir herzlich für Deine Mühe, einige Aspekte dargelegt zu haben. Sie sind gewiss auch für andere lesenswert.

    Es grüßt Rüdiger als Rheingold1876


    "Was mir vorschwebte, waren Schallplatten, an deren hohem Standard öffentliche Aufführungen und zukünftige Künstler gemessen würden." Walter Legge (1906-1979), britischer Musikproduzent

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