Hallo Alviano
Zitat
da bleibt die grundsätzliche Frage, ob man als Dirigent unbedingt ein Werk einspielen oder aufführen muss, wenn man es nicht adäquat besetzen kann - oder aber Stimmen einsetzt, die Gefahr laufen, durch die falschen Partien kaputtgemacht zu werden.
Diese "grundsätzliche" Frage kann natürlich immer gestellt werden, ist jedoch hier völlig fehl am Platz. Es war das Prinzip bei den Salzburger Produktionen, dass sie auch auf Platte erschienen, so es noch keine Aufnahme gab. Karajan führte zu den Osterfestspielen fast alle Wagner-Opern auf und machte die entsprechenden Aufnahmen. Er versuchte offenbar einen vollständigen Wagner-Zyklus zustande zu bringen. Die Mehrheit dieser Aufnahmen sind ziemlich gut besetzt und man muss nicht meckern. Es gibt aber einige Beispiele, wo Karajans eigene Ansprüche nur mit Vorbehalt erfüllt worden sind. Aber auch das ist einfach ein Zeichen der Zeit. Die guten Wagner-Stimmen wurden weniger. Die Meistersinger-Aufnahme hat er nicht wiederholt, da seine Dresdner Aufnahme nicht mehr zu toppen war. Und am Tannhäuser sieht man, dass Karajan nichts erzwungen hat. Es war in dieser Zeit wirklich kein Sänger verfügbar, der für eine Karajan-Aufnahme gut genug war. Ähnliches gilt für den Don Giovanni. Karajan hat ewig gewartet, bis er einen Sänger fand, mit dem er den Don Giovanni aufführen und einspielen wollte. Nicht dass es hier keine anderen guten Kandidaten gegeben hätte, aber sie erfüllten einfach nicht seine Vorstellungen.
ZitatMuss Ricciarelli eine Turandot singen? Und gewiss ist es reizvoll, Freni und Carreras in "Aida" oder "Don Carlo" zu erleben - aber auch das birgt ein Risiko. Beide haben es nicht ganz unbeschadet überstanden.
Bei Turandot fiel die vorgesehene Erstbesetzung aus und man musste sich auf die Suche nach Ersatz begeben. Frau Ricciarelli hat ja nicht singen müssen, aber offenbar reizte sie diese Aufgabe letztlich doch. Hätte sie abgesagt, wäre die Suche eben weiter gegangen.
Deine zweite Behauptung ist aber schlichtweg falsch. Aida und Don Carlo konnten den Stimmen von Mirella Freni und José Carreras keinesfalls schaden. Du musst bedenken, dass es sich um drei Wochen Probe und 5 bis 6 Vorstellungen handelt. Da wird eine technisch sauber geführte Stimme auch mit einer grenzwertigen Rolle kein Problem bekommen. Es ist also unsinnig, da irgendetwas HvK anzulasten.
Das Problem ist anders gelagert. Wenn Karajan Carreras für den Radames in Salzburg verpflichtet, dann werden alle Operndirektoren hellhörig. Wenn Carreras in Salzburg besteht, bekommt er natürlich von allen großen Opernhäusern dieser Welt höchst lukrative Angebote für den Radames. Und es ist in seiner eigenen Verantwortung, wie viel er sich in der Folge zumutet und wie häufig er der finanziellen Versuchung nachgibt. Und wie wir im Fall Carreras erlebt haben, hat er jahrelang über seine Verhältnisse gesungen, und das war sein Schaden. Mirella Freni wollte ohnehin aus eigenem Antrieb ins schwerere lyrische Fach, 15 Jahre Mimí reichen letztlich jeder Sängerin einmal.
ZitatKarajan soll Christa Ludwig die Isolde angeboten haben - Böhm hat angeblich daraufhin gesagt: "Der Verbrecher". Noch heute kann man froh sein, dass Ludwig nie die Brünnhilde oder Isolde versucht hat.
Das ist jetzt glatte Tatsachenverdrehung. Es ist eine bekannte Geschichte, dass Böhm nicht darüber verärgert war, dass Karajan Frau Ludwig die Isolde angeboten hat, sondern darüber, dass er ihm dabei zuvorgekommen ist. Aber ich stimme dir zu, dass Frau Ludwig gut daran getan hat, nicht auch noch diese Fachüberschreitung auf die Bühne zu bringen. Allerdings hatte sie die Partie vollständig studiert und konnte sie problemlos durchsingen. Auf der Bühne wäre die Partie aber dennoch eine große Belastung für die Stimme gewesen. Brünnhildes Schlussgesang und Isoldes Liebestod hat sie aber des öfteren aufgeführt.
ZitatDass es keine Alternativen zu den eingesetzten Sänger/innen gegeben hätte, wird sich so kaum verallgemeinern lassen - Anna Tomova-Sintov beispielsweise hätte weder bei Mozart, Wagner, Strauss, Beethoven oder Bruckner sein müssen.
Aber der "Fallenlasser" war offenbar mit ihr zufrieden und hielt ihr lange die Treue.
ZitatKurz zu Salzburg: meine Information stammt von einem der an der Produktion beteiligten Sänger, der mir die Geschichte im persönlichen Gespräch erzählt hat.
Und das reicht dir für so einen allgemeinen Anwurf? Aber ich hoffe, dass er dir nicht auch noch erzählt hat, dass Frau Ludwig durch Fiorenza Cossotto "ersetzt" wurde, denn das entspricht nicht den Tatsachen und würde auch die erste Aussage entwerten. Denn nach der "Flucht" von Frau Ludwig nach der Premiere musste man Ersatz auftreiben und Eva Randova sang die restlichen Aufführungen.
Aber nehmen wir einmal an, es stimmt die Geschichte. Betrachte die Lage einmal von Karajans Standpunkt. Du bist Leiter eines Millionenunternehmens und bereitest den Höhepunkt des Jahres vor, die große Premiere in Salzburg. Alles erwartet einen prunkvollen Don Carlos und tatsächlich hat sich das ganze Team mächtig ins Zeug gelegt und für eine prächtige Inszenierung gesorgt. Da kommt der Superstar deiner hochkarätigen Besetzung und ist schwer indisponiert. Und zwar keine kurzzeitige Sache sondern eine schon länger währende Geschichte. Und die Proben verlaufen so, dass man beginnen muss, sich Sorgen für die Premiere zu machen. Kannst du dir vorstellen, dass du da etwas ungehalten bist, vielleicht sogar etwas mehr als nur ein wenig ungehalten?
Was auch immer damals passierte, Frau Ludwig verliert kein negatives Wort darüber und ist voll des höchsten Lobs für ihn. Du solltest auch folgendes bedenken: ihr Vater hat in Aachen viele Inszenierungen für Karajan gemacht, ihre Mutter häufig unter Karajan gesungen! Sie selbst schreibt: "Unsere Beziehung war aber immer herzlich und sehr lustig. ... Auch als ich bei den Salzburger Festspielen ein Fiasko mit der Eboli in "Don Carlos" erlebte und abreiste, alles im Stich ließ, war er nicht nachtragend. Und ich habe dennoch noch oft mit ihm gesungen". Es scheint also nicht so schlimm gewesen zu sein, und es finden sich generell sehr wenige kritische Bemerkungen über Karajan von Sängern, schon gar nicht wegen schlechter Behandlung bei den Proben, während es unzählige Lobesworte gibt.