Hallo,
heute erstmals gehört:
Boris Tischtschenko (*1939)
Sinfonie Nr.4 op.61 (1974)
Leningrader Philharmoniker / Gennadi Roschdestwenski
Bei dieser Aufnahme, an die ich gerade kürzlich gekommen bin, handelt es sich um einen Livemitschnitt, ich weiß aber nicht, aus welchem Jahr. Das Werk selbst ist monströs: mit 93 Minuten Spieldauer dürfte es sich um Tischtschenkos längste Sinfonie handeln. Sie ist fünfsätzig, wobei die ersten vier Sätze jeweils rund 20 Minuten Spieldauer einnehmen, das Finale dann "nur" noch neun.
Der erste Satz ist recht zerklüftet und arbeitet mit charakteristischen Akkordfolgen in teils extremen Lagen. Was dann an zweiter Stelle folgt, ist ein völlig verrücktes Scherzo: heftige Schlagzeuggewitter, schrille Dissonanzen, Posaunenglissandi - eine Rhythmusorgie in brachialster Form. Der langsame Satz an dritter Stelle ist monologisierend, Motivfetzen werden unbegleitet in den Raum gestellt.
Auf Onno van Rijens Seite steht, dass diese Sinfonie für Erzähler und Orchester komponiert sei - man muss allerdings bis zum vierten Satz warten, bis jener zum (kurzen) Einsatz kommt. Auf eine bewegte Orchestereinleitung folgt die Rezitation, und danach verblüffenderweise ganz traditionelle, nahezu ungetrübte Harmonik. Das Ganze wird enorm gesteigert duch Blechbläser, Glocken und schließlich eine Orgel. Das Finale bietet dann einen fast ein wenig augenzwinkernden, grundsätzlich positiven Abschluss.
Das ist natürlich eine Monumentalsinfonie par excellence, aber - im Gegensatz zum Cholminow von heute morgen - ganz bestimmt nicht das, was man mit sowjetischer offizieller Musik assoziieren würde. Tischtschenko inkorporiert moderne Kompositionstechniken (z.B. Aleatorik, Cluster usw.), Geräusche, scheut aber auch traditionelle Harmonik nicht - so wird der Hörer zwischenzeitlich mit aggressivsten Dissonanzbildungen konfrontiert, aber die Sinfonie endet in C-Dur.
Es ist schon ein sehr interessantes Werk, das Tischtschenkos immense Begabung sehr deutlich dokumentiert.
Viele Grüße
Holger