Musik der Moderne - Eine Sackgasse (?)

  • Zitat

    Original von Draugur
    vielen Dank für diese Information wegen Böhm. Das wusste ich nicht. Trotzdem: Nach 45 hätte er es ohnehin tun müssen...


    Das ist doch Quatsch! Wie kommst Du auf so etwas?
    Sollen wir jetzt alle Dirigenten aufzählen, die in den 50er Jahren aktiv waren und keinen Wozzeck dirigiert haben? Seinerzeit galten selbst Debussy und Strawinsky als Spezialrepertoire, das man Ansermet & Co überließ, und als deutscher Kapellmeister eher selten anpackte.


    Zitat

    Den mag es nicht geben... aber man stelle sich vor, wie ein Generalmusikdirektor dastehen würde, der sagen würde: Ab nächste Saison keinen Rihm, Kagel, Berio usw. mehr. Der wäre ziemlich schnell weg vom Fenster. Ich will damit nicht sagen, dass man das als GMD machen sollte! Aber leisten könnte man es sich eben auch nicht.


    Wiederum: wie kommst Du auf diese Idee? Eine solche öffentliche Äußerung wäre vielleicht ähnlich dämlich, wenn jemand sagen würde, er wolle ab nächste Saison keinen Bruckner und keinen Sibelius dirigieren.
    Aber wenn er es einfach nicht macht? Wer schreibt ihm das denn vor? Das Kultusministerium?
    Es ist eine absurde Verschwörungstheorie (hier noch bizarrrer als bei den Inszenierungen), dass eine Mafia gegen den Willen aller Beteiligten Unerwünschtes durchsetzt. Oder welche Belege gibt es für die Behauptung? Wer ist das und warum sind sie mächtiger als die Dirigenten usw.?


    :hello:


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Zitat

    Original von Klawirr


    Aber weder Penderecki noch Henze kehren einfach zur Tonalität zurück, sondern integrieren Tonalität als Stilmittel in ihre Kompositionen. Hier feiern also reihentechnische Verfahren und tonale Elemente ein fröhliches Fest. So gesehen könnte man tatsächlich davon sprechen, daß diese Werke einen postmodernen Charakter haben – was aber keineswegs bedeutet, daß die Moderne eine Sackgasse gewesen wäre, sondern daß die strenge Reihentechnik der Moderne durch die Integration tonaler Elemente weiterentwickelt worden ist (die Kombination von Reihentechnik und tonalen Elementen ist übrigens gar nicht so selten, da kannst schon seit den 1970ern und 80ern so einiges finden, etwa bei R. Febel, H. Winbeck, M. Trojahn und einer ganzen Reihe weiterer Komponisten, die nach 1940 geboren sind).


    Lieber Medard


    Gerne antworte ich Dir (soweit mir möglich) noch auf diesen Absatz. Inwieweit bei den Spätwerken Henzes und Pendereckis (auch unter diesen beiden muss man unterscheiden) sich Reihe und Tonalität vermählen, vermag ich nicht nachzuprüfen, weil mir das Rüstzeug fehlt. Wobei: dies wäre ja dann irgendwie die „coincidentia oppositorum“... Heureka!


    Ich stelle einfach ganz unbedarft fest, dass ich wieder hinhöre, und dass ich bewegt werde von den milderen Spätwerken gewisser Zeitgenossen, etwa von Pendereckis Achter Sinfonie "Lieder der Vergänglichkeit" und von einigen Momenten in Henzes Achter und Zehnter Sinfonie: Es gibt dort wieder „schöne Stellen“ (ach welch grausliges Kriterium – aber ich stehe dazu).
    Erst recht mag ich bei Rautavaara wieder hinhören (wohingegen mich Glass, Adams, Nyman und co. langweilen).
    (Was mir in der Diskussion eigentlich fehlt, ist der Jazz, der ja auch in einer Sackgasse sei...weil er die Tendenz habe, sich mit dem Pop zu vermählen: so what?!).


    Das mit der “Sackgasse“-Metapher ist doch selbst eine Sackgasse. Solange es den Faktor „Zeit“ gibt, ist Entwicklung, Werden, Vergehen und Verwandeln.
    Streng genommen kann es gar keine historischen Sackgassen geben, wohl aber Verirrungen. Doch das sind Wortklaubereien.


    Mit liebem Gruss, Walter

  • Zitat

    Original von Walter Heggendorn
    Wobei: dies wäre ja dann irgendwie die „coincidentia oppositorum“... Heureka!


    Nun ja, man wird wahrscheinlich nicht unbedingt tonale neben reihentechnisch entwickelten Themen finden sondern eher etwas der Art, wie in diesen beiden hübschen Beispielen für die Verschränkung von Reihentechnik mit tonalen Elementen (beides ganz hinreissende Werke):


    1. Reinhard Febel Variationen für Orchester (1980), in denen ein auf auf einer modalen Skala gründende Thema des armenischen Komponisten Gomidas seriell verarbeitet wird (über das Werk ist hier etwas mehr zu erfahren), und


    2. Manfred Trojahns Fünf See-Bilder (1979-1983), die grundsätzlich zwar atonal angelegt sind, in denen aber eine tonale Harmonie (nämlich der es-moll-Dreiklang) zentrale Bedeutung hat (darüber gibt's hier etwas zu lesen).


    Ganz herzlich,
    Medard

  • Natürlich gibt es diesen "Druck" sich für die Moderne einzusetzen.


    In den Siebziger Jahren war in meinem damaligen Bekanntenkreis ein junger Pianist aus einen eher exotischen Land.


    Er hätte damals mit Standardrepertoire keine Chance gehabt - also spielte er unter anderem auch Zeitgenössisches. Auf diese Weise kam er zu einer Plattenaufnahme einer Uraufführung eines bekannten zeitgenössischen Komponisten bei einem Major-Label...


    Da ich damals jedes musikalische Gespräch, welches nicht die "Wiener Klassiker" zum Inhalt hatte ablehne, weiß ich bis heute nicht, wie er zu diesen Werken wirklich stand.


    Aber auch Tamino steht (indirekt) unter Druckl. Würde ich die zeitgenössiche Musik im Forum ignorieren, so würde ich einige Mitglieder verlieren, an denen mir (teilweise auch rein persönlich) viel gelegen ist.


    Soo einfach ist die Sache also nicht


    mfg aus Wien


    Alfred

    POLITIKER wollen stets unser Bestes - ABER WIR GEBEN ES NICHT HER !!!



  • Zitat

    Original von Alfred_Schmidt
    Aber auch Tamino steht (indirekt) unter Druckl. Würde ich die zeitgenössiche Musik im Forum ignorieren, so würde ich einige Mitglieder verlieren, an denen mir (teilweise auch rein persönlich) viel gelegen ist.


    Lieber Alfred,


    jede Musik kann und muss nach ihrem Wert hinterfragt werden. Die Frage danach ist alles andere als ehrenrührig, sie ist für mich eine Selbstverständlichkeit, ob es nun Werke der Gregorianik betrifft oder der Gegenwart. Es empfiehlt sich meiner Erfahrung nach allerdings, die Frage an ein konkretes Werk zu stellen und nicht pauschal.


    Davon unbenommen sind Geschmacksfragen. "Meinen" Gluck werde ich mir von keinem ausreden lassen und ich werde auch keinem "seinen" Schönberg ausreden.


    Kritische Fragen, je präziser sie gestellt werden, helfen zu einer genaueren Kenntnis, und an der liegt uns ja allen. Den Respekt vor dem jeweiligen Geschmack vorauszusetzen, ist das eine - sich mit Werturteilen auseinanderzusetzen, das andere.


    Wie ich in der Moderne viel an Auseinandersetzung mit der Vergangenheit erlebe, so sehe ich in der Kunst der Vergangenheit viele Fragen an die Gegenwart. In der barocken Kunst, der ja so ein sicherer Generalbass unterstellt wird, erfahre ich oft eine moderne Unsicherheit - wie ich in Werken der Gegenwart entfernt von jeder Abhängigkeit auch den Bezug auf eine noch lebendige Vergangenheit sehe. Wenn man der Kunst der Gegenwart ihr Gründen in der Vergangenheit abspricht, so entzieht man ihr mE zu Unrecht den Boden, wie man den Werken der Vergangenheit das Leben entzieht, wenn man ihr die Bezüge in die Gegenwart raubt. So brauchen beide einander - und beide können nicht auch gut miteinander leben, sie bedingen einander.


    Liebe Grüße Peter

  • Zitat

    Original von Draugur


    Den mag es nicht geben... aber man stelle sich vor, wie ein Generalmusikdirektor dastehen würde, der sagen würde: Ab nächste Saison keinen Rihm, Kagel, Berio usw. mehr. Der wäre ziemlich schnell weg vom Fenster. Ich will damit nicht sagen, dass man das als GMD machen sollte! Aber leisten könnte man es sich eben auch nicht.


    Ein Generalmusikdirektor, der ab der nächsten Saison komplett auf Beethoven, Mozart und Brahms verzichten möchte, würde sich ebendso schnell auf der Straße wiederfinden. Und mit Recht. Worin liegt der Sinn, die Schätze der Vergangenheit zu ignorieren, worin der Gewinn, die Gegenwart auszuschließen ?



    Was mir auch oft auffällt: Konzertprogramme werden oft sehr subjektiv wahrgenommen und bewertet. Die Berliner Philharmoniker beispielsweise haben unter Rattle sicher noch mehr moderne und vor allem zeitgenössische Kompositionen ins Programm genommen. Gleichzeitig aber gab es beispielsweise - was ich sehr begrüße - soviel Haydn zu hören, wie schon lange nicht mehr. Und auch die "Alte Musik" fand sich plötzlich deutlich besser repräsentiert.


    Wenn man freilich die richtigen Leute fragt, findet sich letztlich keiner, dem es recht gemacht wurde. :D


    Gruß
    Sascha

  • Zitat

    Original von Antracis
    Wenn man freilich die richtigen Leute fragt, findet sich letztlich keiner, dem es recht gemacht wurde. :D


    Was immer, lieber Sascha, ein Beweis ist, dass man es richtig gemacht hat ...


    Liebe Grüße Peter

  • Zitat

    Original von Alfred_Schmidt
    Natürlich gibt es diesen "Druck" sich für die Moderne einzusetzen.


    In den Siebziger Jahren war in meinem damaligen Bekanntenkreis ein junger Pianist aus einen eher exotischen Land.


    Er hätte damals mit Standardrepertoire keine Chance gehabt - also spielte er unter anderem auch Zeitgenössisches. Auf diese Weise kam er zu einer Plattenaufnahme einer Uraufführung eines bekannten zeitgenössischen Komponisten bei einem Major-Label...


    Das würde ich jetzt genau umgekehrt formulieren: die zeitgenössische Musik eröffnete ihm eine *Chance* sich zu profilieren, die er mit der x-ten Einspielung von Mondschein/Waldstein/Appassionata nicht gehabt hätte.


    Es ist ja auch nicht so, dass der "Druck" nur von Seiten der Moderne bestünde. Wer den Chopin-Wettbewerb gewinnen will, muß dort wohl oder übel was von diesem Komponisten spielen. Es gibt meines Wissens keinen vergleichbar renommierten "Schubert", "Brahms" oder "Bartok"-Wettbewerb.


    Insgesamt gilt hier Quod licet Iovi...
    Wer etabliert ist, kann sich einiges erlauben, wer es noch nicht ist, ist allen möglichen Zwängen ausgesetzt. Das gilt auf fast allen Gebieten, zumal wenn es mächtige Institutionen gibt, von denen das Fortkommen abhängt.


    Die oben genannte Geschichte des aufgrund seiner tonalen (in den 80er Jahren) "geächteten" jungen Komponisten klingt rührend. Aber wie viele andere junge Komponisten haben einen Preis bei einem Nachwuchswettbewerb gewonnen und müssen sich auf ähnliche Weise durchschlagen, auch wenn ihre Musik nicht offiziell "geächtet" wird? Man kann sich hier sicher einige Biographien anschauen (zB hier: "http://www.intermezzoberlin.de/3.html"). Fast niemand kann davon leben, sondern muß etwas anderes machen. (Das ging schon ETA Hoffmann und Charles Ives nicht anders)


    viele Grüße


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Zitat

    Original von Johannes Roehl
    Die oben genannte Geschichte des aufgrund seiner tonalen (in den 80er Jahren) "geächteten" jungen Komponisten klingt rührend. Aber wie viele andere junge Komponisten haben einen Preis bei einem Nachwuchswettbewerb gewonnen und müssen sich auf ähnliche Weise durchschlagen, auch wenn ihre Musik nicht offiziell "geächtet" wird? Man kann sich hier sicher einige Biographien anschauen (zB hier: "http://www.intermezzoberlin.de/3.html"). Fast niemand kann davon leben, sondern muß etwas anderes machen. (Das ging schon ETA Hoffmann und Charles Ives nicht anders)


    Eben! - Und manchmal resultieren die »rührend« klingenden Geschichten (will sagen: der Mißerfolg) vielleicht auch nicht daher, daß ein Künstler aus irgendwelchen ideologischen Gründen »geächtet« wird , sondern weil seine Werke - ganz unabhängig davon, ob sie tonal sind oder atonal - ganz schön »rührselig« klingen (wie in meinen Ohren - Sorry! - etwa die »Phantasie für Orchester« des oben zitierten Komponisten).


    Ganz herzlich,
    Medard

  • Hallo Audiamus,

    Zitat

    und komponierte fortan nur noch tonale Musik. Das war natürlich das Ende meiner Komponistenlaufbahn,


    schöne Geschichte, die nichts aussagt. Es ist möglich, daß dieser "tonale Komponist" keinen Durchbruch hatte, weil er einfach Mist komponiert (das ist nicht vom verwendeten System abhängig, es gibt auch zwölftönigen und seriellen Mist), aber für sich selbst eine Erklärung braucht, weshalb sich kein Erfolg für ihn einstellte. Ich kann Dir die identischen Geschichten von x Komponisten erzählen, die einen sind für den Erfolg zu konservativ, die anderen sind zuweit vorne, die dritten verlangen von den Musikern zuviel etc. etc.


    Übrigens: Den genannten Peter Jona Korn in die Schönberg-Ecke stellen, ist ein tolles Ding. Korn war ein Traditionalist, dessen Musik entfernt an Toch erinnert. Er schrieb eine Polemik gegen die Neue Musik, "Musikalische Umweltverschmutzung", die an Gehässigkeit und Einseitigkeit mit den Büchern Melichars gleichzieht, nur stilistisch um Klassen besser geschrieben ist.


    ***


    Lieber Alfred,

    Zitat

    Natürlich gibt es diesen "Druck" sich für die Moderne einzusetzen.


    Du hast recht, es gibt den Druck. Aber nicht so, wie Du ihn Dir vorstellst. Der Pianist hätte ruhig Bach und Beethoven spielen können - ich wette, man hätte ihn nicht als zweiten Gilels gefeiert; also hat der Pianist sehr klug eine Flucht angetreten - das kenne ich auch aus meinem Bekanntenkreis zur Genüge: Hier sind die Hardcore-Klassikfans schuld, die stets nur Spitzeninterpretationen ihrer Klassiker hören wollen, und zwar am besten von Künstlern, die bereits weltweit als Stars gepriesen werden.


    Der Druck besteht schlicht und einfach in der finanziellen Förderung. Da zeitgenössische Komponisten von vielen Ensembles ungern gespielt werden (Schwierigkeitsgrad, Komponist im Nacken, evetuell kein Erfolg etc.), schafft man durch behutsame Subventionierung der Neuen Musik einen finanziellen Anreiz.


    Das ist auch völlig richtig, denn die Mainstream-Klassiker haben ihren Bekanntheitsgrad als Bonus. Und die Subventionierung erfolgt (zumindest in Österreich) auch nicht, wenn Spitzenensembles den Zeitgenossen spielen, sondern wenn es sich um finanziell schlechter ausgestattete Ensembles der zweiten und dritten Liga handelt. Das sorgt für eine pluralistische Kultur, in der sowohl Dein Geschmack als auch der meine bedient und einer ohnedies abzulehnenden Monokultur vorgebeugt wird.


    :hello:

    ...

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  • Zitat

    Original von Walter Heggendorn
    Das mit der “Sackgasse“-Metapher ist doch selbst eine Sackgasse. Solange es den Faktor „Zeit“ gibt, ist Entwicklung, Werden, Vergehen und Verwandeln.
    Streng genommen kann es gar keine historischen Sackgassen geben, wohl aber Verirrungen. Doch das sind Wortklaubereien.


    Allerdings treffende ;)


    Ich kann moderne Musik generell nicht als Sackgasse empfinden. Viel eher koennte ich sagen, der eine oder andere (post)moderne Komponist befindet sich in einer Sackgasse.


    Beispiel: Philip Glass (den ich uebrigens trotzdem sehr verehre, allerdings nicht aufgrund dessen, was er in den letzten Jahren abgeliefert hat, leider). Da wuerde ich sagen, ist es kuenstlerisch zu einem echten Stillstand gekommen, alles klingt gleich, nichts veraendert sich mehr, es ist immer das gleiche Prinzip, nach dem aufgekocht wird.


    Ganz anders empfinde ich z.B. Arvo Paert, der sich immer noch entwickelt. Gleiches gilt m.E. uebrigens auch fuer Rautavaara.


    Nun ist aber die Frage: Kann man tatsaechlich aufgrund einiger "Sackgassenkarrieren" daraus schliessen, dass die gesamte Neue Musik sich in selbiger befaende? Oder geht es hier immer noch um "atonale Sackgassen"?


    Tonal/atonal: Also, ich habe ja nun nicht Komposition studiert und ueberlasse da den Experten das Feld, aber auch in einem "normalen" Musikstudium (sogar im Gesangsstudium - unglaublich, aber wahr :] ) hat man Tonsatz und Formenlehre, bisweilen auch Musikaesthetik und Improvisation.


    Gerade im Tonsatzunterricht lernt man nicht nur tonale Satztechnik, zumindest war das bei mir nicht so. Man lernt aber gleichwohl genauswenig NUR etwas ueber atonalen Satz, beides kommt vor, und ich kann mir nicht vortellen, dass das im Kompositionsstudiengang anders sein soll (lasse mich aber gerne eines Besseren belehren).


    Ich sagte das schon mal an anderer Stelle: Was der Komponist aus dem ihm zur Verfuegung gestellten Handwerkszeug macht, ist ja dann seine Entscheidung. Den Zwang zur Atonalitaet kann ich da nicht erkennen. Wohl aber den Sinn, Verschiedenes auszuprobieren, bis man bei SICH angekommen ist. Das kann eben in die eine oder andere Richtung gehen ...

  • Nun, ich wollte niemandem hier eine rührselige Geschichte auftischen, sondern lediglich aus aktuellem Anlass ein Beispiel zeigen, wie Komponisten sich heute verstanden sehen können.
    Offenbar ist der von mir zitierte Tonikale im Forum bekannt, das wusste ich nicht.
    Auch ich kenne Beispiele aus dem "anderen Lager", die sich ebenfalls mit nichtkompositorischen Knochenarbeiten über Wasser halten müssen.
    Ob's nun dran liegt, dass hüben wie drüben Mist komponiert wird, ist noch eine andere Frage.



    audiamus

  • Zitat

    Zitat Eponine
    Was der Komponist aus dem ihm zur Verfuegung gestellten Handwerkszeug macht, ist ja dann seine Entscheidung.


    Gott sei Dank wird das endlich einmal gesagt!


    Ich habe den Eindruck, bei manchen von uns hat sich eine Art Verschwörungstheorie im Hinterkopf eingenistet, derzufolge arme tonale Komponisten, die so gerne eine Melodie nach der anderen erfinden würden, gezwungen werden, grausig klingende Neue Musik zu schreiben.
    Bzw. kommen die Komponisten, die mutig bei ihrer Tonalität bleiben, zu keinen Aufführungen.
    Weil ja John Tavener, Arvo Pärt, Einojuhani Rautavaara, Rodion Schtschedrin, James MacMillan, Boris Tischtschenko, Walentin Silwestrow etc. alle im Armenhaus für unaufgeführte tonale Komponisten sitzen und von den Schwestern der Dreiklangheilsarmee notdürftig durchgefüttert werden...


    Liebe Leute, das Gegenteil ist der Fall: Die tonale Moderne boomt we selten zuvor. Nur hat sie aus zwölftönigen und seriellen Verfahrensweisen gewisse Schlüsse über konstruktive bzw. motivische Dichte gezogen.


    Und dann gibt's noch immer etliche Komponisten, die sich einer wie auch immer gearteten Reihentechnik bedienen und andere, die völlig frei und wieder andere, die mit Mikrotönen arbeiten. Ist diese Vielfalt nicht wunderbar?


    Im Grunde bedauere ich jeden, der sich im Sofa zurücklehnt und sagt, er kenne alles, was zu kennen lohnt. Ich kenne ziemlich viel, und es bestürzt mich zu wissen, daß mein Leben nicht ausreichen wird, auch nur einen signifikanten Bruchteil dessen zu kennen, was zu kennen lohnen würde.


    :hello:

    ...

  • Zitat

    Original von Eponine


    Ich kann moderne Musik generell nicht als Sackgasse empfinden. Viel eher koennte ich sagen, der eine oder andere (post)moderne Komponist befindet sich in einer Sackgasse.


    Das sehe ich genauso. Wer sich, wie wir Zeitgenossen, mitten auf dem Weg befindet, kann doch gar nicht abschätzen, ob die Straße plötzlich als Sackgasse endet. Auch stimme ich dir zu, dass es eventuell möglich ist, bei lebenden Komponisten, deren Schaffenszeit sich in einer späten Phase befindet, zu ersten Ergebnissen zu gelangen. Doch auch hier ist schwer abzuschätzen, wie die Betreffenden in zukünftigen Zeiten bewertet werden.


    Bei Glass sehe ich es sujektiv genau so wie du: Sackgasse seit langer Zeit! Auch Pärt zähle ich leider mittlerweile zu den Komponisten, die sich selbst in eine Sackgasse begeben haben. Aber bei jungen Leuten wie Turnage oder Pintscher bin ich absolut gespannt, was da noch kommen mag.


    LG
    B.

  • Zitat

    Original von Edwin Baumgartner
    Im Grunde bedauere ich jeden, der sich im Sofa zurücklehnt und sagt, er kenne alles, was zu kennen lohnt. Ich kenne ziemlich viel, und es bestürzt mich zu wissen, daß mein Leben nicht ausreichen wird, auch nur einen signifikanten Bruchteil dessen zu kennen, was zu kennen lohnen würde.


    Schön gesagt :yes:, mir geht es ähnlich (obwohl ich zum entdecken der Musik ja noch eine weile Zeit habe).


    Liebe Grüße, der Thomas. :hello:

  • Die These von der „Sackgasse“ der modernen Musik ist – egal wie man nun zur modernen Musik steht – von vornherein verfehlt. Jedenfalls dann, wenn man die Musik als Kunst ernst nimmt und nicht einseitig vom Standpunkt einer unbekümmerten bzw. hedonistischen Samstagabend-Ohrensessel-HIFI-Kopfhörer-Feierabend-Klassikgenuss-Perspektive aus argumentiert. Die „moderne Musik“ beginnt dabei tatsächlich mit dem Tristan-Akkord und – das ist entscheidend – seiner Auflösung in Ungewissheit. Von hier aus nimmt der Abschied von der Dur- und moll-Tonalität seinen Ausgang.


    Zunächst ist es wesentlich zu erkennen, dass das Werk eines Komponisten der hier in Rede stehenden Musik als Werk dieses Tonkünstlers in seiner Zeit zu verstehen ist. Künstler sind Seismographen der Zeit und ihrer Umstände. Sie geben (und gaben zu allen Zeiten) intuitiv wieder, was um sie herum geschieht. Eine sich mit dem Ende des 19. Jahrhunderts radikal und beschleunigt verkomplizierende Welt bringt dabei notwendig eine komplexe Kunst hervor. Gesellschaftliche Ordnungen und Hierarchien zerfallen, vieles wird neu geordnet. In der Musik treiben tonale und atonale Zweige (Demokratisierung der 12 Töne!). In der Malerei kann man perspektivische und nicht-perspektivische Tendenzen feststellen. Wiener Künstler wie Freud, Schnitzler, Schiele und Klimt entdecken bzw. behandeln zu alledem das Unbewusste, das Alptraumhafte, das Bodenlose und Ungesicherte im Menschen selbst. Die entsprechenden Apostel dieses Zeitgeistes in der Musik werden u. a. Schönberg (etwa mit der „Verklärten Nacht“ als Fortentwicklung des Tristan), Mahler (etwa mit dem schattenhaft, alptraumhaften 3. Satz seiner 7. Sinfonie, in dem alle Harmonien auf unsicherem Boden schwanken) oder in R. Strauss' Elektra (die gleichermaßen von dem Unbewussten und der Nacht der Gefühle kündet). Ihre Fortsetzung findet diese Entwicklung später in Webern und Berg. Insbesondere bei Berg, bei dem die Dodekaphonie ein betont menschliches Element erfährt, kann man wieder sehr eindringlich die Angst und den Terror seiner revolutionär-totalitären Zeitumstände heraushören. Dass das nicht immer angenehm klingen kann, klingen soll, liegt auf der Hand. Sie alle haben die Musik zu ihrer Zeit komponiert. Und gleiches lässt sich für alle nachfolgenden modernen Komponisten demonstrieren, die Elemente der Angst, nie geahnter Zerstörung und Vernichtung, von Popkultur, Wohlstand, Dekadenz, Film, fremden Kulturen und Religionen etc. in ihrer Musik verarbeitet haben.


    Kann man das – wie auch immer es konkret klingt – eine Sackgasse nennen? Ebensowenig, wie eine noch so unerfreuliche Geschichte eine „Sackgasse“ sein kann, kann es die sie begleitende Kunst sein. Selbst wenn es in einzelnen Bereichen der Kunst eine (vorübergehende) Rückbesinnung auf historische Konzepte gibt, so ist dies nicht als ein Weg zurück zu verstehen, sondern ebenfalls als eine Weiterentwicklung. Denn die Korrektur kann nur stattfinden, weil es zuvor die zu korrigierende Entwicklung gab, und die korrigierte Fortentwicklung ist eben eine Fortentwicklung des Vorausgegangenen. Die Fortentwicklung und ihre Künstler stehen notwendig auf den Schultern ihrer Vorgänger; sie sind vom Vorangegangenen notwendig beeinflusst, quasi aus ihm erwachsen. Alles baut so aufeinander auf, Nichts fällt voraussetzungslos vom Himmel. Somit hat jede Fortentwicklung ihren Sinn und Zweck in der Entwicklung der Kunst.


    Der Einzelne muss deshalb die moderne Musik nicht mögen. Er kann sie meiden. Jedoch darf ein persönliches Mißfallen nicht dazu verleiten, die moderne Musik und ihre mannigfachen Entwicklungslinien für obsolet oder irrig zu erklären. Andernfalls müsste man schon die gesamte Entwicklung des 20. Jahrhunderts (die wohl in Teilen zu bedauern ist) für irrig erklären, was aber ebenso wenig Sinn ergäbe.


    Es erhellt damit, dass es auch nicht weiterführen kann zu fragen, ob es hier in der Diskussion denn nun um diejenigen Komponisten gehen soll, die 10 Jahre tot sind, oder auch um die, die schon 20, 30, 40 Jahre tot sind. Zu keiner Zeit, ganz gleich, wann ein (anerkannter) Künstler gestorben ist, kann seine Kunst im Ganzen eine Sackgasse sein. Allenfalls kann man diesen Künstler anhand eines konkreten Werkes dieses Künstlers vor dem Hintergrund seiner eigenen Prinzipien oder Parameter beurteilen. Es wäre ja ein Irrglaube anzunehmen, die modernen Komponisten hätten keine Prinzipien oder Parameter, die ihrer Kunst zugrunde liegen (das gilt natürlich selbst für die Aleatorik), nur weil dem Ohr mit der Harmonie der Bezugspunkt genommen ist. Man muss sich nur anstrengen und zu verstehen versuchen. Die moderne Welt stellt uns in vielen außerkünstlerischen Bereichen nicht geringere Hürden des Verstehens in den Weg.


    Dass es bei alledem auf den Erfolg oder die Akzeptanz beim Publikum nicht ankommen kann, ergibt sich wohl von selbst. Wenn es danach ginge, hätten schon Bach und Beethoven vieles gar nicht erst beginnen dürfen...


    Ich bin froh, dass es zu allen Zeiten Künstler gab, die allein ihrer künstlerischen Intuition folgten und uns (nicht selten auch zum besseren Verständnis) Spiegel unserer Zeit aufzeigen. Jeder Künstler, der seinen zeitgemäßen Ausdruck nicht findet, nicht finden darf (gab es alles schon), bedeutet eine sicher verlorene Chance. Nicht zuletzt unsere CD-Schränke sind voll von Chancen, die sich erfüllt haben, weil die Fäden, die zu ihrer Erfüllung führten, sich bis zu ihnen fortspinnen durften, nicht abrissen. Es gibt keine Sackgassen in der Kunst!


    Loge

  • Zitat

    Im Grunde bedauere ich jeden, der sich im Sofa zurücklehnt und sagt, er kenne alles, was zu kennen lohnt. Ich kenne ziemlich viel, und es bestürzt mich zu wissen, daß mein Leben nicht ausreichen wird, auch nur einen signifikanten Bruchteil dessen zu kennen, was zu kennen lohnen würde.


    Ein wahrlich furchtbar wahres Wort!


    :yes: Gruß, Wolfgang

    Lieber Fahrrad verpfänden denn als Landrat enden!

  • Hallo Edwin,


    Zitat

    Im Grunde bedauere ich jeden, der sich im Sofa zurücklehnt und sagt, er kenne alles, was zu kennen lohnt.


    Ich lehne mich auch nicht zurück, setze mich ständig mit für mich neuen Komponisten und dessen Werken auseinander und das schließt fast alle Musikepochen ein. Zur Zeit: Modonville, Marais, Pleyel, Fux, Johann Christian Bach, Pacini, Mercadante, Glasunow u.a. Aber für Cage, Nono usw. habe ich einfach keinen Nerv. Die Musik mag ja qualitativ erstklassig sein, aber ich finde keinen Zugang.


    Herzliche Grüße
    von LT :hello:

  • Zitat

    Original von WolfgangZ


    Ein wahrlich furchtbar wahres Wort!


    Auch furchtbar wahre Worte sind offensichtlich relativ - ich tue mir jedenfalls nicht besonders leid.



    Edwin, Du hast ja vermutlich völlig recht, daß es wohl Schönheit gibt bei Henze und vielleicht auch Schönberg (ja, ich kenne die Gurre-Lieder), aber Schönheit im Atonalen ist offenbar recht mühsam zu entdecken - und solange es so viele "low hanging fruits" gibt überall sonst - im Jazz, im Pop (jawoll, sogar da), im Barock sowieso, da kenne ich erst ein paar Prozent der einschlägigen Werke, bei Mozart, der allenfalls auf den ersten Blick langweilig erscheint, tatsächlich aber unglaublich gute und intensive Stücke geschrieben hat, die von Banausen wie mir erst entdeckt werden wollen ... Henze und Co werden mich vielleicht in 20 Jahren interessieren - wenn überhaupt.


    So much music - so little time. Muß ich nicht hören, was mir sehr wahrscheinlich nicht gefällt.


  • Kein Problem, lieber Liebestraum, mit den Genannten und den übrigen vormodernen Komponisten hast Du wahrlich genug zu tun. Im Lichte der heutigen Wissensexplosion in allen Bereichen des Lebens muss man sich schon fokussieren. Schon der Anspruch, in der Musik etwa der Renaissance und der Moderne gleichermaßen umfassend informiert sein zu wollen, ist kaum einzulösen. Dass die modernen Komponisten derweil fröhlich in alle Richtungen weiterkomponieren und die Kunst so voranbringen, kann Dich dabei kalt lassen.


    Loge

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  • [zitat]Original von m-mueller
    Schönheit im Atonalen ist offenbar recht mühsam zu entdecken[/zitat]
    Gut möglich. Doch wer sich der Mühe unterzieht und sich von den "Krücken der Tonalität" befreit, kann sich auch den Klassikern wieder ganz anders nähern - so habe ich vor einiger Zeit mal, unmittelbar auf Bergs Streichquartett op. 3, Mozarts "Dissonanzenquartett" gehört: eine Offenbarung, die chromatische Einleitung aus der Perspektive der Schönbergschule zu erleben und dann das Hauptthema wie das Aufsteigen einer vergangenen Welt, mit einer merkwürdig fahlen Melancholie.


    In Mönchengladbach wurde gerade - eben lese ich es in einem anderen Thread: hier - Schönbergs "Erwartung" in den Rahmen von Purcells "Dido und Äneas" gestellt - ein faszinierendes Experiment und, wie es scheint, gelungen!


    Gerade das Alte und Neue im unmittelbaren Kontrast hören zu können - das empfinde ich als großen Gewinn, den uns der Rückblick auf Jahrhunderte der Musikgeschichte - bis heute - gestattet.

  • Hallo Loge,


    Zitat

    Original von Loge
    Der Einzelne muss deshalb die moderne Musik nicht mögen. Er kann sie meiden. Jedoch darf ein persönliches Mißfallen nicht dazu verleiten, die moderne Musik und ihre mannigfachen Entwicklungslinien für obsolet oder irrig zu erklären. Andernfalls müsste man schon die gesamte Entwicklung des 20. Jahrhunderts (die wohl in Teilen zu bedauern ist) für irrig erklären, was aber ebenso wenig Sinn ergäbe.


    Deine Parallelsetzung von historischer und ästhetischer Entwicklung ist m. E. zu abstrakt und eignet sich nicht so recht, den Einwänden der Skeptiker der modernen Musik zu begegnen. Denn deren Zweifel richtet sich nicht zuletzt dagegen, dass man sie wirklich sinnlich genießen und nicht bloß verstehen kann.
    Mit Deinen Argumenten könnte man eben so gut sagen, die politischen Verhältnisse waren im 20. Jahrhundert so katastrophal, dass so nicht weitergemacht werden kann - und das spiegele sich dann auch in der Kunst wider. Ein sinnlicher Genuß sei bei Produktionen, die nicht einfach bereits Dagewesenes widerkäuen wollen, ausgeschlossen.
    Dass man sich dann das Scheitern der Kunst im 20. Jahrhundert nicht bei jedem einzelnen Werk aufs Neue vor Augen bzw. Ohren führen wollte, wäre ja plausibel.


    Ich kann nicht behaupten, ein Kenner Adornos zu sein, glaube aber, dass er etwas differenzierter vorging. Er wollte wohl die Verfeinerung der ästhetischen Mittel als nicht von der gesellschaftlichen Entwicklung abgekoppeltes Phänomen betrachten.


    Nicht Adorno, sondern Glenn Gould war mein Zugang zu Schönberg. Als ich im Fernsehn das von ihm geleitete "Mondestrunken" aus dem Pierrot Lunaire hörte, war ich angetan davon wie dort eine unmittelbar schöne Mondathmosphäre erzeugt wurde, die doch was Neues war.
    Ich genieße manches von der modernen Musik.


    Viele Grüße


    :hello:

  • Lieber Kontrapunkt,


    ich habe nichts gegen Skeptiker. Eine skeptische Haltung ist ja schon mal etwas! Ich habe dreierlei deutlich machen wollen: 1) Es gibt keine Sackgassen in der Kunst, weil alles aufeinander aufbaut und nicht unbeeinflusst ist vom Vorangehenden, 2) Es ist für den Versuch der sachgerechten Würdigung einer Kunst unerheblich, wie lange die betreffenden Künstler im Zeitpunkt der Würdigung schon tot sind, 3) Es kann nicht auf den Publikumsgeschmack ankommen.


    Im übrigen engst Du meinen Vortrag etwas stark auf politisch, menschlichen Katastrophen des 20. Jahrhunderts ein. Das ist nur ein Aspekt der künstlerischen Auseinandersetzung. Ich hatte andere genannt, die mindestens ebenso bedeutsam sind. Im übrigen kann es aber in der Tat so sein, dass die Beschäftigung mit einem Kunstwerk, das eine politisch, menschliche Katastrophe zum Thema hat, unangenehm, vielleicht sogar kaum erträglich sein kann. Wie wäre es wahrhaft anders möglich? Die Frage, ob es nach solcher Kunst so weitergehen dürfe, stellt sich in der Kunst nicht. Die Kunst spiegelt die Welt, wie sie ist. Zuweilen beeinflusst sie deren Gang auch, das würde ich aber als marginal einschätzen.


    Zitat

    Original von Kontrapunkt
    Ich kann nicht behaupten, ein Kenner Adornos zu sein, glaube aber, dass er etwas differenzierter vorging. Er wollte wohl die Verfeinerung der ästhetischen Mittel als nicht von der gesellschaftlichen Entwicklung abgekoppeltes Phänomen betrachten.


    Ich meine, genau davon oben gesprochen zu haben.


    Loge

  • [zitat]Original von Kontrapunkt
    Nicht Adorno, sondern Glenn Gould war mein Zugang zu Schönberg.[/zitat]
    Auch wenn ich Glenn Gould einiges verdanke, was die Entwicklung meiner Hör-Erfahrungen angeht (im Sinn von kritischer und wacher Aufnahme), ging mein Weg nicht zuletzt auch über Adorno - soweit ich ihm überhaupt folgen konnte.


    Adorno, bekanntlich einer der großen Sachwalter der Neuen Musik, hat das Befremden des Publikums über Atonalität keineswegs als unberechtigt abgetan, im Gegenteil:


    [zitat]Adorno, Einleitung in die Musiksoziologie, Suhrkamp 1977, S. 212
    Die gesellschaftlich gesetzte Dichotomie [Zweiteilung] zwischen dem musikalischen Laien und dem Sachverständigen ist auch für diesen kein Segen. Seine Nähe zu den Sachen droht, diesen zu nahe zu rücken, auf Kosten der Perspektive. Was ihm entgeht, das fällt zuweilen dem widerspenstigen Laien zu. Schon die Gegner der Schönbergschen Atonalität haben den Ausdrucksgehalt des Beängstigenden und Verstörten besser wahrgenommen als die Freunde, die, aus eitel Begeisterung für die kompositorische Potenz, diese allzu eifrig in ihrer Beziehung auf die Tradition zu fassen suchten anstatt im qualitativ Neuen.[/zitat]
    Wenn demnach die Moderne erschreckt und abstößt, liegt das in der Sache selbst: Auch Alfreds heftige Ablehnung hat insofern ihren guten Grund: Moderne Musik kann schrecklich klingen, sie soll und darf es auch!


    Meine Erfahrung allerdings ist die, daß das Hindurchgehen durch die Fremdheit (statt zurückzuweichen) für mich eine ungeheure Bereicherung empfand und ich einiges abseits der Tonalität, das im letzten Jahrhundert entstand, durchaus "sinnlich genießen" kann, auf eine neue Art, nicht immer unmittelbar, oft und nicht selten mühevoll erarbeitet.


    Ein Schlüsselwerk ist da sicher der von Dir, Kontrapunkt, angeführte "Pierrot lunaire", in seiner schrillen, satirischen Ausdruckswelt ein Werk, das mich auch in seiner spröden Lyrik sehr berührt und ergreift: Romantik wird höhnisch zurückgewiesen und gerade dadurch auf einer anderen Ebene neu geschaffen: Ein wahres Wunderwerk mit hoher Sinnlichkeit!


    Vielleicht fördert gerade das Gefühl, in einer Sackgasse zu stecken, eine ganz besondere Produktivität und Kreativität.

  • Zitat

    Zitat m-mueller
    aber Schönheit im Atonalen ist offenbar recht mühsam zu entdecken


    Eigentlich nicht - man muß sich auf diese neue Schönheit nur einlassen.


    Außerdem werden immer wieder Dinge miteinander vermengt, die miteinander wenig zu tun haben. Bleiben wir bei der schwer zu entdeckenden Schönheit im Atonalen.


    Ich empfinde Debussys "Et la lune descend sur le temple qui fut" als ausgesprochen schön.
    Oha - jetzt ist der Baumgartner übergeschnappt, Debussy atonal...!
    Der Baumgartner mag übergeschnappt sein, hat aber dennoch nicht unrecht: Nach herkömmlicher funktionstonaler Lehre ist "Et la lune" nicht an eine Grundtonart gebunden. Ein Phänomen, das man übrigens schon beim späten Liszt feststellen kann und das sich aus der bis zum Schlußakkord hinausgezögerten Auflösung des Tristan-Akkords herleitet.


    Als Debussy "Et la lune" komponierte (1907, wenn ich mich nicht irre), gab es die "atonale Musik" aber noch nicht, weil der Terminus "atonal" noch nicht erfunden war. Er war ja ursprünglich als Spottbegriff auf Schönberg gemünzt.


    Damit hat sich aber eine Unterscheidung eingebürgert, die nicht sehr sinnvoll ist: "atonal" und "freitonal". Von "freitonal" sprechen viele, wenn sie eine nicht funktionstonale Harmonik meinen, die auf Dreiklängen und als konsonant empfindenen Akkorden aufbaut, ohne einen klaren Dur/Moll-Bezug anzustreben. De facto handelt es sich dabei aber um "atonale" Musik, also um Musik ohne Tonartenbindung.


    Als "atonal" wird hingegen immer die als nicht schön empfundene Musik der Schönberg-Schule verstanden. Nur hat dieser Wegfall des "Schönheitsbedürfnisses" primär nichts mit dem harmonischen Material sondern mit der Ästhetik des Expressionismus zu tun.


    Oder anders gesagt: Schönberg saß nicht da und überlegte, wie er möglichst grauenhafte Klänge unter Wegfall von Tonartenbeziehungen erzeugen könnte, er gab einem bestimmten Ausdrucksbedürfnis nach, und dieses Ausdrucksbedürfnis (Loge bringt es mit Freud in Zusammenhang, ich bin mir dessen nicht so sicher, ich glaube eher an eine Eigendynamik der musikalischen Entwicklung - aber das soll uns jetzt nicht weiter beschäftigen) führt schließlich zur "Erfindung" der expressionistischen Musik, in der sehr oft die Tonartenbeziehungen aufgelöst sind.


    Also nochmals: Schönheit und aufgelöste Tonartenbeziehungen, vulgo "Atonalität", schließen einander nicht zwangsläufig aus.



    Was nun m-mueller meint, ist aber nicht die Schönheit in den vulgo freitonalen Werken, sondern (ich interpretiere) die Schönheit in den Werken der Wiener Schule und ihrer Nachfolger.


    Da nun die Schönheit um ihrer selbst Willen den Gedanken des Expressionismus zuwiderläuft (auch Marc und Schiele malen nicht Schönheit um ihrer selbst Willen), der Schönberg-Kreis aber diesem Expressionismus angehört, ist es logisch, daß "Schönheit" in den Werken dieser Komponisten einen anderen Stellenwert bekommt: Sie wird zu einem Element des Ausdrucks, also reduziert auf einzelne Momente. Im "Wozzeck" führt Berg das exemplarisch vor. Aber es gibt diese plötzlichen Einbrüche von Schönheit auch bei Schönberg in der "Erwartung" und in der "Glücklichen Hand".


    Kommen wir nun aber zu den wirklich Modernen, die sich aus der Schönberg-Schule ableiten, nehmen wir Henze.
    Henze hat einmal einen bemerkenswerten Satz gesagt (ich zitiere aus dem Gedächtnis): "Die Suche nach der klassischen Schönheit ist die einzige Narretei, für die es sich lohnt zu leben."
    Für Henze hat die Schönheit also wieder einen hohen Stellenwert - aber das Schönheitsideal hat sich gewandelt. Wir empfinden heute auch die Bilder von Marc und Schiele als schön - seinerzeit waren sie Kunstskandale.


    Dennoch gibt es gerade bei Henze diese Sehnsucht nach der klassischen Schönheit, aber da es sich um eine Sehnsucht nach etwas Verlorenem handelt (wir sind nicht mehr in der Zeit der Klassik), ist es eine heraufbeschworene, eine gebrochene Schönheit.
    Dennoch ist der vierte Satz von Henzes Siebenter Symphonie ebenso als schön zu empfinden wie der letzte Teil des "Floß der Medusa" ("Wo Du bist..."). Ebenso schön sind "Nachtstücke und Arien", und weite Teile der "Bassariden" klingen nach einem geringfügig modernisierten Richard Strauss.


    Sogar bei Boulez, einem der lange Zeit hartnäckigsten Schönheitsverweigerer, finden sich Stellen fast konventioneller Schönheit, etwa am Schluß von "cummings ist der dichter" oder in der Orchesterversion der "Notations", deren erste vier in Salzburg unter Daniel Barenboim einen derartigen Erfolg hatten, daß Barenboim erst eine Notation wiederholte und dann, als der Applaus nicht abbrach, alle vier. Ich glaube kaum, daß das Publikum unter Applauszwang stand.


    Aber auch bei vermeintlichen "Total-Revoluzzern" wie Stockhausen oder Nono (bei ihm vor allem in der Spätphase) gibt es diese Oasen der Schönheit. Und für die Komponisten der sogenannten Postmoderne ist Schönheit eine von vielen Optionen.


    Daher: Die Neue Musik kennt natürlich die Schönheit. Sie braucht nur die aufnehmebereiten Ohren des Zuhörers. Aber gerade diesbezüglich unterscheidet sie sich nicht von der Musik anderer Epochen.


    :hello:

    ...

  • ...das finde ich schon auch !!


    Es geht doch wohl a u c h um die Frage, welche Auffassung/Empfindung von "musikalischer Harmonie" wir im Einzelnen haben...


    Persönlich empfinde ich eine bestens eingespielte und ausbalancierte Free-Jazz-Gruppe
    (die von Spielwitz und Spielfreude getragen ist - NICHT davon, bösen Bürgersleuten eins auszuwischen...)
    ...durchaus als (menschlich-)harmonisch !
    ...gleichfalls z.B. das Lutoslawski-Streichquartett - ob seines beherzten und abwechslungsreichen Dissonanzen-Gefunkels =)


    Ehrbare Mitmenschen/Mitdiskutanten, die JSB und Mozart da als DEN Massstab empfinden...
    es fällt mir nicht ein, dagegen zu polemisieren :no:
    ...nur dass "unsereiner" sie kaum je von der Schönheit des Lutoslawski-Quartetts wird überzeugen können
    ...so wie mir keiner einreden kann, es sei "hässlich"


    Bye
    Micha

  • Zitat

    Original von Edwin Baumgartner
    Sogar bei Boulez, einem der lange Zeit hartnäckigsten Schönheitsverweigerer...


    Ist es nicht möglich, dass diejenigen, die sich der Schönheit nicht veweigerten ästhetisch-intellekuell als unredlich galten und noch gelten? Dass pure Schönheit sofort und unwiderruflich als Korruption und Kitsch betrachtet wurde/ wird und unter Generalverdacht stand/ steht. Ich frage das nicht als Feind der Moderne, im Gegenteil. Und ich freue mich, wenn dieses von mir gehegte Vorurteil ausgetrieben wird...

  • Zitat

    Original von Edwin Baumgartner
    Oder anders gesagt: Schönberg saß nicht da und überlegte, wie er möglichst grauenhafte Klänge unter Wegfall von Tonartenbeziehungen erzeugen könnte, er gab einem bestimmten Ausdrucksbedürfnis nach, und dieses Ausdrucksbedürfnis (Loge bringt es mit Freud in Zusammenhang, ich bin mir dessen nicht so sicher, ich glaube eher an eine Eigendynamik der musikalischen Entwicklung - aber das soll uns jetzt nicht weiter beschäftigen) führt schließlich zur "Erfindung" der expressionistischen Musik, in der sehr oft die Tonartenbeziehungen aufgelöst sind.


    Richtig, brauchen wir hier nicht vertiefen. Eine kurze Anmerkung sei erlaubt: Ich brachte als Beispiel die "Verklärte Nacht", mit der Schönberg ein gleichnamiges Gedicht Richard Dehmels vertont hat. Das Gedicht behandelt Dehmels Hauptthema »Liebe und Sexualität« (Eros). Insofern liegt für mich der Einfluss Freuds nahe. Hieraus folgen die Momente der Unsicherheit, der Angst, des Bodenlosen etc. Schönberg saß also da und überlegte sich, wie er das adäquat in Musik umsetzen könnte. Eigentlich hätte Schönberg nach eigenem Bekunden ja gerne mehr in der Tradition der Spätromantik weiterkomponiert. Allein die tiefgreifenden Veränderungen in dieser Zeit (nicht zuletzt eben die Entdeckung des Unbewussten, Triebhaften) ließen es so offenkundig nicht zu. Der Zusammenhang zwischen den seelischen und tonalen Unsicherheiten ist hier handgreiflich.


    Interessant ist hier übrigens auch folgender Zusammenhang: Das Triebhafte hat ja bekanntlich schon Wagner in seinem Tristan unter dem Einfluss Schopenhauers, der insofern als Vorbereiter Freuds gelten darf, in die Musik eingebracht. Jemand sagte einmal sinngemäß zur "Verklärten Nacht" Schönbergs, sie klinge, als habe jemand die noch nasse Partitur des Tristan bekleckst...


    Loge

  • Zitat

    Original von pieter.grimes
    Es geht doch wohl auch um die Frage, welche Auffassung/Empfindung von "musikalischer Harmonie" wir im Einzelnen haben..


    Der Kernpunkt ist aber dieser:
    Das subjektive und persöhnliche Empfinden von "musikalischer Harmonie" ist in stetiger Entwicklung, vor allem wenn man viel Musik hört. Empfand ich früher Pärts Akkordik als recht scharf (daher habe ich sie so sehr geliebt), heute erscheinen mir seine Klänge heute deutlich weicher. Das Empfinden und der Geschmack sind keine Konstanten. Daher kann ich niemals behaupten, dass mich eine Musik nicht und niemals anspricht. Möglicherweise tut sich irgendwann die Tür auf und man erkennt dort Schönheit und Struktur, wo zuvor nur Chaos und Missklang schien.


    Dies wird jedoch nie passieren, wenn man eine grundsätzliche Verweigerungshaltung an den Tag legt. Natürlich muss man sich nicht quälen, wenn man zur Zeit mit dem Werk Stockhausens nichts anfangen kann. Aber man sollte sich und der Musik die Chance geben, sich nach einiger Zeit (Monte..Jahre..Jahrzehnte) erneut unvoreingenommen auf die Musik einzulassen. Möglicherweise mag man sie dann noch immer nicht.


    Es geht darum, immer offen zu sein, immer neugierig zu bleiben und sich nicht verkrampft an Bekanntes zu klammern. Die Chance, etwas neues und schönes zu entdecken, ist zu wertvoll, als dass man sie aus Faulheit, Voreingenommenheit oder gar Bockigkeit wegwirft.


    Liebe Grüße, der Thomas. :hello:

  • Hallo Loge,
    kein wirklicher Streitpunkt zwischen uns. Ich glaube nur, daß Schönberg Dehmel folgte, der seinerseits mit Freud zu tun hat (wobei allerdings Dichtung oft auch Psychoanalyse ist - sogar, ehe die Psychoanalyse entdeckt wurde); ich sehe also keinen direkten Bezug Schönberg-Freud, sondern allenfalls einen indirekten. Aber das ändert nichts an den von Dir und mir übereinstimmenden konstatierten Tatsachen.
    :hello:

    ...

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