Literarische Empfehlungen - was lese ich gerade

  • Gilbert Keith Chesterton, „Orthodoxie“, in einer sehr schönen Ausgabe der Anderen Bibliothek, antiquarisch bezogen.


    Chesterton entfaltet darin in persönlichem, humorvollem, bisweilen ironisch zugespitztem Ton, wie er in seinem Leben, ohne dies zu beabsichtigen, zu einer Reihe von Überzeugungen gefunden hat, die er dann im christlichen Glauben widergespiegelt findet. In seinen Betrachtungen streift er Wahnsinn, Märchen, Rationalismus, Selbstmord, Optimismus/Pessimismus, rechnet mit Nietzsche und Schopenhauer ab und erläutert, warum für ihn in Märchen mehr Realismus steckt als in modernen Romanen.


    Ein wunderbares Buch, auch wenn man sich zu vielen Punkten gern mit ihm streiten möchte.


    Parallel dazu höre ich gerade den Podcast „A Pint with Chesterton“, in dem zwei junge Amerikanerinnen Kapitel für Kapitel des Buchs diskutieren - ebenfalls sehr unterhaltsam.

    "...man darf also gespannt sein, ob eines Tages das Selbstmordattentat eines fanatischen Bruckner-Hörers seinem Wirken ein Ende setzen wird."



  • Gestern lief auf ZDF die Verfilmung von Siegfried Lenz' Roman Deutschstunde aus dem Jahr 2019.


    Grandios die Leistung der Schauspieler. Ulrich Noethen als der Dorfpolizist, Tobias Moretti als der Maler. Der Kinder-Schauspieler des kleinen Sigi, Levi Eichenblätter, ist besonders eindrücklich.


    Das Drehbuch nimmt sich einige Freiheiten.


    Gelegenheit das Buch wieder einmal zu lesen und sich Gedanken über die Freuden der Pflicht zu machen.


    Vor Schuberts Musik stürzt die Träne aus dem Auge, ohne erst die Seele zu befragen:
    so unbildlich und real fällt sie in uns ein. Wir weinen, ohne zu wissen warum; Theodor W. Adorno - 1928




  • Liebe Musik- und Literaturfreunde,


    ich hoffe, es ist in Ordnung hier Schleichwerbung für meinen Gedichtband zu machen, der dieser Tage im Treibgut-Verlag in Berlin erschienen ist; falls nicht, bitte das Posting löschen.


    Wie es natürlich naheliegt, spielt bei den Gedichten auch Musik eine große Rolle.


    https://www.treibgut-verlag.de/Lyrik


    Das Buch gibt es in jeder Buchhandlung, bei manchen Online-Plattformen sowie bei mir (Adresse bzw email über Alfred), falls eine Signatur gewünscht wird.

  • Jetzt lese ich ein verdammt schönes Buch von einem Lieblingsautor......



    Zitat

    Klappentext

    Das erste Mal, 1964, in Gesellschaft einer jungen Frau. Dann, 1982, mit dem Orientexpress. Erst beim zehnten Mal das Wagnis: eine Gondelfahrt. Und schließlich, 2018, kappt ein heftiger Sturm die einzige Landverbindung zwischen der Stadt und dem Rest der Welt und sorgt dafür, dass der Gast länger bleibt als geplant. Cees Nootebooms Liebe zu Venedig dauert nun schon über 50 Jahre an. Viele Male hat er die Stadt besucht, wohnt in prachtvollen Hotels und düsteren Apartments, huldigt den Malern und Schriftstellern, die hier lebten und arbeiteten, beobachtet den drohenden Ausverkauf Venedigs ebenso wie das Verhalten der Bewohner und Besucher: klug und selbstironisch, fast zärtlich.

    Der große niederländische Autor und Reisende Cees Nooteboom stellt sich die Frage: »Weshalb liebe ich diesen Ort mehr als andere Orte?« In seinen Texten aus drei Jahrzehnten gibt er die Antwort - und setzt Venedig, La Serenissima, ein Denkmal von ungeheurer Strahlkraft

    .....für mich ist es immer wieder interessant was andere Menschen mit Venedig verbinden und verbindet.

    Auch meine pers. Faszination hat nie nachgelassen und ich habe mir das Vergnügen gemacht und was schon zu allen vier Jahreszeiten in dieser faszinierenden Lagunenstadt! :hail:


    LG Fiesco

    Il divino Claudio
    "Wer vermag die Tränen zurückzuhalten, wenn er den berechtigten Klagegesang der unglückseligen Arianna hört? Welche Freude empfindet er nicht beim Gesang seiner Madrigale und seiner Scherzi? Gelangt nicht zu einer wahren Andacht, wer seine geistlichen Kompositionen anhört? … Sagt nur, und glaubt es, Ihr Herren, dass sich Apollo und alle Musen vereinen, um Claudios vortreffliche Erfindungsgabe zu erhöhen." (Matteo Caberloti, 1643)

  • Der Zufall will es: Am 1. November habe ich Cees Nootebooms Roman Allerseelen begonnen. Der niederländische Autor brachte ihn 1998 heraus.


    Ein grosser Teil der Handlung spielt in Berlin, aber nicht nur, Kioto und Madrid kommen auch vor. Auch der Tod. Auch die Liebe. Beim Lesen versuche ich die Stränge und vielen Personen, die vorkommen in einen Zusammenhang zu bringen. Ein Chor wie aus der griechischen Antike wird vom Autor auch als Stilmittel verwendet. Es mag ein Merkmal des Textes sein, dass der Haupthandlungsträger ein Dokumentarfilmer ist und seine Sicht auf die Welt einen filmischen, beobachtenden Charakter hat.


    .

    Vor Schuberts Musik stürzt die Träne aus dem Auge, ohne erst die Seele zu befragen:
    so unbildlich und real fällt sie in uns ein. Wir weinen, ohne zu wissen warum; Theodor W. Adorno - 1928




  • :):thumbup::hail::jubel:


    LG Fiesco

    Il divino Claudio
    "Wer vermag die Tränen zurückzuhalten, wenn er den berechtigten Klagegesang der unglückseligen Arianna hört? Welche Freude empfindet er nicht beim Gesang seiner Madrigale und seiner Scherzi? Gelangt nicht zu einer wahren Andacht, wer seine geistlichen Kompositionen anhört? … Sagt nur, und glaubt es, Ihr Herren, dass sich Apollo und alle Musen vereinen, um Claudios vortreffliche Erfindungsgabe zu erhöhen." (Matteo Caberloti, 1643)

  • Ich reihe mich ein in die Verehrer von Cees Noteboom, der einer meiner Lieblingsautoren ist. "Allerseelen" habe ich damals beim Erscheinen der deutschen Übersetzung mit großem Gewinn gelesen. Das Venedig-Buch kenne ich noch nicht, werde es mir aber umgehend beschaffen.

    Der Traum ist aus, allein die Nacht noch nicht.

  • Wohl dem, der C.N. schon früh kennengelernt hat.


    Wir im SW- Deutschen waren damals ahnungslos. Die öffentlich rechtlichen Sender haben uns den Mann nähergebracht. Wir hörten zu- teils aufmerksam...

  • Marie NDiaye


    Die Rache ist mein



    Spannung pur, Innen- und Aussensicht der Figuren in diesem Gerichtsthriller sind sprachlich auf höchstem Niveau dargestellt. Zu Recht in Frankreich gefeiert.

    Vor Schuberts Musik stürzt die Träne aus dem Auge, ohne erst die Seele zu befragen:
    so unbildlich und real fällt sie in uns ein. Wir weinen, ohne zu wissen warum; Theodor W. Adorno - 1928




  • Mich haben schon seit längerer Zeit die Briefe von Felix Mendelssohn Bartholdy in den Bann gezogen. Ich war verrückt genug, mir die Gesamtausgabe beizuschaffen, an der ich mich wohl noch etwas länger abarbeiten kann. Davor habe ich mit großer Begeisterung "Eine Reise durch Deutschland, Italien und die Schweiz: Briefe, Tagebuchblätter, Skizzen" von ihm gelesen, herausgegeben von Peter Sutermeister. Ich kann dieses Buch nur wärmstens empfehlen. Es enthält nicht nur wunderbare Reisebeschreibungen (inklusive Zwischenstopp bei Goethe), sondern auch viel Humor, Gedanken zur Musik und wertvolle Einblicke ins Leben der Familie Mendelssohn. Ich bin bei der Lektüre seiner Briefe oft so verblüfft, wie klug und vielseitig begabt er war - und das bereits so früh. Ein wirklich außergewöhnlicher Mensch.

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  • Liebe ninasophie


    Es wird dieses Buch sein, von dem du begeistert bist. Beim Werbepartner ist es nicht mehr erhältlich.



    Was mich beim Lesen dieser Briefe und die anderer Zeitgenossen immer wieder begeistert, ist der Umgang mit der Zeit. Das Leben hatte ein anderes Tempo. Und wenn man weiss, dass Felix Mendelssohn zu Fuss unterwegs war, wird verständlich, worin die Qualität seiner Briefe sich gründet. Er machte während seiner ausgedehnten Reisen auch eine Vielzahl von detailreichen Aquarellen. Da muss man sich hinsetzen und genau beobachten. (Der Buchumschlag zeigt die Sicht den Ausfluss der Reuss aus dem Vierwaldstättersee in Luzern mit Blick auf die Hofkirche Richtung Rigi.)


    Wer das Buch antiquarisch erwerben kann, wird es nicht bereuen.


    LG moderato

    .


    Ansicht_von_Luzern_-_Aquarell_Mendelsohn_1847FXD.jpg

    Vor Schuberts Musik stürzt die Träne aus dem Auge, ohne erst die Seele zu befragen:
    so unbildlich und real fällt sie in uns ein. Wir weinen, ohne zu wissen warum; Theodor W. Adorno - 1928




  • Lieber moderato,


    vielen Dank, dass du das Buch verlinkt hast - genau das ist es!


    Und ich stimme dir zu. Das betrifft letztlich nicht nur die Reisebeschreibungen, sondern auch den Alltag und vor allem auch Beziehungen. Ich bin oft fasziniert davon, wie wohlüberlegt und feinfühlig seine Briefe an Freunde und Familienmitglieder sind. Manchmal kann ich gar nicht glauben, dass man mit 18 Jahren schon so kluge Einsichten hat. Für mich sind seine Briefe jedenfalls immer auch eine Ermunterung, sich unentwegt weiterzubilden. Er konnte durch seine Erziehung auf so viel inneren Reichtum zurückgreifen, war so vielseitig interessiert und zugleich so besonnen. Mir kommt vor, gerade diese Besonnenheit hört man auch in seiner Musik (und noch viel mehr).


    Liebe Grüße

    ninasophie

  • Die Neusprechkenntnisse am besten auch gleich mit aufbessern, in diesem Zeiten.

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Liebe Musik- und Bücherfreunde,

    mittlerweile ist mein Gedichtband auch bei JPC erhältlich; wer also noch auf der Suche nach einem schönen Nikolaus- oder Weihnachtsgeschenk ist, oder sich selbst mit etwas schöngeistiger Literatur verwöhnen will, kann also das Buch auch über den Werbepartner beziehen und damit gleichzeitig auch das Tamino-Forum unterstützen:



    Holger war so freundlich und hat das Buch bereits ganz wunderbar rezensiert:


    Aktive Pianisten unserer Tage - Olga Scheps - "Kraft und Seele"

  • Durch die Beschäftigung mit Weber kam ich neuerlich auf Rübezahl, den Berggeist des Riesengebirges. Weber hat ein entsprechendes Opernfragment hinterlassen, bestehend aus einer Ouvertüre, die später unter dem Titel "Beherrscher der Geister" ein eigenes Dasein führte, und wenigen Szenen. Der Stoff ist insofern faszinierend, weil er den uralten Topos von der Sehnsucht nach Verwandlung und Menschwerdung aufgreift. In den Legenden von Johann Karl August Musäus (1735-1787) ist das besonders tiefsinnig dargestellt. An einigen Stellen finden sich auch Ereignisse, aus denen der Schluss gezogen werden könnte, der Weimarer Gelehrte und Märchensammler der Aufklärung habe vor fast zweihundertfünfzig Jahren antisemitische Klischees bemüht. Herder, der an seinem Grab die Rede gehalten hatte, war neuerdings ebenfalls in diesen Versacht geraten.


    Es grüßt Rüdiger als Rheingold1876


    "Was mir vorschwebte, waren Schallplatten, an deren hohem Standard öffentliche Aufführungen und zukünftige Künstler gemessen würden." Walter Legge (1906-1979), britischer Musikproduzent

  • An einigen Stellen finden sich auch Ereignisse, aus denen der Schluss gezogen werden könnte, der Weimarer Gelehrte und Märchensammler der Aufklärung habe vor fast zweihundertfünfzig Jahren antisemitische Klischees bemüht.

    Was ja für die Zeit durchaus nicht ungewöhnlich wäre. - Dankbar bin ich trotzdem für diesen Literatur-Tipp, und dies umso mehr, als dass ich das Werk für umsonst auf meinem neu erworbenen Kindle lesen kann.

    mfG Michael


    Eine Meinungsäußerung ist noch kein Diskurs, eine Behauptung noch kein Argument und ein Argument noch kein Beweis.

  • An einigen Stellen finden sich auch Ereignisse, aus denen der Schluss gezogen werden könnte, der Weimarer Gelehrte und Märchensammler der Aufklärung habe vor fast zweihundertfünfzig Jahren antisemitische Klischees bemüht. Herder, der an seinem Grab die Rede gehalten hatte, war neuerdings ebenfalls in diesen Versacht geraten.

    Zumindest hat Herder das damals wohl nicht ungewöhnliche Stereotyp des "Jüdischen Parasiten" in seinen berühmten "Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit" durchaus bedient.


    https://de.wikipedia.org/wiki/J%C3%BCdischer_Parasit


    Insofern ist eine differenzierte Betrachtung sicher interessant.

  • Der zitierte Wikipedia-Artikel ist erfreulich differenziert:

    Zitat


    Der polnische Germanist Emil Adler dagegen hält es – auch angesichts der positiven Äußerungen zum Judentum wenige Seiten vorher oder nachher – für möglich, dass Herder damit nur ein „apologetisches Gegengewicht“ setzen wollte: Auch an anderen Stellen der Ideen habe er kritisch-aufklärerische Formulierungen mit konservativ-orthodoxen Gedanken kontrastiert und sie somit abgeschwächt, um seine Stellung als Generalsuperintendent der lutherischen Kirche in Weimar nicht zu gefährden.[9] Der Germanist Arndt Kremer weist darauf hin, dass dergleichen Sprachbilder im 18. Jahrhundert „noch nicht per se für antisemitische Zwecke instrumentalisiert“ waren. Er stellt ihnen Herders Argumentation gegenüber, wonach sich die angeblichen Verfehlungen des Judentums mit der von ihm als „barbarisch“ bezeichneten antijüdischen Gesetzgebung seiner Gegenwart erklären ließen: „Kein völkischer Antisemit späterer Zeit würde so argumentieren“.[10]

    Ich halte Herder für einen wichtigen deutschen Denker und Schriftsteller, sein Hauptwerk, die "Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit", wurde nicht nur von Goethe hochgeschätzt, sondern ist auch ein weiterhin lesenswertes Stück deutscher Geistesgeschichte.

    "...man darf also gespannt sein, ob eines Tages das Selbstmordattentat eines fanatischen Bruckner-Hörers seinem Wirken ein Ende setzen wird."



  • Ich halte Herder für einen wichtigen deutschen Denker und Schriftsteller, sein Hauptwerk, die "Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit", wurde nicht nur von Goethe hochgeschätzt, sondern ist auch ein weiterhin lesenswertes Stück deutscher Geistesgeschichte.

    Wir haben dieses Werk ausschnittsweise in der Schule gelesen und ich würde Dir hier unumstritten zustimmen. Wenn man den Abschnitt vollständig liest, ist die Interpretion Adlers zumindest nicht die einzige Deutungsweise. Allerdings ist Herder sicherlich nicht der Prototyp des Antisemiten. An vielen Stellen äußert er sich positiv zum Fleiß des jüdischen Volkes. Was man hier sehen kann, ist, dass ein Stereotyp auch von einem solchen Denker wie Herder nicht immer hinterfragt wird. Man steht also vor einem Zeitdokument.


    Selbstverständlich ist es die dümmste aller Reaktionen, die Geschichte zu ignorieren und diese Dokumente nach heutigen Kriterien zu zensieren. Irgendeiner der geschäftigen Kollegen der "Political Correctness" sprach in diesem Zusammenhang von Kontextualisierung oder weniger "wissenschaftlich", man muss bei solchen Äußerungen eben den historischen Bezug herstellen.


    Das bringt zwei Vorteile.


    1. Man kann die Äußerungen Herders besser bewerten

    2. Man lernt etwas von (und eventuell auch aus) seiner Geschichte

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  • Der Stoff wurde auch in der Oper "Rübezahl und der Sackpfeifer von Neiße" von Hans Sommer als phantastisch-romantische Oper in 4 Aufzügen komponiert, sie hatte am 15.04.1904 am Hoftheater Brauschweig Uraufführung.

    2016 nahm sich das Geraer Theater der vergessenen Oper an. Davon gibt es eine CD, div Ausschnitte sind bei youtube zu erleben.


    La Roche


    Sommer: Rübezahl und der Sackpfeifer von Neiße

    Ich streite für die Schönheit und den edlen Anstand des Theaters. Mit dieser Parole im Herzen leb' ich mein Leben für das Theater, und ich werde weiterleben in den Annalen seiner Geschichte!

    Zitat des Theaterdirektors La Roche aus Capriccio von Richard Strauss.

  • Anne Frank: Tagebuch


    Lange schon steht dieser Klassiker in meinem Regal, lange fand ich nicht den Impuls, das Buch zu beginnen. Ich hatte ein bisschen Angst, oder wenigstens Respekt vor dem Inhalt, von dem ich nicht wusste, wie explizit das Grauen sein würde, das ich beim Lesen zu erwarten hatte.

    Nun habe ich gestern die ersten 100 Seiten gelesen und bin beeindruckt. Der unbegreifliche Horror ist präsent, auf eine Weise, die vielleicht gerade wegen der Indirektheit, wegen der (bislang) fehlenden konkreten Darstellungen der Gräuel, erschütternd ist; aus der Feder einer Dreizehnjährigen, eines sehr offenen, recht freizügig schreibenden Mädchens in dieser sonderbaren Lage. Einerseits versteckt, eingeschränkt, im Leisen und Unauffälligen gefangen, andererseits zu Beobachtungen fähig, mit denen sie ihre Lage als vergleichsweise gut erscheinen lässt, wenn Anne andere Kinder auf der Straße beobachtet, verdreckt, verarmt, verwahrlost.

    Es ist ein Kinderbuch, aber was für eines - vom Kind geschrieben, von Kindern zu lesen, und gleichermaßen für Erwachsene. Von der Drangsal mal abgesehen weiß ich nicht, ob ich in dem Alter zu solch einer Schreibweise fähig gewesen wäre.

    Ich bin jedenfalls froh, dass ich gestern meinem Impuls gefolgt bin und spontan zu diesem Buch gegriffen habe. Das Tagebuch ist ein verstörendes, gruseliges, schönes Wunder.

    „In sanfter Extase“ - Richard Strauss (Alpensinfonie, Ziffer 135)

  • Gerade haben mich die Ereignisse zum Buch "Über Dichtung" von Wolf von Niebelschütz (Suhrkamp, 1979) greifen lassen - ein Bändchen, das mir in der Jugend sehr viel erschlossen hat und das ich lieb und teuer halte.


    Darin enthalten ist ein Vortrag, den er 1947, ebenfalls in einer schwierigen historischen Zeit, hielt in Mülheim an der Ruhr, über Eduard Mörike, seine Dichtung und sein Verhältnis zur Gegenwart.


    "Sie werden staunen, was alles in ein Menschenleben hineingeht an blutrünstigen Ereignissen, und wie pervers die Menschheit veranlagt ist, daß sie sich immer an den vom Blute Triefenden berauschen muß. Was ist bei diesem ganzen Morden herausge-

    kommen? Das Völkerglück? der Völkerfriede? eine auch nur halbwegs erträgliche Regierungsform?


    Und doch gab es einen Frieden, wenn auch auf ganz anderer Basis, den hundert hochgerüstete Staaten in hundert Jahren nicht haben brechen können: Mörikes Gedichte. Als er sie dichtete, füllten sich die Gefängnisse in Deutschland, bitte das nicht zu vergessen, Alles forderte, schrie und raisonnierte, Freiheit war die große Losung, Kotzebue wurde ermordet, die Burschenschaft verboten, die Demagogen verfolgt, Österreich intervenierte in Neapel, die Carbonari wurden gehängt, füsiliert, das gleiche Schauspiel in Spanien, hier führte das bourbonische Frankreich die Exekution durch, dann Revolution auch dort, Paris stieg auf die Barrikaden -


    Du bist Orplid, mein Land,

    Das ferne leuchtet!


    - im selben Jahre 1830 geschrieben. Belgien riß sich von Holland los, wieder floß Blut, Rußland metzelte den polnischen Aufstand nieder, Aufstände in Süddeutschland, Attentat auf den Frankfurter Bundestag, verschärftes Polizeiregime, Spitzel, Zensur -


    Märchenhaft fühlt ich mich selbst, mit aufgeschlossenen Sinnen

    Sah ich, wie helle! den Wald, rief mir der Kuckuck wie fremd!


    Und 1840 rasselte Frankreich mit dem Säbel - hätte Mörike da nicht auch, wie Nikolaus Becker, singen können »Sie sollen ihn nicht haben«?


    »Lebe wohl« - du fühlest nicht,

    Was es heißt, dies Wort der Schmerzen ...


    das sang er, und zwei Jahre später:


    Welch Entzücken! Es war um die hohe Stunde des Mittags,

    Lautlos alles, es schwieg selber der Vogel im Laub.


    1845 schmiedeten Terror und Gegenterror ihre Waffen, Flinten, Pistolen, Höllenmaschinen, Dolche -


    Musik der hundertfachen Flöte,

    Die mit dem letzten Strahl verschwebt…"



    „Und wie das Seelische an Bedeutung gewinnt, je totaler die Macht sich aufspielt, so neigt man, je wilder die Elemente rasen, um so eher dem Leisen zu. Dieses Pendelgesetz scheint mir von nicht geringer Tröstlichkeit.“


    Bei dieser Gelegenheit übrigens eine Empfehlung für den Romancier von Niebelschütz und seine Romane "Der blaue Kammerherr" und vor allem "Die Kinder der Finsternis".

    "...man darf also gespannt sein, ob eines Tages das Selbstmordattentat eines fanatischen Bruckner-Hörers seinem Wirken ein Ende setzen wird."




  • Schon vor rund zwei Jahren erworben, stand diese schöne Ausgabe von Michail Bulgakows Roman "Die weiße Garde" bis dato ungelesen im Regal. Die Geschichte, die in diesem Roman erzählt wird, kannte ich durch eine um 2010/12??? gedrehte russische Fernsehserie, in der die Romanhandlung verfilmt worden war. In Folge der Serie erstand ich dann den Roman selbst.

    Das Buch blieb dann aber - wie das halt leider zu oft so ist - liegen. Jetzt allerdings hat mich der Krieg in der Ukraine doch zum Buch greifen lassen. In ihm wird die Geschichte der Familie Turbin aus Kiew erzählt, bzw. nur ein Teil ihrer Geschichte, nämlich der, welcher in den Jahren 1918 und 1919 abläuft. Auch damals war die Ukraine Kriegsgebiet und zwar gleich von drei sich überlagernden Kriegen: des I. Weltkrieges (deutsche und österreichische Truppen als Folge des Friedens von Brest-Litowsk als Besatzer im Land), eines inner-ukrainischen Bürgerkrieges (z.B. zwischen den Anhängern des Hetmans Skoropadskyi und denen von Semyon Petljura) und des Russischen Bürgerkrieges, in dessen Verlauf die Rote Armee die von Russland losgelöste Ukraine wieder unter russische (bzw. dann sowjetische) Oberhoheit zwingt. Ich bin erst mit einem Drittel des Romans durch, kann aber sagen, dass sich die Lektüre definitiv lohnt, denn die Verwerfungen, die hier geschildert werden, illustrieren die reichhaltige ukrainische Geschichte doch sehr. Auch die russische Sichtweise auf die Ukraine (wovon ja einiges bei diversen Statements aus dem Kreml anklingt) wird zumindest in einigen Ansätzen erklärlich. Und als ob das nicht schon genug des Chaos wäre, scheint in der Handlung auch sehr der regionale Antisemitismus durch, der im Verlauf der zerstörerischen Entwicklungen immer wieder deutlich wird. Und ganz abgesehen davon ist Bulgakow ein sehr einfühlsam geschriebenes Werk gelungen, welches zu lesen (in der Neuübersetzung von Alexander Nitzberg) schon sprachlich ein Vergnügen ist.


    Grüße

    Garaguly

  • Leo N. Tolstoi (1828-1910)


    Krieg und Frieden - Woina i mir


    Lesen ist das einzige, das ich zur Zeit schaffe. Ich hatte lange mir vorgenommen dieses Buch zu lesen. Den passenden Lesestoff zur momentanen Situation in der Urfassung aus dem Jahr 1867 habe ich mir in der Übersetzung von Dorothea Trottenberg beschafft.


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    Vor Schuberts Musik stürzt die Träne aus dem Auge, ohne erst die Seele zu befragen:
    so unbildlich und real fällt sie in uns ein. Wir weinen, ohne zu wissen warum; Theodor W. Adorno - 1928




  • Da ich das Taschenbuch mit einer CD bestellt hatte, die sich nach Monaten als nicht mehr erhältlich herausstellte, kam letzthin überraschend ein Päckchen unseres Werbepartners an.


    Roger Willemsen


    Willemsens Jahreszeiten



    Vier Mal jährlich erschien die Kolumne »Willemsens Jahreszeiten« von 2010 bis 2015 im Magazin der ZEIT unter dem Titel der jeweiligen Jahreszeit.


    Bestellt hatte ich die Texte, weil ich Roger Willemsen sehr schätze und jede gedruckte Zeile von ihm in der Bibliothek habe.


    Um es grad von Anfang an zu sagen: Diese 174 Seiten sind eine eine anstrengende Lektüre, weil die Texte sehr mit der damaligen Tagesaktualität im Zusammenhang stehen, die genannten Personen mir nur teilweise bekannt sind. Ein Personenregister im Glossar wäre hilfreich. Die Nachbemerkung am Schluss von Ilsa Wilke würdigen den Stellenwert, den diese Kollumnen haben.

    Der Autor führt ein sehr scharfes Schwert der Polemik. Wen Willemsen auf dem Radar hatte, wurde unerbittlich, wiederholt mit beissenden Formulierungen bedacht. Da werden die Episoden der Sternchen des Boulevards, Aussagen von Politikern und Skandale vermeintlicher Fernsehgrössen nebeneinander gesetzt. Und Willemsen schafft es, so unbedeutend etwas scheint, in einen grösseren Zusammenhang zu stellen. Ein kleines Beispiel ist der letzte Abschnitt der letzten Kollumne aus dem Jahr 2015. (2016 starb Roger Willemsen.)


    "Ohne Potential, aber mit Interruptus hat hingegen jene Sendung geendet, für die die ARD Thomas (*), dem Herbstblonden, gut 32 000 Euro pro Folge zusprach. Das Geld brauchte er zum Leben, und siebzig Folgen brauchte er, bis die Sendung da war, wo alle Experten sie von Anbeginn erwartet hatten: in der Grütze. Nicht durch Gebühren, durch Werbung sei das bezahlt worden, schlawinerte darauf die ARD, die vielen freien Mitarbeitern bis heute nicht mal Mindestlöhne zahlt. Man hatte die zwölf Millionen also übrig? Kein Wunder, dass die Sendergewaltigen die Rundfunkgebühr als "Demokratieabgabe" bezeichnen. Denn Demokratie entpuppte sich auch in diesem Sommer wieder weniger als Herrschaft, sondern vielmehr als Selbstbeherrschung des Volkes."


    (* Anmerkung moderato: Thomas Gottschalk, Wetten dass)


    Aufschlussreich auch, dass eine deutsche Partei mit keinem Wort erwähnt wird. Die mit dem grossen A am Anfang. Roger Willemsen ignorierte sehr bewusst.



    Er hat über die parlamentarische Arbeit, dem Herzstück der Demokratie ein sehr lesenswertes Buch geschrieben. In diesen Zeiten, wo in der Ukraine ein barbarischer Krieg geführt wird und die Freiheit der Demokratie bedroht ist, ein wichtiger Impuls: Was sind unsere Werte?


    Aus dem Klappentext:


    Ein Jahr lang sitzt Roger Willemsen im Deutschen Bundestag - nicht als Abgeordneter, sondern als ganz normaler Zuhörer auf der Besuchertribüne im Berliner Reichstag. Es ist ein Versuch, wie er noch nicht unternommen wurde: Das gesamte Jahr 2013 verfolgt er in jeder einzelnen Sitzungswoche, kein Thema ist ihm zu abgelegen, keine Stunde zu spät. Er spricht nicht mit Politikern oder Journalisten, sondern macht sich sein Bild aus eigener Anschauung und 50000 Seiten Parlamentsprotokoll. Als leidenschaftlicher Zeitgenosse und »mündiger Bürger« mit offenem Blick erlebt er nicht nur die großen Debatten, sondern auch Situationen, die nicht von Kameras erfasst wurden und jedem Klischee widersprechen: effektive Arbeit, geheime Tränen und echte Dramen. Der Bundestag, das Herz unserer Demokratie, funktioniert - aber anders als gedacht.

    Für die Taschenbuchausgabe hat Roger Willemsen sein viel diskutiertes Buch noch einmal erweitert und beschreibt Reaktionen und neueste politische Entwicklungen.


    Roger Willemsen


    Das hohe Haus


    Vor Schuberts Musik stürzt die Träne aus dem Auge, ohne erst die Seele zu befragen:
    so unbildlich und real fällt sie in uns ein. Wir weinen, ohne zu wissen warum; Theodor W. Adorno - 1928




  • https://www.edition-schaumberg…x2LMzM-6ktLzaOwAyB9BzLaoc


    Ich darf mit obigem Link eine Anthologie ankündigen, in der ich auch mit einem Gedicht vertreten bin; ein Herzensprojekt, das ich auch gerne allen Musik- und Literaturfreunden ans Herz legen möchte. Der Erlös des Buches wird für die Ukraine gespendet.

  • Cees Nooteboom wurde in Deutschland bekannt, als Marcel Recih-Ranicki die Novelle "Die folgende Geschichte" hymnisch bejubelte. 1991 war das. In meiner Stammbuchhandlung lgab's damals einen Tisch mit vier Stapeln. Das waren die Bücher, die beim literarischen Quartett zur Besprechung anstanden. Von Nooteboom war damals noch "Rituale" im Umlauf,die "Folgende Geschichte" kaufte ich vor der Besprechung. Ich habe das Buch verschlungen und gewiss mehrfach gelesen. Eine niederländische Ausgabe davon habe ich mir von Nooteboom signieren lassen, ebenso wie "Allerseelen", anlässlich einer Lesetour. 1993 waren dann die Niederlande und Belgien Gastländer der Frankfurter Buchmesse, wodurch wunderbare Autoren plötzlich in deutscher Übersetzung verfügbar wurden, Cherry Duyn und "Dantes Trompete", Maarten 't Hart, A.F.Th. van der Heyden und "Der Anwalt der Hähne" oder "Ein Tag, ein Leben", Harry Mulisch "Die Entdeckung des Himmels" und eben Cees Nooteboom.


    Und da sind wir auch bei meiner aktuellen Lektüre. Maarten 't Hart "Bach und ich" Wer wie ich der Auffassung ist, dass das Werk Johann Sebastian Bachs einen Menschen icht unberührt lassen kann, der freut sich über ein Buch, in dem dem großen Meister kenntnisreich, aber verständlich erzählt nachgespürt wird.' Hart überprüft Legenden und nähert sich vorsichtig und liebevoll seinem und meinem Lieblingskomponisten und schreibt vor allem über die Musik Bachs. Das alles sehr gewinnbringend (für mich).Dem Buch beigefügt ist eine CD mit ausgewählten Werken Bachs, geleitet von Ton Koopman.



    Liebe Grüße vom Thomas :hello:

    Früher ist gottseidank lange vorbei. (TP)
    Wenn ihr werden wollt wie eure Väter waren werdet ihr so wie eure Väter niemals waren.

  • Lieber Thomas Pape, Hart auch ein Buch mit dem Titel "Mozart und ich" geschrieben. Ich habe es damals ebenfalls mit Vergnügen und Gewinn gelesen!


    Beste Grüße


    Christian

    "...man darf also gespannt sein, ob eines Tages das Selbstmordattentat eines fanatischen Bruckner-Hörers seinem Wirken ein Ende setzen wird."



  • Victor Klemperer


    LTI


    LTI - Lingua Tertii Imperii: Victor Klemperers Analyse der Sprache des Nationalsozialismus und ihrer Wirkungsmacht ist ein Meisterwerk der Geschichtsschreibung. Zugleich ist es ein historisches Dokument ersten Ranges von der Selbstrettung eines Sprach- und Literaturwissenschaftlers in hoffnungsloser Zeit.


    Ich denke bei der Lektüre an die Menschen in Russland, die seit Jahren der Sprache der staatlichen Propaganda ausgesetzt sind und was das mit ihnen macht.



    und


    Paul Celan


    Die Gedichte


    Ausgabe 2020


    Über die Verschränkung der Buchstaben L und A, die der Grafiker der Ausgabe gewählt hat, kann man sinnieren.


    Vor Schuberts Musik stürzt die Träne aus dem Auge, ohne erst die Seele zu befragen:
    so unbildlich und real fällt sie in uns ein. Wir weinen, ohne zu wissen warum; Theodor W. Adorno - 1928




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