Liebe Forianer,
Inspiriert zu diesem Thread wurde ich durch einen Beitrag Sagiits in einem anderen Thread, den ich hier ungekürzt übernehme
ZitatAlles anzeigenVielleicht, wahrscheinlich, gibt es kaum einen Interpreten, eine Interpretation, die allgemein gültig ist. Ich würde- subjektiv- an einige denken, die diesen Status haben müssten,zB KV 595 mit Clara Haskil, aber Musikerleben ist wahrscheinlich im Kern subjektiv, was der eine göttlich findet, wird die andere als langweilig abtun.
Interessant ist die Selbstbefragung, warum man Menschen, die Großes geleistet haben, ablehnt ? Finde ich Böhm eher kapellmeisterhaft, weil ich weiss, dass er ein Dr. iur. war und lehne ich seine Interpretationen ab, weil ich weiss, dass er ein fieser Grantler war, bei dem sensible Kreaturen wie Grümmer weinend vom Set liefen ? Mag ich Karajan nicht, weil mir das Grotzkotzgehabe auf den Zeiger geht ? Mag ich eine Interpretation nicht, weil ich ja nur das Besondere schätze und das kann nicht der Geschmack der Masse sein ?
Je genauer man seine Vorlieben befragt, in desto größere Untiefen gerät man.
Man könnte einwenden, es ist ein spontaner Impuls aus dem Bauch heraus, es gefällt mir einfach nicht. Wichtig wäre dann aber, dass wir nur Aufnahmen hören, ohne zu wissen, wer sie mit wem gemacht hat.
Dann kommen aber die Prägungen hinzu, die wir als Individuen erlebt habe. Die erste Liebe im einem Konzert mit Brahms wird die Beziehung zu diesem Stück mitprägen, das Elternhaus, einzelne einen überwältigende Konzerterlebnisse usw.
Schließlich gibt es die Wissenden, die nicht nur die historischen Kontexten kennen, sondern ein Werk studiert haben, es musikwissenschaftlich erschließen können, die Noten kennen und fachliche Kriterien an der Hand haben, eine Interpretation zu beurteilen.
Geschmack, Vorliebe... das ist ein weites Feld
Zunächst zu den Vorurteilen:
Die Charaktereigenschaften Böhms und Karajans waren Insidern von jeher bekannt, wurden aber zu jeder Zeit anders beleuchtet, je nachdem ob sie in Mode waren oder nicht.
Böhm, der eigentlich Grazer war, avancierte schnell zum "typischen Wiener", ein wenig grantelnd, aber mit weichem Kern. Viele kennen sein Bild nur als 80Jähriger und darüber. Tatsache ist, daß Böhm ein kühler, klug disponierender Analytiker war, der genau jenen Klang zustandebrachte, den "sein" Publikum wünschte, trotzdem nahe an den Intentionen des Komponisten. Man kann sein "Charisma" und seinen eisernen Willen heutigen Generationen am besten dadurch nahebringen, indem man ihnen Böhms Mozart- und Schubert- Interpretationen, die er mit den Berliner Philharmonikern gemacht hat: Sie klingen wie die Wiener Philharmoniker. Böhm hat hier, ähnlich wie Karajan, (und heute Norrington ) einen Orchesterklang ganz auf sein Interpretationsideal hingetrimmt, vom "Kapellmeister" ist da keine Spur.
Dieses Cliché prägten seine Feinde posthum, weil sie ihm zu Lebzeiten nicht ans Leder konnten: Zu einflußreich waren seine Freunde.
Ähnlich verhält es sich mit Karajans "Arroganz", die in Wirklichkeit ein Kunstprodukt war. Karajan war im tiefstenm seines Herzens eher introvertiert. Anfangs verbot er sogar Fernsehaufnahmen, "weil sie die Konzentration störten" Er war zwar auf allen Partys anwesend, allerdings nie lang. Innerlich waren sie ihm ein Greuel. Er hatte ein Interpretationsideal und er fand schließlich "sein" Publikum um das durchzusetzen. Und dabei war er nicht zimperlich.
Aber natürlich haben wir alle Vorurteile, oft auch durchaus positive.
Die Resultieren oft aus Erfahrungen die man in frühester Jugend gemacht hat. Menschen die mit Orangenjuice aus der Pappbox großgeworden sind, empfinden frisch gepressten Orangensaft oft als "zu sauer" oder "eigenartig" ,-)
Dennoch sollte man "Vorurteile " nicht verteufeln, lediglich sehr sorfältig und sparsam mit ihnen umgehen:
Ein Vorurteil (das ist meine Auslegung) ist lediglich eine grobe Orientierungshilfe, um eine erste Einschätzung (die jedoch nicht stimmen muß) vorzunehmen .
Wenn man mich vor die Wahl stellt, ein Konzert unter Rattle und den Berliner Philharmonikern oder das gleiche Programm mit der Abschlußklasse einer Musikhochschule unter einem völlig unbekannten Dirigenten zu besuchen, dann habe ich schon gewählt, auch wenn ich das Schülerorchester vorher noch nie gehört habe. Daß meine Entscheidung natürlich auch trotzdem ein Fehlgriff sein könnte sei unbestritten....
Sehr interessante Bemerkungen zu diesem Thema macht auch Joachim Kaiser in den insgesamt 3 Vorworten (jeweils zu den verschiedenen Auflagen seines Buches)
Und hier sind wir schon beim Thema im Thema:
Wenn ich hier (und anderswo) mit Kaiser konfrontiert werde, so gewinne ich bei oberflächlicher Betrachtung den einDruck eines (angeblich!!!) dogmatischen Kritikers, befallen von Altersstarrsinn, im gestern verharrend - Lese ich jedoch die Vorwörter seiner "Pianistenbibel", dann ist mein Eindruck ein völlig anderer: Ein sehr menschlicher, hochgebildeter und sprachgewandter Kritiker, bar jeder persönlichen Eitelkeit, der ganau die Grenzen jeder Kritik kennt, und sie schon im Vorwort beim Namen nennt, die Profilierungssüchte, junger "Kritikerlehrlinge", die kleinen Feindseligkeiten zwischen Interpreten und Kritikern, die Eitelkeiten der "alten Garde", die Inponderabilitäten der Tagesverfassung von Pianisten (und auch Kritikern) Als das bringt er, wenn auch manchmal nur angedeutet, aus Tapet.
Dazu (schon 1996) die Erkenntnis, die neueste Pianistengeneration nicht mehr so sehen zu können, wie es (wahrscheinlich) der Zeit entspricht. Noch dazu die Relativierung jeder Kritik, bezogen auf die Zeit in der sie gemacht wurde. Kaiser weiß, daß vor 30 Jahren gemachte Aussagen, die damals vielleicht zwar richtig waren, heutigen geschmacklichen Maßstäben (und um nichts anderes handelt es sich -Geschmack !!) eventuell nicht mehr standhalten mögen
Da bleibt nicht mehr viel übrig, von jenem Bild, das das (kollektive) Vorurteil von ihm zeichnet.
So sehe ich auch als eine der Aufgaben dieses Forums darin, vieles althergebrachte andauernd zu hinterfragen, und das Neue, so wertvoll ,u fördern.
Auch ich bin mir bewusst, daß ich in manchen Fällen nicht in der Lage bin gerecht zu urteilen (so ist meine Abneigung gegen "Shooting Stars"- von PR gepusht, derartig ausgeprägt - daß ich wahrscheinlich übersähe, wenn sich wirklich mal (selten genug) ein Ausnahmekünstler darunter befände)
Und genau da - sind die anderen gefragt...
Ein Mammutbeitrag -Hoffentlich wird ein Mammutthread draus.
Beste GRüße aus Wien
Alfred