Was ist dran an Karajan? - Versuch einer Analyse

  • Ernst Grissemann hat im VOR-Magazin, dem in den U-Bahnen bei jeder Sitzgruppe aufgehängten Monatsheft der Wiener Linien, eine Kolumne. Diesmal schreibt er über seine Moderation der TV-Übertragung des Neujahrskonzertes der Wiener Philharmoniker. Seine angenehme Stimme begleitete im Radio und Fernsehen (ORF) die letzten 25 Jahre durch jedes Neujahrskonzert.


    Einige Zeilen widmet er seiner Begegnung mit Karajan.


    "http://www.vormagazin.at" (ohne Anführungsstriche)


    oben auf Active und dann auf VOR-Kolumnen klicken


    "Ich steh' zu meinem Wort"

    Bitte bedenken Sie, dass lautes Husten - auch zwischen den Stücken - die Konzentration der Künstler wie auch den Genuss der Zuhörer beeinträchtigt und sich durch den Filter eines Taschentuchs o. ä. erheblich dämpfen lässt.

  • Da wird er mir gleich noch sympathischer, der Maestro v. Karajan. :D

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Wohl kein Dirigent des 20. Jhs. polarisiert noch heute so sehr wie Herbert v. Karajan. Für die einen ein Abgott, ist er für die anderen ein Scharlatan. 2008 und 2009 werden wir gleich zwei Karajan-Jahre hintereinander erleben: erst den 100. Geburtstag, dann den 20. Todestag (die Schallplatten-Industrie wird dies gewiß ausschlachten). Kein anderer Dirigent wird von der Industrie noch heute so hochgejubelt (mal sehen, ob 2018 Bernsteins 100. Geburtstag ähnlich hochgespielt wird - ich glaube es nicht).


    Unzählige Male vernahm man im Forum von den unterschiedlichsten Mitgliedern die Äußerung, Herbert v. Karajan sei charismatisch gewesen. Aber was machte ihn denn im Gegensatz zu den anderen überhaupt derart charismatisch? Weder sein Landsmann Karl Böhm noch sein (angeblicher) Erzrivale Leonard Bernstein hatten ein derartiges Charisma (was einige Bernstein-Fans natürlich sicher nicht unterschreiben würden ...), ganz zu schweigen von Solti, Giulini oder Wand.


    War es Karajans äußeres Erscheinungsbild?
    Wenn Karajan den Konzertsaal betrat, herrschte Totenstille, ist irgendwo im Forum zu lesen. Noch - oder vielleicht gerade - im hohen Alter war er eine makellose Erscheinung, stets perfekt gekleidet und herausgeputzt; seine extravagante Frisur war ein weiteres Erkennungsmerkmal. Irgendwie verkörperte er noch ein wenig den Geist des alten Österreich-Ungarn, er, Ritter v. Karajan, der er sich den Adelstitel als Künstlernamen rettete.


    War es sein Auftreten?
    Er soll ja - wie man im Thread oft liest - im Grunde ein introvertierter, wenig sprachgewandter Mensch gewesen sein. In der Tat ist er bei manchen Interviews akustisch schwer zu verstehen, er "nuschelt", würde man in Bayern sagen. Machte ihn das etwa erst sympathisch?


    War es sein langsamer körperlicher Niedergang?
    Spätestens seit seinem Schlaganfall (1979) war Karajan erheblich beeinträchtigt beim Dirigieren; schon zuvor plagten ihn zudem Rückenprobleme, die sich erst 1983 nach einer komplizierten Operation besserten (in der Tat wirkt er bei manchen Aufnahmen von 1984 ziemlich vital). Doch der stetige körperliche Verfall war ihm seit Mitte der 80er-Jahre anzusehen. Beinahe hiflos stand er zuletzt auf dem Podium, sichtlich am Ende seiner Kräfte. Von mehreren Helfern wurde er oftmals gestützt, als er den Konzertsaal verließ. Dieser bedauernswerte Zustand könnte es ja mitunter auch sein, der ihm die Sympathie des Publikums einbrachte. Der Applaus war ihm bis zuletzt sicher, v.a. von den Älteren, für die er "ihr Dirigent" war.


    Was macht Karajan für euch charismatisch? - Oder war er es am Ende doch nicht?

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Charisma kann man nicht definieren.


    Auch ich hatte in meiner Jugend all die Schallplattenhüllen mit Herbert von Karajan gesehen, wo der Maestro entweder majestätisch-gebieterisch oder aber entrückt - verzückt dreinblickt - vorzugsweis vor schwartem Hintergrund, vorzugsweise in Schwarz-weiß.


    Umso ernüchternder war dann die "Begegnung" im Fernsehen, wo er ein Intervie gab:


    Ein verhutzelter Mann mit einer leisen, unangenehmen, kratzigen Stimme - nichts von alldem, was man sich im allgemeinen unter einer charismatischen Persönlichkeit vorstellt.


    Aber schon nach wenigen Minuten war ich in den Bann dieses leise sprechenden Mannes gezogen. Was er sagte war stets analytisch durchdacht und überzeugend formuliert. Er brauchte keine speziellen Betonungen, keine publikumswirksamen Posen, alles passte wie es war.
    So wurde zumindest mir klar was eine der Qualitäten diese Mannes ausmachte: Er war von dem was er machte überzeugt - und wusste das zu vermitteln.


    Es ist auch nicht so, daß Hv.K keinen Widerspruch ertrug - aber dieheneigen die ihm widersprachen sollten einigermaßen ebenbürtig sein - und das war naturgemäß selten der Fall.


    Aber ich möchte an Felippe II anschließen, und die Frage in den Raum stellen, was denn so Besonderes an dem Mann war, der Politiker aller Coleurs, Kritiker, das zeitgenössische Publikum, Kollegen (auch nachgeborene) sowie Sänger und Solisten aller Herren Länder so faszinierte.


    Womit wir wieder beim Threadtiltel wären:


    Was ist dran an Karajan ??


    Ich weiß, es ist augenblicklich ein wenig viel Karajan am Forum - aber anlässlich seines 100. Geburtstages ist das IMO durchaus legitim....


    mfg
    aus Wien


    Alfred

    POLITIKER wollen stets unser Bestes - ABER WIR GEBEN ES NICHT HER !!!



  • Dann einmal aus eigener Erfahrung.
    Ich war etwa 16. Ich hatte eine Karte für ein Konzert geschenkt bekommen, das Karajan dirigierte. Karajan wurde in Wien als Abgott gehandelt. Ich war gespannt, diesen Heros der Musik live erleben zu können.
    Dann kam Karajan herein - und mein erster Gedanke war: "Und das ist der Karajan? Aha..."
    Und dann erlebte ich einen Dirigenten, von dem ich permanent das Gefühl hatte, es sei ein Schauspieler, der einen Dirigenten spielt. Mein noch keineswegs analytischer Zugang gaukelte mir vor, da spiele ein Orchester und dazu mache einer Bewegungen. Nicht umgekehrt.
    Am Ende des Konzerts stand ich applauslos und maßlos enttäuscht auf und ging.
    Als ich meinem Musikprofessor (der als Wiener Philharmoniker das Konzert mitgespielt hatte) meinen Eindruck schilderte, sagte er: "Du mußt öfter in Karajan-Konzerte gehen, eines allein ist nicht aussagekräftig."
    Ich befolgte seinen Rat.
    Das Ergebnis ist meine forumsbekannte Meinung zu Karajan.
    Meine persönliche Antwort auf die Charisma-Frage also: Es mag schon sein, daß er Charisma hatte. Aber für dieses Charisma bin ich offenbar unempfänglich.
    :hello:

    ...

  • Zitat

    Original von Edwin Baumgartner
    Aber für dieses Charisma bin ich offenbar unempfänglich.


    Ganz offenbar. Aber gräm Dich nicht, dafür scheint Lenny bei Dir ja alle Türen einzurennen, und der hatte auch Charisma. Es kann nun einmal nicht jeder für jedes Charisma empfänglich sein, sei es auch noch so groß.


    Loge

  • Zitat

    Zitat Loge
    dafür scheint Lenny bei Dir ja alle Türen einzurennen, und der hatte auch Charisma.


    Schon. Aber das hat, ich gestehe es offen, bei mir auch nicht wirklich funktioniert.
    Meine erste Begegnung mit Bernstein fand geringfügig später statt als mit Karajan statt. Bernstein dirigierte ein rein amerikanisches Programm - und am nächsten Tag quälte ich meine Mutter, ich möchte eine Aufnahme von Ives' "Unanswered Question" haben - egal, mit welchem Dirigenten (!).
    Die Überzeugung von Bernsteins Qualitäten kam mit Mahler - und mit seiner Probenarbeit. Also zuerst Qualitätsnachweis, dann Empfänglichkeit für die Ausstrahlung.
    Ist bei mir eigentlich immer so: Wenn's mit dem Qualitätsnachweis nicht klappt, klappt's auch mit der Ausstrahlung nicht.
    :hello:

    ...

  • In der Dokumentation Karajan - oder "Die Schönheit wie ich sie sehe" von Robert Dornhelm stellt Sir Simon Rattle mit hörbarer Bewunderung Folgendes als besondere Eigenschaft Karajans heraus: "He was a man completely without bullshit", wobei er das "completely" nochmals besonders betont. Das ist doch eigentlich eine interessante Facette Karajans, die bislang wenig beachtet wurde.


    Loge

  • Zitat

    Original von Loge
    In der Dokumentation Karajan - oder "Die Schönheit wie ich sie sehe" von Robert Dornhelm [...]


    Die fand ich ziemlich interessant gemacht.

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Zitat

    Original von Felipe II.


    Die fand ich ziemlich interessant gemacht.


    Ich fand sie durchaus sehenswert, weil manches Material erstmals zu sehen war. Meines Erachtens oszillierte die Dokumentation aber ein wenig zu sehr zwischen dem Menschen Karajan einerseits, also seiner Biographie, und seiner Interpretationsästhetik andererseits, so dass am Ende - trotz der beachtlichen Länge von 90 Min. - beides nur recht oberflächlich behandelt wurde. Nach dem Titel der Dokumentation hatte ich mir im Hinblick auf Letzteres mehr versprochen. Gelungen fand ich die immer wieder hineingeschnittenen Aussagen von Zeitgenossen, Kollegen, Musikern. Am meisten erfuhr man am Ende wohl über sein besonderes Charisma und sein Können.


    Loge

  • Banner Strizzi
  • Ich möchte noch etwas zum absoluten Gehör und unterschiedlichen Stimmungen sagen:


    Zitat

    Original von Edwin Baumgartner
    Auch das "absolute Gehör" ist nicht angeboren, sondern die (angeborene) Fähigkeit, einen Ton über lange Zeit, sogar lebenslang, in der Lage im Gedächtnis zu speichern, in der er gehört wurde. Wenn ein absolutes Gehör den Ton a bei 440 Hz hört und speichert, wird es den Ton a mit 446 Hz als zu hoch empfinden. Umgekehrt: Ist der Ton mit 446 Hz gespeichert, wird das absolute Gehör ein a mit 440 Hz als zu tief empfinden.


    Im Prinzip ist das richtig, aber in der Realität hört das absolute Gehör nicht einmal ein a mit x Hz und speichert es, sondern wächst mit Millionen verschiedenen As auf. Deswegen ist es auch Unsinn zu behaupten, ein Absoluthörer störe sich an dem zu hohen Stimmton der Berliner oder Wiener. Man hört dann höchstens ein "recht hohes a", aber es klingt nicht falsch, da wohl niemand so sehr alles auf genau eine Frequenz (440 Hz) bezieht. Aus meiner Erfahrung jedenfalls sind lediglich sehr große Abweichungen (z. B. bei HIP-Ensembles) irritierend.
    Also die Ausführungen von Hollinger verwundern auch mich sehr...


    Meine kurze (momentane) Meinung zu Karajan: sehr gut bei abstrakteren und distanzierteren Komponisten (z. B. Brahms, Strauss, Mendelssohn), bei sehr emotionalen (vor allem aus dem Osten) - Paradebeispiel Tschaikowsky - aber auch bei Beethoven ist er meiner Meinung nach meinst übertroffen worden (z. B. Bernstein, Mravinsky bei ersterem, Kleiber, Walter bei letzterem - da kann man sicherlich noch einige ergänzen, ich kenne ja noch nicht so viele Aufnahmen).


    Und jetzt entschuldige ich mich, den Karajanthread wieder aus der Versenkung geholt zu haben :untertauch: :D

    "Das Große an der Musik von Richard Strauss ist, daß sie ein Argument darstellt und untermauert, das über alle Dogmen der Kunst - alle Fragen von Stil und Geschmack und Idiom -, über alle nichtigen, unfruchtbaren Voreingenommenheiten des Chronisten hinausgeht.Sie bietet uns das Beispiel eines Menschen, der seine eigene Zeit bereichert, indem er keiner angehört." - Glenn Gould

  • Der gelungene Versuch der Analyse von Herbert von Karajan als Operndirigent mit grundätzlichen Betrachtungen zu Karajans Werkauffassung und Dirigierstil wird im neuen ebenfalls von Alfred gestartetem Thread "Karajan als Operndirigent" gemacht. Als Ergänzung zu der breiten Diskussion in diesem Teil des Forums sehr zu empfehlen.
    Herzlichst
    Operus

    Umfassende Information - gebündelte Erfahrung - lebendige Diskussion- die ganze Welt der klassischen Musik - das ist Tamino!


  • Lars E. Laubhold / Jürg Stenzl (Hrsg.), Herbert von Karajan - Der Dirigent im Lichte einer Geschichte der musikalischen Interpretation


    Das vorstehende Buch ist kürzlich als Ergebnis eines Symposiums zum 100. Geburtstag Karajans mit Beiträgen von Martin Elste, Jens Malte Fischer, Michael Gielen, Detlef Giese, Peter Gülke, Hans Hirsch, Hans Klaus Jungheinrich, Reinhard Kapp, Jürgen Kesting, Gerhard R. Koch, Volker Scherliess, Julia Spinola, Jürg Stenzl und Barbara Zuber erschienen.


    Jürg Stenzl schreibt einleitend zu dem Buch:


    Fast jede neue Veröffentlichung über den Dirigenten Herbert von Karajan entfacht heftige Diskussionen. Ähnlich wie bei seinen um Jahrzehnte älteren Kollegen Arturo Toscanini und Wilhelm Furtwängler geschieht dies jedoch zumeist auf der Basis längst festliegender Urteile. Auffallend ist, dass die Frage nach einer musikalischen Interpretationsgeschichte und dem Platz, den diese Dirigenten darin einnehmen, kaum je gestellt wird. Geht man von den Unterschieden der Generationen und »nationalen Kulturen« aus, steht keineswegs fest, wo der Salzburger Herbert von Karajan einzuordnen ist. Steht er quer zur »Espressivo«-Richtung von Gustav Mahler und Mengelberg, und wie verhält er sich zur »Neuen Sachlichkeit «, die Igor Strawinsky gefordert und selbst praktiziert hat? Unbestritten ist, dass Herbert von Karajan eine zentrale Rolle innerhalb der wohl tiefgreifendsten Revolution der Musikkultur des 20. Jahrhunderts, der »technischen Reproduzierbarkeit « von Musik auf Ton- und Bildträgern, gespielt hat. Eine Geschichte der Aufnahmetechnik und der Klangvorstellungen, die diese geleitet haben und weiterhin leiten, fehlt jedoch. Es fehlt auch eine Geschichte der musikalischen Interpretation im 20. Jahrhundert. Der weltweite Ruhm des Dirigenten Herbert von Karajan steht, knapp 20 Jahre nach seinem Tod, außer Frage. Die geringe Kenntnis seines Musik- und Werkverständnisses bildet dazu einen eigenartigen Kontrast. Dem will dieses Buch entgegentreten.


    Dem Buch sind zwei CDs beigefügt, auf denen die in den Beiträgen angesprochenen Werkinterpretationen in Auszügen mitgehört werden können.


    Außerdem sind in dem Buch eine Reihe bisher unveröffentlichter Photos des Dirigenten im Rahmen der Internationalen Musikfestwochen Luzern der Fotografin Lisa Meyerlist abgedruckt.


    Das Buch dürfte in seiner detaillierten Behandlung des interpretatorischen Werkes eines einzigen Dirigenten beispiellos sein. Man lernt zugleich einiges über die Methoden der vergleichenden und historischen Musikinterpretationswissenschaft. Bemerkenswert ist der wissenschaftliche Anspruch der Beiträge, der nicht zuletzt in zahllosen sehr interessanten Fußnoten zum Ausdruck kommt. Nachfolgend ein paar Worte zu den einzelnen Beiträgen (die von Kapp und Scherliess habe ich noch nicht gelesen):


    Jürg Stenzl liefert einen sehr interessanten und detaillierten Beitrag, in dem er Karajan am Beispiel der „Szene am Bach“ aus Beethovens 6. Sinfonie als Interpret zwischen espressivo, neusachlicher und historischer Interpretation vorstellt und verortet. Behandelt werden u. a. die grundlegend unterschiedlichen Interpretationsmodi dieser Dirigierschulen und Tempofragen (dem Beitrag sind detaillierte Auflistungen verschiedener Aufnahmen von Weingartner (1927) bis Immerseel (2007) mit Tempoangaben und Formproportionen beigefügt).


    Der Beitrag von Julia Spinla „Der Unsterbliche“ ist weniger interessant, da feuilletonistisch gehalten und zudem bereits im April dieses Jahres in der FAZ erschienen.


    Hans-Klaus Jungheinrich beschreibt Karajan als Operndirektor und Operndirigent und lässt dabei auch kritische Töne anklingen, wenn er Karajan als Einmann-Opernbetrieb beschreibt, der eine Vielzahl von Kompetenzen und Fertigkeiten gleichermaßen in sich zu vereinigen glaubte.

    Jürgen Kesting beschreibt die Entwicklung des Operndirigenten Karajan in den 50er und 60er Jahren (mit Hörbeispielen). Er endet auf folgender, in mancher Hinsicht aufschlussreicher Feststellung: „…wie immer skeptisch sich etliche Kritiker über den „luxurierenden Wohlklang“ äußerten. Dass kein Vorwurf öfter gegen Herbert von Karajan gerichtet wurde, ist zum einen auf die damals sehr wirkungsmächtigen Schriften Theodor W. Adornos zurückzuführen, zum anderen auf die Ranküne einer politisierten jüngeren Generation, die sich gegen eine Hochkultur richtete, als deren Hauptvertreter Herbert von Karajan angesehen wurde. Das Gefühl gegen Karajan ließe sich auf die Formel bringen: „The conductor I love to hate.


    Jens Malte Fischer bespricht Karajan als einen der „ganz großen Wagner-Dirigenten“. Näheres dazu schon im Thread "Tristan und Isolde - Gibt es eine Idealaufnahme?". Es handelt sich um einen sehr lesenswerten Beitrag, in dem Fischer detailliert erklärt, was Karajan in so besonderem Maße zum Wagner-Dirigenten prädestinierte. (Mit Hörbeispielen)


    Martin Elste widmet sich in einem ebenfalls sehr fundierten und ausführlichen Beitrag dem Verhältnis Karajans zur „Alten Musik“. Dargestellt werden u. a. Karajans Konzertrepertoire der „Alten Musik“, sein Tonträgerrepertoire der „Alten Musik“, seine Verkaufszahlen in diesem Bereich, Karajans Aktivitäten in diesem Bereich um 1950, die Reaktionen der Schallplattenkritik auf Karajans Dirigate „Alter Musik“, seine erste Einspielung der h-Moll-Messe (mit Hörbeispiel) und Vergleiche seiner drei Einspielungen (1950, 1952/53, 1973/74) dieses Werkes, die Charakteristika seines Aufführungsstils in diesem Bereich und seine ästhetische Position im Verlauf der Jahre.

    Peter Gülke würdigt in einem nachdenklichen Beitrag mit zahlreichen Hörbeispielen „Karajans Beethoven“. Sehr interessant u. a. eine vergleichende Gegenüberstellung des Übergangs zur Coda im 1. Satz der 9. Sinfonie bei Furtwängler, Karajan und Harnoncourt. Sein Fazit: „Als dezidierter Pragmatiker kein Freund grundsätzlicher [Anm.: außermusikalischer] Fragen, hat er den Nachlebenden umso mehr Fragen hinterlassen.


    Gerhard R. Koch widmet sich dem Mahler-Dirigenten Karajan. Er spricht von einer vorübergehenden Affäre, dessen „strebendes Bemühen“ in diesem Bereich sich indessen „nicht ignorieren lässt“.


    Detlef Giese geht sehr ausführlich und detailliert auf Karajans Behandlung der Instrumentalwerke Richard Strauss’ ein. Im Zentrum der Besprechung steht dabei der Don Juan, den Karajan über seine gesamte Karriere hinweg immer wieder aufführte und einspielte. Anhand von Hörbeispielen werden in Auszügen sechs Einspielungen verglichen. Ein interpretationsgeschichtlich sehr lesenswerter Beitrag.


    Barbara Zuber vergleicht sehr detailliert und kompetent die Rosenkavalier-Dirigenten Karajan und Erich Kleiber, deren Einspielungen (Kleiber Decca 1954; Karajan EMI 1956) „bis auf den heutigen Tag von vielen Musikkritikern als die einzig gültigen Referenz-Einspielungen akzeptiert werden.“ (Mit Hörbeispielen)


    Jürg Stenzl wartet mit einem weiteren, sehr interessanten und kompetenten Beitrag über Karajan als Debussy-Dirigent auf. Im Zentrum steht La Mer, anhand dessen Karajans sich im Laufe der Zeit verändernde Interpretationsmodi mit Hörbeispielen dargestellt werden. Karajan war der erste deutschsprachige Dirigent, der La Mer einspielte. Sehr aufschlussreich hier u. a. die Gegenüberstellung der Interpretationen dieses Werkes durch Karajan und Boulez. Auch hier ein Anhang mit Dauern und Proportionen der Formteile in den Interpretationen verschiedener Dirigenten.


    Reinhard Kapp bespricht Karajan sehr ausführlich als Dirigent der Musik der Wiener Schule.


    Volker Scherliess widmet sich Karajans Strawinsky-Interpretationen. (Mit Hörbeispielen)


    Martin Elste („Ein Schallplattendirigent wird aufgebaut – Karajans EMI-Jahre“) teilt viele Zahlen (Verkaufszahlen) sowie sonstige Mechanismen und Details aus der Schallplattenindustrie mit. Spannend wird der Wechsel Karajans von EMI zur DGG beschrieben, den Legge mit mehreren Memoranda an die Geschäftsleitung der EMI noch zu verhindern versucht hatte. Karajan war mit der Bezahlung durch EMI unzufrieden gewesen. Die DGG bot ihm DM 600.000 und damit das doppelte von Fricsay! In einem Memorandum aus dem Jahr 1958 hatte Legge noch gleichermaßen beschwörend und zutreffend, aber auch vergeblich auf die EMI eingeredet: „If [Karajan] lives and retains his health nothing can stop him being – for the next twenty or more years – the best-selling conductor and the most powerful man in the world of music.” Der Beitrag macht u. a. deutlich, welche Bedeutung das Geld gestern wie heute für das „Ob“ und „Wie“ von Schallplattenproduktionen hat.


    Hans Hirsch schildert anekdotisch seine Erinnerungen an den von ihm bei der DGG produzierten Dirigenten Karajan. Auch hier gibt es einiges über das Label-interne Gerangel unter den Vertragskünstlern (z. B. Karajan vs. Bernstein; Karajan vs. Böhm) zu erfahren. So etwa, dass Böhm mit Paralleleinspielungen zu Karajan öfter mal auf das Parallellabel Philips „abgeschoben“ wurde (so z. B. mit dem „Ring“).


    Den Abschluss bildet ein Interview mit Michael Gielen, der aus kritischer Distanz seine Zeit und Erfahrungen mit dem Dirigenten Karajan schildert.

    Loge

  • Gestern abend habe ich mir auf der Webseite der Berliner Philharmoniker ein wie ich finde sehr interessantes Gespräch zum Thema Karajan aus der der Sicht von zwei Orchestermitgliedern, die unter ihm spielten, angesehen und angehört.


    Interessierten möchte ich den Link nicht vorenthalten:


    Code
    1. http://www.berliner-philharmoniker.de/forum/podcasts/details/cast/herbert-von-karajan-zum-100-geburtstag/


    Hier wird z.B. über die Eigenart des Karajan-Klangs gesprochen, seine Art zu proben, sein Verhältnis zu den Orchestermitgliedern, seine spezielle Art zu dirigieren, seinen Respekt vor den Furtwängler-Traditionen, seine Art und Weise der Psychologie ( z.B. bei schweren Stellen nicht zum Hornisten zu sehen...) und Vieles mehr.


    Sehr interessant fand ich auch die Aussage, dass die Orchestermusiker selbst in der Zeit der Unstimmigkeiten bereit waren, für ihn nicht nur alles zu geben, sondern sich geradezu für ihn zu zerreissen.


    Ausserdem hört man auch etwas über die "magischen Momente" eines Konzerts.
    Im "Karajan-Konzert" entstand oft mehr als nur das Abspulen der in den Proben geübten Sachen. Das Orchester wuchs zusammen mit dem Dirigenten über sich hinaus, und es gab diese bewusste Magie des Augenblicks ( ich mache hier keine eigenen Lobpreisungen, sondern zitiere nur aus dem Gedächtnis, was die beiden Zeitzeugen sehr glaubhaft dem Publikum erzählten.)


    Karajan vertraute darauf, dass es das Orchester diese Dinge umsetzen werde. Oft geschah es, manchmal gab es aber auch Aufführungen, bei denen der Funke nicht überspringen wollte.


    Wie gesagt, ein interessantes Gespräch mit profunden Insider-Informationen zum Thema Berliner Philharmoniker und Herbert von Karajan.


    Gruss :hello:
    Glockenton

    "Jede Note muss wissen woher sie kommt und wohin sie geht" ( Nikolaus Harnoncourt)

  • Zitat

    Original von Glockenton
    Sehr interessant fand ich auch die Aussage, dass die Orchestermusiker selbst in der Zeit der Unstimmigkeiten bereit waren, für ihn nicht nur alles zu geben, sondern sich geradezu für ihn zu zerreissen.


    Ausserdem hört man auch etwas über die "magischen Momente" eines Konzerts.
    Im "Karajan-Konzert" entstand oft mehr als nur das Abspulen der in den Proben geübten Sachen. Das Orchester wuchs zusammen mit dem Dirigenten über sich hinaus, und es gab diese bewusste Magie des Augenblicks ( ich mache hier keine eigenen Lobpreisungen, sondern zitiere nur aus dem Gedächtnis, was die beiden Zeitzeugen sehr glaubhaft dem Publikum erzählten.)


    Lieber Glockenton,


    Lese bitte diesen Thread, und vergleiche.
    Ein Dirigent, der bescheiden blieb. Und dennoch zu den ganz Großen gehört.


    LG, Paul


  • Den Zusammenhang verstehe ich ehrlich gesagt nicht wirklich.


    Nach dieser, Deiner Äusserung aus einem anderen Thread


    Zitat


    Original von musicophil
    Weiter interessiert dieser Karajan mich nicht. Ob er gut bzw sehr gut Musik dirigierte, das ist mir ein Wurscht.


    glaube ich auch herauszuhören, dass Du an einem ernstzunehmenden Austausch sowohl über die Frage "Was ist dran an Karajan?" als auch das Thema " Karajan - meine liebsten Aufnahmen" nicht wirklich interessiert bist, sondern ganz gerne hier und da beim Thema Karajan eine defätistische Marke setzt, oder irre ich da?
    Ich finde so etwas ziemlich bedauerlich, und glaube auch nicht, dass dieser zwischendurch eingestreute Defätismus wirklich zu Dir passt.


    Im Falle Karajans, auch Furtwänglers haben wir es mit Schwergewichten der Interpretationsgeschichte zu tun, ungeachtet der Tatsache, dass sie in einer schweren Zeit der Nazi-Diktatur keine heldenhaften Freiheitskämpfer waren.
    Wären sie bei Einigen hier nur akzeptiert, wenn sie z.B. einen Bombenanschlag auf den "Führer" mitgeplant hätten?


    Mir fehlt bei diesen Online-Be- und Verurteilungen Karajans und Anderer mit dem moralischen Zeigefinger oftmals eine ehrliche Selbstanalyse, wodurch die Diskussion in eine absurde Schieflage gerät:


    Bin ich denn selbst ein Held?
    Bin ich wirklich zum Freiheitskämpfer, zum aufrichtigen Widerständler geboren?
    Wie hätte ich in den Situationen entschieden, wenn ich unter den Zwängen der Diktatur gestanden hätte und nicht vorher wissen konnte, wie die weitere Zeitgeschichte verlaufen wird?
    Wäre nicht auch mir der eigene Rock manchmal näher gewesen?
    Wäre ich vielleicht sogar ein glühender Anhänger des verbrecherischen Diktators gewesen?


    Gilt dieser bekannte Satz nicht auch für diesen Zusammenhang? :


    Zitat


    Wer von Euch ohne Sünde ist, der hebe den ersten Stein


    Wer hat den im Laufe seines Lebens immer alles richtig gemacht, gesehen und eingeschätzt?
    Ich habe in meinem Privatleben auch schon Fehler gemacht (wie jeder andere auch), und trotzdem freue ich mich, wenn mir ebenso nicht fehlerfreie Leute bei einer Aufführung zuhören, und sich über die von mir erzeugte Musik freuen, unabhängig von Details aus meiner oder ihrer Biografie.


    Welcher ernsthafte Klassikfreund oder Musiker würde denn Wagners Musik komplet ablehnen, weil er zweifelsohne sehr verurteilungswürdige Ansichten und Äusserungen über "das Judentum in der Musik" machte?
    Bei dem schafft man es so gut wie immer zu trennen, auch israelische Musiker wie der fabelhafte Daniel Barenboim tun das, und sie tun recht daran.
    Wagners Musik ist einfach zu gut, als dass man sie ignorieren könnte.


    Bei der historisch gar nicht besonders schwer belasteten Figur Herbert von Karajans will man aber offensichtlich nicht differenziert und musikalisch diskutieren, und das empfinde ich als unfair und für das Forum insgesamt ziemlich schädlich.


    Luis. Keuco schrieb zurecht:


    Zitat


    Original von Luis.Keuco
    Man kann sich auch politisch-historisch mit Karajan auseinandersetzen. Das sollte man aber von seiner Leistung als Musiker trennen.
    Sonst können wir - gibt es wahrscheinlich auch schon - gern auch mal über die ambivalente Rolle Richard Wagners diskutieren. Für den gilt sicher deutlich mehr als für Karajan: Künstlerisch ein Genie, menschlich ein Schwein.


    Wie beide menschlich waren, weiss ich nicht einmal so genau.
    Vor allem in Falle Karajans ist das beim Hören seiner Aufnahmen und dem Schreiben darüber auch ziemlich unwichtig, weil er eben nicht ein aktiver, glühender Nazi-Täter war, sondern jemand, der aus Karrieregründen sich ein Parteibuch geholt hatte. Heute leben wir in Demokratien. In meiner Schulzeit hatte jeder Schulrektor ein Parteibuch. Mir ist bekannt, dass Vorstandsvorsitzende von lokalen Sparkassen meistens ein Parteibuch haben. Das ist so - begeistert darüber bin ich nicht gerade, aber ungewöhnlich ist das keineswegs.


    Mir sind Karajans musikalischen Leistungen beileibe nicht wurscht, sondern ich kann bei den entsprechenden Stücken, die ich unter vielen anderen Taminos ja auch im Thread über die Lieblingsaufnahmen nannte, einfach deren überragende Stellung nicht übersehen.
    Deswegen schreibe ich auch über ihn in Tamino, weil das so ist.


    Erst gestern hörte ich im NRK-Radio Norwegens eine Live-Übertragung der "Eroica" Beethovens, die in einer relativ kleinen, norwegischen Kirche gespielt wurde.
    Dirigiert hat Heinrich Schiff.


    Bei allem Respekt für die an diesem Abend erbrachten Leistungen ( es war dort wohl 40 Grad warm...) muss ich doch sagen, dass diese Aufführung bei weitem nicht den Schwung und den Glanz und auch nicht die Perfektion erreichen konnte, die ich von Karajans Interpretation her kenne und liebe.
    Ich habe es mir vor allem deswegen zu Ende angehört, weil ich keine anderen CDs im Auto hatte und schon froh war, dass im norwegischen Radio überhaupt einmal Klassik zu hören waren...
    Was mir vor allem fehlte, war dieses Magische, dieses alles Überstrahlende, was ich vor allem von Karajans dritter DDD-Aufnahme her kenne.
    Das geht mir dort derart unter die Haut, dass ich fachliche oder gar sonstige Diskussionen einfach nicht mehr führen kann.


    Karajan hat in einigen Bereichen seiner musikalischen Arbeit zweifellos überragende Standards gesetzt, die kein seriöser Musiker aberkennen kann.
    Auch der im Bereich gerade im Bereich der Barockmusik sehr unterschiedlich spielende Harnoncourt erkennt in seinen Erinnerungen, und auf die Frage, was die für ihn am stärksten beeinflussenden Beethoveninterpretationen der Symphonien waren, die herausragende Stellung Karajans ganz selbstverständlich an.


    Hier, in diesem Forum möchte ich vor allem über Musik reden und mich mit Musikfreunden austauschen.
    Nur wenn es um politische Dinge aus der Zeitgeschichte geht, die direkten Einfluss auf die Art und Weise des musikalischen Vortrags hatten, dann möchte ich auch darüber reden dürfen.


    Ansonsten sollte man sich hier weltanschaulicher und politischer Diskussionen tunlichst enthalten, weil sie schnell von der Musik wegführen.
    Solche Diskussionen kann man ja bei Bedarf in anderen Foren führen, die dafür vorgesehen sind und auf einen gewissen Zusammenhalt der schreibenden Mitglieder nicht angewiesen sind.


    Mich würde hier z.B. viel eher eine Reaktion von Taminos interessieren, die sich die von mir angegebene Videodatei von der Seite der Berliner Philharmoniker tatsächlich angesehen und angehört haben.
    Da geht es nämlich auch um die musikalische Dinge, über die man sich hier bei Tamino vornehmlich austauschen sollte.
    Diese musikalischen Aspekte finde ich jedenfalls äusserst interessant.
    Der Hinweis auf das Video sollte diesem Thread Informationen aus erster Hand von denen anbieten, die zu seiner musikalischen Arbeit sicher am besten Auskunft geben können, nämlich "seine" Orchestermusiker der Berliner Philharmoniker.


    Dies sollte die thematisch vorgegebene Frage "was an ihm dran war" und den "Versuch einer Analyse" bereichern.
    Ob er nun menschlich eher nett oder nicht ( auch nicht im Vergleich zu anderen Dirigenten), oder in dunklen Zeiten ein Freiheitsheld oder eher ein Mitläufer war, hat m.E. mit dem Thema dieses Threads nichts zu tun.


    Gruss :hello:
    Glockenton

    "Jede Note muss wissen woher sie kommt und wohin sie geht" ( Nikolaus Harnoncourt)


  • Lieber Glockenton,


    Da irrst Du dich doch sehr!!
    Ich bin vor allem ein Liebhaber der Wiener Klassik + früh Romantik. Und finde, daß Karajan da nicht gut war. Darum, und nur darum, interessiert dieser Dirigent mich als Dirigent nicht. Und würde ich eigentlich nichts schreiben in einem Karajanthread. Oder nur um zu necken. :untertauch:


    Wenn aber bestimmte Aussagen gemacht werden, die nichts sagen über den Dirigent, ja, dann reden wir eine andere Sprache.


    LG, Paul


    PS Du schriebst über die Lob der Berliner Musiker.
    Im Van Beinumthread hättest Du lesen können


    Zitat

    Oft sagte er einem Orchestermitglied, das ein wichtiges Solo hatte "Spiel, wie Du denkst, daß es sich gehört. Ich werde dann folgen".


    Einmal gab es einen Posaunist, der mehrfach denselben Fehler machte. Van Beinum entschuldigte sich, daß er es falsch angezeigt hatte. Als jemand ihn darauf hinwies, daß nicht er, sondern der Posaunist den Fehler gemacht hatte, reagierte der Dirigent ungefähr mit "Das ist doch nicht wichtig. Dieser Mann ist jetzt beruhigt und wird später wunderbar spielen".


    Als er Gastdirigent beim Philadelphiaorchester war, passierte es einmal, daß nach einer langen, ermüdenden Probe die Orchestermitglieder Van Beinum baten noch einmal – aber diesmal zum eigenen Vergnügen – Haydns Symphonie "Das Wunder" zu spielen.


    Seine Orchestermitglieder liebten ihn über alle Maßen. Die Mitglieder der Orchester in London und Los Angeles wollten ihn als Dirigent haben.
    Ich wollte damit nur sagen, daß ein derartiges Verhältnis gar keine Ausnahme ist. Dafür braucht man kein theatralisches Benehmen.

  • Zitat

    Ich bin vor allem ein Liebhaber der Wiener Klassik + früh Romantik. Und finde, daß Karajan da nicht gut war. Darum, und nur darum, interessiert dieser Dirigent mich als Dirigent nicht.


    Da muss ich mich doch jetzt auch einmal zu Worte melden: Wir sind uns -lieber Paul- gewiss darin einig, daß Karajan und Mozart nicht unbedingt jedermanns Geschmack ist. Aber Beethoven? Nun, ich weiß, daß Du den nicht magst, aber Karajans Beethoven lässt sich absolut nicht aus der Interpretationsgeschichte herausdiskutieren. Und Schumann? Die Interpratation der 4. Sinfonie empfinde ich als absolut mustergültig.


    Zum Politischen erlaube ich mir einen abschließenden Satz: es ist an verschiedenen Stellen dieses Forums diskutiert worden. Man kann das alles nachlesen. Und muss die Debatte nicht immer wieder neu beginnen. Und über x-Threads verteilen.


    Bei youtube gibt es einige Probeneinblicke von Karajans. Gerade bei Schumann 4 ist es sehens- und hörenswert, wie von Karajan einen bestimmten Klang des Sinfonie-Beginns herausarbeitet. Das nenne ich wahrhaft formen und gestalten!


    Liebe Grüße vom Thomas :hello:

    Früher ist gottseidank lange vorbei. (TP)
    Wenn ihr werden wollt wie eure Väter waren werdet ihr so wie eure Väter niemals waren.

  • Karajan war der Dirigent von vielen der Werke, die für mich den Erstkontakt zur "Klassik" darstellten.


    Später, als ich dann den Vergleich zu anderen Dirigenten (anfänglich insbesonders zu Karl Böhm) ziehen konnte viel mir als erste auf, dass beispielsweise Musik von Mozart als Böhm-Dirigat irgendwie überzeugender rüberkam. Dabei ist an Karajans Hochglanzarbeiten nie wirklich etwas auszusetzen, denn es ist schon technisch perfekt, was dieser Mann ablieferte. Stichwort Technik: Da hatte Karajan ja nun wirklich die Nase ganz weit vorn. War er doch einer der ersten, der das Potential der Digitaltechnik wohl erkannte und teilweise auch schon nutzte. Was er (wahrscheinlich aufgrund seines seinerzeit schon altersbedingt schlechteren Gehör) nicht wahrnahm ist der jämmerlich flache sterile - aber eben rauschfreie - Klang der ersten PCM-Aufnahmen.


    Ganz besonders stark finde ich noch heute Karajans Dirigate zu Tschaikowsys Symphonien. Da gibt es eigendlich nur Aufnahmen mit slawischen Orchestern und Dirigenten, die noch authentischer sind.


    Was ich allerdings schon damals fast schon peinlich fand waren Versuche im Barocksektor: Karajans Vivaldi klingt viel zu romantisch. Da ist Harnoncourts Dirigat wesentlich lohnender.


    Alles in allem: Karajan war für mich auch was die Aufnahmetechnik betrifft ein Perfektionist, der jedem Werk einen ganz bestimmten unverkennbaren persönlichen der Romantik verpflichteten Stempel aufdrückte, was natürlich insbesondere bei Werken des Barock nicht unbedingt passt.

    alle Menschen werden Brüder ...

  • Bin ich denn selbst ein Held?
    Bin ich wirklich zum Freiheitskämpfer, zum aufrichtigen Widerständler geboren?
    Wie hätte ich in den Situationen entschieden, wenn ich unter den Zwängen der Diktatur gestanden hätte und nicht vorher wissen konnte, wie die weitere Zeitgeschichte verlaufen wird?
    Wäre nicht auch mir der eigene Rock manchmal näher gewesen?
    Wäre ich vielleicht sogar ein glühender Anhänger des verbrecherischen Diktators gewesen?


    Gilt dieser bekannte Satz nicht auch für diesen Zusammenhang? :


    Zitat:


    Wer von Euch ohne Sünde ist, der hebe den ersten Stein



    Wer hat den im Laufe seines Lebens immer alles richtig gemacht, gesehen und eingeschätzt?
    Ich habe in meinem Privatleben auch schon Fehler gemacht (wie jeder andere auch), und trotzdem freue ich mich, wenn mir ebenso nicht fehlerfreie Leute bei einer Aufführung zuhören, und sich über die von mir erzeugte Musik freuen, unabhängig von Details aus meiner oder ihrer Biografie.


    Welcher ernsthafte Klassikfreund oder Musiker würde denn Wagners Musik komplet ablehnen, weil er zweifelsohne sehr verurteilungswürdige Ansichten und Äusserungen über "das Judentum in der Musik" machte?
    Bei dem schafft man es so gut wie immer zu trennen, auch israelische Musiker wie der fabelhafte Daniel Barenboim tun das, und sie tun recht daran.
    Wagners Musik ist einfach zu gut, als dass man sie ignorieren könnte.


    Bei der historisch gar nicht besonders schwer belasteten Figur Herbert von Karajans will man aber offensichtlich nicht differenziert und musikalisch diskutieren, und das empfinde ich als unfair und für das Forum insgesamt ziemlich schädlich.

    Otto Rehhagel: "Mal verliert man und mal gewinnen die anderen".
    (aus "Sprechen Sie Fußball?")

  • Banner Strizzi
  • Leider zu blöd gewesen seiend, die Software richtig handzuhaben:


    Vollste Zustimmung für Glockenton!!!!


    Auch ich kann mit Nachherbesserwissernden wenig anfangen!

    Otto Rehhagel: "Mal verliert man und mal gewinnen die anderen".
    (aus "Sprechen Sie Fußball?")

  • Seitdem ich hier im Forum wildere, habe ich mich wie seit langem nicht mehr mit Karajan beschäftigt. Natürlich bin ich, wie viele, mit Karajan-Aufnahmen als Klassikhörer groß geworden, man kam ja auch fast nicht daran vorbei. Irgendwann habe ich mich aber, unter dem Eindruck anderer Interpretationen, von ihm gelöst. Ich werde sicherlich nie ein hemmungsloser K.-Fan werden und er lässt mich auch immer wieder kalt im Vergleich zu anderen Deutungen, aber nie würde ich ihm seine überragende Bedeutung als Dirigent und Marktstratege absprechen. Sicherlich ist er der bedeutendste Dirigent des 20. Jhrdts. was seine Wirkung angeht. Der größte -für mich- nicht.


    Interessant finde ich immer wieder K. als Person, der schwer fassbar ist, aber natürlich immer in seine Interpretationen eingeflossen ist. Mir fällt da eine Anekdote ein, die J. Kaiser erzählt hat (in zwei verschienen Varianten). K. dirgierte das Meistersinger-Vorspiel in Paris und neben Kaiser saß eine verschleierte, geisterhafte Erscheinung, die (1. Version) am Ende in lautes Weinen ausbrach oder (2. Version) hemmungslos klatschte. Die Geistererscheinung war Marlene Dietrich.


    Was ich mich immer gefragt habe, was sprach die Dietrich an diesem Dirigat so an? Nun könnte man antworten, schlichtweg die Qualität des Dirigats. Ich glaube aber, das ist zu kurz gedacht.


    Zunächst haben D. und K. ja wenig gemein. Die auch aktive Kämpferin gegen die Nazis und der vermeintliche Nazi Karajan treffen sich ausgerechnet bei einem so deutschen Stück wie den Meistersingern.


    Vielleicht ist es weit hergeholt, aber ich denke, die Dietrich spürte den Seelenverwandten. Beide waren 100%ige Perfektionisten, beide hatten ein Ziel vor Augen und versuchten dieses Ziel mit allen Mitteln zu erreichen. Ihr gemeinsames Ziel ist für mich nicht nur die Größten in ihrer jeweiligen Profession zu werden, sondern auch alles zu tun, ihren Namen vor dem Vergessen zu bewahren. Beide bauten ein Bild in der Öffentlichkeit von sich auf, hinter dem die eigene Person, vielleicht auch für sie selber, völlig verschwand, wohl auch verschwinden musste. Die Mittel, die sie dafür einsetzten waren sicher nicht immer anständig und koscher. Um so etwas zu erreichen, muss man auch Schwein sein können. Beide waren hart und unerbittlich gegen sich wie auch gegen andere, beide hatten aber durchaus andere Seiten Menschen gegenüber. Da fällt mir das Bild der für kranke deutsche Emigranten Suppe kochende und die Küche auf den Knieen schrubbende Dietrich ein. Und von K. gibt es ähnliche menschliche Seiten, die zeigen, wie er sich für Menschen eingesetzt hat oder wie er auf sie reagiert hat. Die Frage ist, entsprangen diese menschlich netten Züge wirklich einer humanen Grundhaltung oder hatte sich bei beiden das PR-Bild schon so stark eingegraben, dass sie, unbewusst, so handelten.


    Ich sehe Karajans Manie, sein Repertoire in immer neuer technischer Form einzuspielen (LP,CD,VHS,Laser-Disc und was weiß ich noch), die Unruhe, die ihn immer umgab, die ihn noch als körperliches Wrack dazu zwang, immer wieder in technisch und klanglich noch brillianterer Form die Werke zu präsentieren (mit sich als Klangmagier im Zentrum, der Hohepriester, der mit geschlossenen Augen mit seinen Gralsrittern der Welt die Offenbarung bringt) als Ausdruck dieser wohl verzweifelten Angst, keine dauerhaften Spuren zu hinterlassen.


    Was für eine Lebensleistung, rastlos, unermüttlich, jede Sekunde daran arbeitend, nie Schwäche zeigen dürfen (es könnte dem Bild ja abträglich sein), immer, immer, immer und immer präsent sein zu müssen. Das ist schon bewunderswert und gleichzeitg auch sehr zu bedauern. Bei Dietrich wie auch bei Karajan. Nicht akzeptieren zu können, wie wir es doch alle müssen, dass die Spur von unseren Erdentage in weit weniger als Äonen untergehen wird. Wieviel nicht gelebtes Leben! Nie die Kontrolle über sich einmal aufgeben, sich hängen lassen zu dürfen. Nie zugeben können, dass man auch nur ein Mensch unter anderen ist und nicht die perfekte Kunstfigur.


    Aber es ist wohl keine bewusste Lebensentscheidung. Dieser Drang ist in einem, ob man will oder nicht.


    Und sich nie richtig öffnen können (inwieweit K, das innerhalb seiner Familie konnte, kann und will ich nicht beurteilen). Und ich denke, diese "Verklemmtheit", dieser Zwang zur Perfektion, den D. wie auch K. hatten, spürt man in ihren Werken. Speziell bei K. ist mir zu wenig Persönliches zu hören, zu wenig menschliche Wärme, die sich aus all unseren Schwachheiten zusammensetzt. (Das gilt für die meisten, aber nicht für alle seine Werke.) Und das ist es, was mich nie hat mit ihm warm werden lassen.


    Da sind mir Künstler, die auch kräftig mal daneben hauen, wo aber der Mensch durchkommt, doch lieber.


    :hello: Gustav


    PS: Habe gerade seine 1951 Meistersinger gehört. Dafür könnte ich ihn fast lieben. :jubel: :jubel: :jubel: :jubel: :jubel:

  • Zitat

    der vermeintliche Nazi Karajan

    Ich würde sagen: schon SEHR VERMEINTLICH


    Ich glaube es sollte heute klar sein, daß Karajan nur einer EINZIGEN Ideologie an hing, und die hieß KARAJAN.


    Er wäre - um Karierre zu machen - JEDER Partei beigetreten (wenn ich mich erinnere schrieb er das sogar selbst in seinem Buch) - aber er hatte zu KEINER irgendwelche ideologischen Bindungen.
    Das konnte man auch gut in der Nachkriegszeit beobachten, wo ihn Politiker aller Coleurs hofierten.



    Zitat

    Seit Jahren wird in Österreich Wind gegen Karajan gemacht", konstatierte der österreichische Unterrichtsminister Dr. Heinrich ("Bundesheini") Drimmel. "Ich kenne die Windlöcher und auch die Windmacher recht gut. Wenn ich diese Experten und ihre Ansichten mit den Leistungen Karajans und seinen Verdiensten für Österreich vergleiche, dann fällt es mir nicht schwer, bei dem zu bleiben, was für mich seit der Berufung Karajans maßgebend war: für Karajan."

    "Der Spiegel" (1961)

    Treffender kann man das einfach nicht formulieren.


    Damals hatten die Politiker noch Gefühl für sprachliche Feinheiten: Windlöcher - ich lach mich krumm :hahahaha:


    mfg aus Wien


    Alfred

    POLITIKER wollen stets unser Bestes - ABER WIR GEBEN ES NICHT HER !!!



  • Zitat von Alfred_Schmidt

    Ich würde sagen: schon SEHR VERMEINTLICH

    Natürlich war er kein Nazi, das ist Quatsch.



    Zitat

    Er wäre - um Karierre zu machen - JEDER Partei beigetreten (wenn ich mich erinnere schrieb er das sogar selbst in seinem Buch)

    Das spricht IMO aber nicht unbedingt für ihn.


    :hello: Gustav

  • Wer Karajan allen Ernstes auch heute noch als (überzeugten) Nazi einstuft, macht sich ohnehin lächerlich. Genauso gut (und vielleicht gar mit mehr Recht) könnte man Furtwängler als solchen bezeichnen. Ich freilich kann es mir weder beim einen noch beim anderen denken. Daß sich dieses Gerücht gehalten hat, zeigt andererseits, wie schlecht es um echte Argumente gegen Karajan bestellt ist.


    Die Berliner Philharmoniker trafen Ende 1954 die aus heutiger Sicht völlig korrekte, ja bahnbrechende Entscheidung, indem sie Karajan zum neuen Chefdirigenten beriefen. Niemand konnte damals ahnen, daß daraus 35 Jahre werden sollten. Gewiß übertreibt man nicht, wenn man die Jahre von 1954–1989 als die goldene Ära der Berliner Philharmoniker bezeichnet. Der einzige ernsthafte Konkurrent nach Furtwänglers Tod war Celibidache. Zwar fielen auch Namen wie etwa Jochum, aber war dies eher Presse-Aufbauschen. Man stelle sich nur theoretisch mal vor, sie hätten damals Celibidache gewählt. Einen Dirigenten, der keine Opern dirigierte. Sie hätten niemals den überragenden Ruf erhalten (bzw. gehalten – unter Furtwängler hatten sie ihn ja auch schon), eines der weltbesten Opernorchester zu sein (was sie genuin ja nicht waren). Freilich: Ich will hier Celibidache nicht schlecht reden. Vielmehr halte ich ihn für einen großartigen Dirigenten. Doch wäre seine Berufung bzw. Bestätigung (er war ja bereits 1945–1952 kommissarischer Chefdirigent) m. E. dennoch im Vergleich nachteilig gewesen. Der aufsteigende Stern am Firmament war numal der charismatische Salzburger. Die einzigartige Klangkultur, der "Karajan'sche Schönklang" (hier durchaus positiv gemeint), wäre nie zustande gekommen, zumindest nicht bei den Berlinern – wer weiß schon, welches Orchester sich ihn dann geschnappt hätte. Sicherlich hätte er auch ein anderes zu einem Vorzeige-Orchester geformt. Dies beweist ja bereits die (leider einmalige) Zusammenarbeit Karajans mit der Staatskapelle Dresden Anno 1970. Welch ein Klang hier zustande kam! Wenige Jahre später dagegen spielte die Staatskapelle gerade zu grauslich im Vergleich bei Jochums Bruckner-Aufnahmen.


    Summa summarum denke ich, daß an Karajan eben doch sehr viel dran war. 1954 gab es keinen besseren jungen Dirigenten für Berlin. Die fraglos beste Chefdirigenten-Wahl in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts.

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Zitat von Luis.Keuco

    Man kann sich auch politisch-historisch mit Karajan auseinandersetzen. Das sollte man aber von seiner Leistung als Musiker trennen.
    Sonst können wir - gibt es wahrscheinlich auch schon - gern auch mal über die ambivalente Rolle Richard Wagners diskutieren. Für den gilt sicher deutlich mehr als für Karajan: Künstlerisch ein Genie, menschlich ein Schwein.


    Hallo Luis,


    Wenn es um Karajan geht, geht es um Karajan und nicht um irgendjemand anderes.
    Ob jemand zwischen politisch-kulturellen Aspekten einerseits und den musikalischen Leistungen andererseits trennen kann, ist doch als generelles Postulat völlig unhaltbar.
    Wenn Du das für Dich leisten kannst, in Zusammenhang mit Deiner „Lebensphilosophie“, hab ich kein Problem damit.


    Ich kann es bei einigen Musikern nicht leisten.


    Meine biographischen Details lassen eine solche Trennung bei wenigen Künstlern vor allem des deutschsprachigen Raums nicht zu.
    Karajan gehört dazu.
    Ich halte ihn für jemand, der nicht in der Lage war sich kritisch mit seiner Vergangenheit auseinanderzusetzen.
    Auch wenn dadurch seine Botschaft, die Musik als humanistisches Credo GLAUBHAFT zu verbreiten und zu vertreten, aus meiner Sicht erheblich gelitten hat, ja teilweise auch unglaubwürdig ist, so komme ich an seiner Kunst natürlich trotzdem nicht vorbei.


    Wer zieht grundsätzlich eine „schwere Geburt“ einer leichteren vor?
    Für mich ist es mit Karajan wirklich schwierig, das ist so.


    Bewundern tue ich vor allem seine Aufnahmen der Fünfziger.


    Der späte Karajan hat’s für meinen Geschmack zu einseitig mit der Aesthetik des Klanges. Nicht ganz umsonst hat Strawinsky in einem Interview in Zusammenhang mit Karajans Aufnahme des SACRE gesagt, dass er ihn verbieten würde wenn er könnte, weil diese Domestizierung der Partitur für ihn eigentlich nicht in Ordnung ist. Wenn man Ozawa , Bernstein, MTT , Gielen oder auch Szell hört, dann ist bei allen Unterschieden der Interpretation kein Bemühen vorhanden diese archaische rhythmische Komponente zu bändigen, geschweige denn zu nivillieren. DAS aber genau tut Karajan, wie ich finde.


    Mein Herz schlägt für seine hohe Kunst wenn ich die Walküre von 1950(?) aus Bayreuth mit dem wunderbaren Bariton Sigurd Björling höre, oder The Planets von Holst, seinen TROUBADOR mit der Callas und di Stefano (dabei bin ich eher kein so großer Verdi-Fan).


    Ich möchte auf „meinen großen Maestro Gielen“ :.) :.) verweisen, der kein einfaches Verhältnis zu HvK hatte, seit seinen Kapellmeistertagen unter ihm an der Wiener Oper.


    Ich zitiere Gielen: >> Auf jeden Fall haben die Deutschen Verdi nie ernst genug genommen. Es spricht sehr für Karajan, dass er Verdis Musik total ernst nahm. Er hat die unglaublichsten Aufführungen von OTELLO und FALSTAFF in Wien gemacht. Karajan ist ein so sinnlicher Musiker gewesen, dass sein Puccini, sein Richard Strauss, sein Debussy (!!!) und Ravel die besten Sachen sind. Besonders Puccini: Wie die BOHEME geklungen hat in Wien, das habe ich nicht für möglich gehalten........... Vielleicht gibt es jetzt weniger Schlendrian bei der italienischen Musik an Deutschen Opernhäusern. Dass die BUTTERFLY immer nur das LAND DES LÄCHELNS mit kleiner Besetzung war, diese Zeiten sind vorbei. Das ist Karajan zu danken, der Puccini in den höchsten Rang erhoben hat.<<


    Soweit Michael Gielen über Karajan.


    Abschließend möchte ich sagen, dass ich zwei total gegensätzliche Bruckner NEUN sehr sehr schätze, ja liebe: KARAJANs späte Interpretation (Salzburg?) und die des 81jährigen Gielen mit dem RSO Luxemburg, die demnächst als CD herauskommt.
    Gruß...............“Titan“

  • Lieber Titan,


    ich finde deinen Beitrag sehr interessant und im Großen und Ganzen auch nachvollziehbar, wenn deine Einstellung konsequent durchgehalten wird.


    Ich finde, dass eine CD mit Musik bis auf wenige Ausnahmefälle grundsätzlich kein politisches Statement ist und damit die Interpreten das Recht haben, ihren Beruf so auszuüben, wie sie ihn gelernt haben.
    Ich wüsste auch nicht, wo ich unterscheiden sollte zwischen gut und böse.
    Ist nur die politische Biographie ausschlaggebend bei der Bewertung oder müsste ich auch private Fehlgriffe eines Musikers beim CD-Kauf oder Konzertbesuch mit einbeziehen? Wenn ich von einem "banalen" Verbrechen eines Musikers erführe, das ich persönlich streng ablehnte (bsph. Vergewaltigung, Ehebruch, Mord, Kindesmissbrauch), müsste ich auch dann auf die Musik verzichten?
    Man kann die Überlegung weiterspinnen: In Das Parfum von P Süskind entstehen die besten Düfte durch den Mord an jungen Frauen. Wüsste ich als Käufer, dass Frauen für den Duft sterben mussten, würde ich das Parfum kaufen? Vermutlich nicht. Wenn ich das Parfum schon benutzt habe, es mir gefällt, Mitmenschen den Duft gelobt hätten und ich dann erführe, wie es entstand, was würde ich dann mit dem Parfum machen? Was änderte sich in dem Moment, wo ich die halb verbrauchte Flasche entsorgte?
    Wer ist bereit, auf sein Handy zu verzichten, auch wenn bekannt ist, dass für die Herstellung Menschen getötet werden, weil um die Coltanfelder erbittert gekämpft wird und der Abbau unter sklavenartigen Bedingungn erfolgt? Wer verzichtet auf Fleisch und Wurst, obwohl Massentierhaltung grausam und die Arbeitsbedingungen in Großschlachthöfen teilweise menschenverachtend sind?


    Mit diesem Vorlauf ist also zu fragen, welche Konseuqenz es hat, den Künstler moralisch zu bewerten bzw wegen des Künstlers auf dessen Kunst zu verzichten.


    Gerade in Bezug auf das Dritte Reich ist der Vorwurf des Mitläufertums an viele zu richten. Doch muss man auch sehen, dass das politische Klima nach dem Krieg nicht für Selbstbezichtigungen oder sogar Selbstanklagen geeignet war. Der Begriff "Nestbeschmutzer" sei in diesem Zusammenhang erwähnt.
    Sich nicht zu seiner Situation zu äußern, ist moralisch zu beanstanden, menschlich (leider) nachvollziehbar. Und wichtiger erscheinen mir die Taten, mit denen man ja auch ein Statement abgibt. Also, wo man auftritt, was man spielt, ob und in welcher Art und Weise man Künstler oder Projekte fördert. Und da kann man Karajan keinen Vorwurf machen. Da finde ich einen Günther Grass schlicht widerwärtig, der nur, um seine faden Memoiren zu verscherbeln, seine SS-Mitgliedschaft zugibt, am Ende seines Lebens. Wäre dieser Grass auch so eine moralische Instanz in Deutschland geworden, hätte er das früher zugegeben? Hätte er jemals den Literatur-Nobelpreis bekommen?
    Man kann Kunst sicher nicth losgelöst aus Raum und Zeit betrachten. Nur ist die Musik ja schon vorhandene Kunst, die lediglich immer wieder gespielt und interpretiert wird. Welcher Bruckner- oder Wagner-Liebhaber denkt denn beim Hören dieser wundervollen Musik daran, dass der GröFaZ ebenfalls Fan dieser Musik war?


    Ich finde in diesem Zusammenhang auch Gielens Aussage sehr wichtig, dass Karajan, den deutschen Opern-Begriff um Verdi und Puccini erweitert hat. Er hat damit etwas geschafft, was lange Zeit undenkbar schien, nämlich die Anerkennung nicht-deutscher Musik als gleichwertig. Ich verweise hier auf die Ausführungen HR Vagets in Seelenzauber - Thomas Mann und die Musik. Die Musik stellte in Deutschland lange Zeit die "Kernkunst" in Deutschland dar, wogegen in Frankreich oder GB die Literatur diesen Platz einnahm. An dieser Situation zerbrach letztlich auch Thomas Manns Verhältnis zu Deutschland. Obwohl er weltweit als Autor anerkannt war, erlangte er in Deutschland nie den Platz als fürherneder Intellektueller, den er für sich in Anspruch nahm, immer war die Musik und mit ihr der Schatten Wagners größer und länger. Französische und italienische Musik hatten in Deutschland auch nie den Stellenwert wie die "deutschen" Künstler, allen voran natürlich Beethoven und Wagner.
    Man kann es damit durchaus auch als Verdienst Karajans sehen, dass er als Operndirigent, aber auch als Dirigent französicher, russischer, italienischer Komponisten und nicht zuletzt der Emigranten deren Musik nach Deutschland brachte und gleichzeitig zeigte, dass Deutschland die musikalischen Leistungen anderer Länder und Völker als gleichwertig betrachtete. Auch das ist Völkerverständigung.

  • Zitat von Luis.Keuco

    Man kann es damit durchaus auch als Verdienst Karajans sehen, dass er als Operndirigent, aber auch als Dirigent französicher, russischer, italienischer Komponisten und nicht zuletzt der Emigranten deren Musik nach Deutschland brachte und gleichzeitig zeigte, dass Deutschland die musikalischen Leistungen anderer Länder und Völker als gleichwertig betrachtete. Auch das ist Völkerverständigung.


    Ich habe ja keine Ahnung, aber ich glaube das erstmal nicht, dass Rossini, Verdi etc. von Karajan in Deutschland eingeführt wurden.
    :beatnik:

  • Zitat

    Original von Kurzstueckmeister
    ...
    Ich habe ja keine Ahnung, aber ich glaube das erstmal nicht, dass Rossini, Verdi etc. von Karajan in Deutschland eingeführt wurden.


    Eingeführt natürlich nicht, aber kaum einer der großen deutschen Dirigenten vor Karajan hat sich für das italienische Fach wirklich stark gemacht. Itralienische Oper galt neben Wagner und Strauss als zweitklassig. Toscanini schaffte es mit Tourneen, diese Einstellung erstmals ins Wanken zu bringen, aber Karajan zählte zu den ersten deutschsprachigen Dirigenten von Format, die das auch praktisch in die Tat umsetzten (vor allem Verdi).


    (Es gibt muntere Erzählungen von Marcel Prawy, wie das Wiener Opernleben anfangs des 20. Jahrhunderts ziemlich abschätzig auf die italienische Oper herabsah. Es wurden überhaupt nur wenige italienische Opern gespielt und hatten kaum Renommee. Ein Gastspiel der Mailänder Scala unter Toscanini geriet 1927 oder 1928 unversehens zur Sensation und Prawy berichtete, dass ein ca. 20-jähriger Musikstudent praktisch in allen Vorstellungen am Stehplatz zu sehen war...)


    :hello:

    Ciao


    Von Herzen - Möge es wieder - Zu Herzen gehn!


  • Sah gestern auf Sky Unitel Classica: Herbert von Karajan oder: Die Schönheit, wie ich sie sehe


    http://www.classica.de/show.cf…6&ZIEL=24.01.2013&REF=day


    Zitat

    34 Jahre lenkte Herbert von Karajan (1908-1989) als Chefdirigent die Geschicke der Berliner Philharmoniker und führte das Orchester an die Weltspitze. Eine enge Zusammenarbeit verband ihn mit der Mailänder Scala und der Wiener Staatsoper. Lange Jahre wirkte er bei den Festspielen in Salzburgund Luzern mit. Außerdem gründete er die Salzburger Osterfestspiele. Seine vielfältigen Tätigkeiten brachten ihm die Bezeichnung als "Generalmusikdirektor von Europa" ein. Obwohl er als einer der besten und erfolgreichsten Dirigenten seinerZeit galt, polarisierte Karajan auch. Insbesondere seine Mitgliedschaftin der NSdAP während des Dritten Reichs, sein Hang zur Selbststilisierung und die intensive Vermarktung der eigenen Person gaben immer wieder Anlass zu kontroversen Diskussionen. In den 60er Jahren begann Karajan, sich für die filmischen Möglichkeiten von Konzert- und Opernaufzeichnungen zu interessieren, undgründete gemeinsam mit Leo Kirch die Unitel. Unzählige Stunden Musik nahm er für das Unternehmen auf, bediente sich neuester technischer Mittel und bestimmte oft selbst Kameraeinstellungen und Schnitt. Seine Bildsprache wurde richtungweisend für die moderne Filmaufzeichnung von Opern und Konzerten. Robert Dornhelm trug für dieses Portrait umfangreiches Archivmaterial zusammen, das Karajan in Interviews, Konzerten und Orchesterproben zeigt. Außerdem befragte er zahlreiche Wegbegleiter und Zeitgenossen über ihre Erinnerungen an den Maestro, darunter dessen Ehefrau Eliette, Anne-Sophie Mutter, Jewgenij Kissin, Seiji Ozawa, Elisabeth Schwarzkopf, Christa Ludwig, René Kollo, Mariss Jansons, Sir Simon Rattle, Christian Thielemann und Alt-Bundeskanzler Helmut Schmidt.


    Länge des Programms: 1:31:00
    Österreich 2007, Regie: Robert Dornhelm

    Wie ich finde, eine sehr schwache Dokumentation; für anderthalb Stunden war das gar nichts. Und wieso übersetzt man die vielen englischsprachigen Interviews nicht? Ich kann zwar fließend Russisch; hatte auch hebräisch, griechisch und Latein; aber das Englische wurde zu Zonenzeiten weniger beachtet.

  • Banner Strizzi