Liebe Leute -
die künstlerische Freiheit ist, für den schöpferischen Künstler, der entscheidende Schritt über die akademischen Vorgaben hinaus. Stolzing wäre hier das Paradebeispiel - "und wie er wollt´, so konnt´ er´s". Nur ein Spezialfall ist die gern mit der künstlerischen Freiheit identifizierte poetische Lizenz - z.B. ein Böhmen, das am Meer liegt.
Für die Romantik entscheidend ist die Abwendung von der doctrine classique und die Hinwendung zu Shakespeare, also die Gestaltung eines dramatischen Konflikts von einem nichtobjektiven Standpunkt aus. Gerade im deutschsprachlichen Bereich geht die Ausgestaltung der inneren Welt auf Kosten der äußeren. Auch der Freischütz ist ja keineswegs aus einem Guß, sondern verbindet Nummernstücke, Charakterszenen, handfeste Ensembles usw., um in der Wolfsschluchtszene mit der alledem zugrundegelegten Konvention radikal zu brechen.
Was die Bühnenkunst von der ausnotierten Spielanweisung der Musik unterscheidet, ist ein Moment des Unberechenbaren. Bereits (das war der Sinn meines obigen Beitrags) die Dramaturgie der Oper fügt dem Handlungsverlauf ein Moment von Asymmetrie hinzu. Höhepunkte emotionaler Verdichtung treiben die Handlung nicht voran, sondern wirken sich retardierend aus. Die Lieblingsform der Oper ist der aus dem "aside"-Sprechen entwickelte Monolog. Das natürliche Element dieser Innerlichkeit ist die Musik - so sehr, daß eine forcierte musikalische Schürzung (etwa im Tristan, Schluß des zweiten Akts, nach Markes Monolog) fast zur Ausnahme wird.
Verdi hat sich auf verschiedenen Ebenen sehr intensiv mit dem Problem der Dramaturgie beschäftigt. Bis zum aktionistischen Falstaff freilich ist es ein weiter Weg; und Schillers Bühneninstinkt im Don Carlos kann nur ausnahmsweise zu sprechtheaterähnlicher musikdramatischer Unmittelbarkeit werden (die Gartenszene zwischen Posa, Elisabetta und Eboli z.B.). Nur in den Meistersingern entwirft Wagner eine vergleichbar aktionistische Partitur, behält diese Tendenzen aber vornehmlich komischen Figuren (v.a. Beckmesser) vor.
Die Musik, so meine These, enthält im Kern eine Tendenz zur Aufhebung der Situation, zu Innenwendung, zur Abkehr von der äußeren Handlung. Bereits hier, in der Ästhetik der Oper, wurzelt im Grunde die doppelte Optik, die dann in der Regieästhetik zu den abweichenden Bildfindungen greift.