ZitatOriginal von zatopek
Folgendes Beispiel: Glenn Gould hat mit seiner Einspielung der Goldbergvariationen auf dem Klavier Massstäbe gesetzt. Das ist sicherlich richtig. Das darf meines Erachtens jetzt aber nicht dazu führen, dass sich jede neue Aufnahme daran messen lassen muss, nach dem Motto "Klingt wie Gould - ist gut" oder "Klingt nicht wie Gould - böse". Die Entwicklung ist musikgeschichtlich, wie auch interpretatorisch - von der Aufnahmetechnik mal ganz abgesehen - weitergeschritten. Wer Gould in diesem Sinne immer noch Referenzstatus einräumt, ist meines Erachtens nicht bereit, neuen Entwicklungen vorurteilsfrei zu begegnen.
Glenn Gould habe ich nur im Zusammenhang mit David Fray erwähnt, nicht weil ich ihm Referenzstatus einräume (das mache ich noch nicht einmal bei den Goldberg-Variationen, die m.E. Wilhelm Kempff und Tatjana Nikolajewa gültiger eingespielt haben). Junge Pianistinnen und Pianisten sollen keineswegs wie Gould klingen, im Gegenteil. Nur Gould konnte, so dermaßen eigenwillig wie er war, überzeugend wie Gould spielen. Ahmt das heute jemand nach (und diesen Eindruck habe ich gelegentlich bei David Frays Aufnahmen der Bach-Klavierkonzerte BWV 1052, 1055, 1056 und 1058 ), sage ich mir: "Warum soll ich das jetzt hören? Dann höre ich doch lieber das Original". Genau das meinte auch mein von mir etwas weiter oben zitierter Kollege, der mir sagte, er müsse nicht irgendwelche Coltrane-Klone hören, sondern er höre lieber Coltrane selbst.
Ist man wirklich - im negativen Sinne - "rückwärtsgewandt", wenn man drei Tage hintereinander mittags vom mehrmals aufgewärmten Braten und dazu die mehrmals wieder aufgewärmten Kartoffeln isst und sich dann sagt: "Also, am ersten Tag, frisch gekocht, hat mir das Essen am besten geschmeckt"? Nein: ein solcher Mensch vergleicht das Heute mit dem Gestern und dem Vorgestern. Und er bildet sich ein Urteil. Welches durchaus lauten darf: das Vorgestern war weit besser als das Heute. Ohne Denkverbote sollte man sich dieses Urteil auch in der Musik bilden dürfen. Es gibt keinen Zwang, das Heute gut zu finden. Genauso wie es natürlich auch falsch wäre, schon aus Prinzip immer nur das Vorgestern zu verherrlichen und das Gegenwärtige mies zu machen. Sondern man sollte ehrlich vergleichen, was wir aufgrund von Tonträgern heutzutage glücklicherweise können. Und wenn Kurzstueckmeister nach diesem Vergleich zu dem Ergebnis kommt, er könne Kempff und Gould nicht ausstehen: kein Problem. Genausowenig sollte man aber als - im negativen Sinne - "rückwärtsgewandt" belächelt werden, wenn man z.B. behauptet, dass es keine im aktuellen Jahrhundert entstandene Aufnahme der Sinfonie Nr. 6 von Bruckner gibt, die auch nur annähernd an diejenige von Klemperer heranreicht. Oder wenn man z.B. behauptet, dass Harnoncourts 1970 entstandene Aufnahme der Matthäus-Passion von Bach weit besser ist als seine im Jahr 2000 entstandene neuere Aufnahme desselben Werks.