Eduard van Beinum: "ach was… 'großer Dirigent'… ich bin Musiker und Mensch, weiter nichts"
I (Synopsis)
1900 Am 3. September wurde Eduard Alexander van Beinum als zweiter Sohn von Eduard Alexander van Beinum und Antonia Polman in Kampen geboren.
1916 Van Beinum spielte Bratsche im selben Orchester wie sein Vater und Bruder Co beim Arnheimer Orchesterverein (Arnhemse Orkestvereniging).
1917 Anfang des Studiums am Konservatorium in Amsterdam.
1925-1927 Zwei Saisons dirigierte er "Toonkunst" (Amateurchöre). Außerdem dirigierte er in Zutfen die "Zutfense Orkestvereniging" (Amateure). Auch leitete während dieser Zeit den Chor der St. Niklauskirche Amsterdam.
1927 Heirat mit der Geigerin Sepha Jansen.
1927-1931 Dirigent der Haarlemse Orkestvereniging
1928 Geburt des ersten Sohnes Eduard van Beinum
1929 Geburt des zweiten Sohnes Bart van Beinum. Auch ist Van Beinum zum ersten Mal als Dirigent im Concertgebouw in einer Sommerserie.
1931 Abschied von Haarlem und seit 1 September Nachfolger von Cornelis Dopper als zweiter Dirigent des Concertgebouworchesters.
1935 Van Beinum tritt als Solist und Dirigent in Konzerten von Bach auf.
1937 Sowohl das Orchester in Utrecht als in Den Haag bieten ihm die Stelle des Dirigenten an. Beide Angebote werden abgelehnt.
1938 Am 10. Januar wird Van Beinum, neben Mengelberg, als erster Dirigent beim Concertgebouw ernannt.
1939 Van Beinum muß wegen der Mobilisation zum Heer.
1945 Erstes Konzert nach der Befreiung am Sonntag 29. Juli.
1946 Mit dem Concertgebouworchester werden Reisen nach Dänemark, Schweden, Norwegen, Belgien, Frankreich und England gemacht.
1946 Zum ersten Male wird ungekürzt Bachs Matthäus Passion aufgeführt.
1947 Premiere in Amsterdam von Bartóks Konzert für Orchester. Die Schallplattenaufnahme wird mit einem "Grand Prix du Disque" ausgezeichnet.
1948 Galakonzert für die neue Königin der Niederlanden: Königin Juliana.
1949-1952 Dirigent des London Philharmonic Orchestra.
1950 Das London Philharmonic Orchestra wird in den Niederlanden durch Van Beinum dirigiert.
1951 Concertgebouworchester nach England.
1952 Reisen mit dem Concertgebouworchester nach Edinburgh, Brüssels und Paris.
1953 Orchester + Dirigent besuchen die Schweiz und Deutschland.
1953-1955 Van Beinum ist Gastdirigent beim Orchestra Symphonica Brasiliera in Rio de Janeiro und Sao Palo, sowie dem Staatsorchester und den Amigos de la Musica in Buenos Aires.
Auch beim Philadelphia Orchestra (USA) in Philadelphia und New York ist er zu bewundern. Des Weiteren ist er noch Gastdirigent in Ravinia, Ellenville, Hollywood Bowl, Cleveland, Pittsburgh, San Francisco, Los Angeles, Montreal und Rochester.
1956 Anstellung als Dirigent in Los Angeles. Mit dem Concertgebouw nach Wien und Mailand.
1958-1959 Die letzte Saison von Eduard van Beinum beim Concertgebouw. Er verstarb plötzlich an einem tödlichen Herzinfarkt am 13. April 1959 im Alter von 58 Jahren. Während einer Orchesterprobe am Pult seines geliebten Concertgebouw...
II (1900-1931)
Van Beinum kam aus einer musikalischen Familie: sein Großvater war Leiter einer musikalischen Kapelle, sein Vater spielte Kontrabaß im Arnheimer Orchesterverein, sein um neun Jahre älterer Bruder Co spielte Violine im selben Orchester.
Kein Wunder also, daß der junge Eduard auch Musik studierte. Zuerst Violine, danach Klavier. Unterricht bekam er überwiegend von seinem Bruder. Ziemlich schnell realisierte er sich, daß er nur eine Chance bekommen würde mit den Erwachsenen zu spielen, wenn er die Bratsche als Instrument wählte. Und so wandte er sich auf Anraten von seinem Vater diesem Instrument zu. Ohne jedoch das Klavier zu vernachlässigen.
Bereits als Jungen war "Eedje", wie er genannt wurde, sehr gut in "prima vista" spielen (vom Blatt spielen). Darum wurde er oft nach der Schulzeit gebeten, Menschen zu begleiten, sowohl Sänger als Instrumentalisten. Als Begleiter konnte er sich gut den Wünschen der Solisten fügen.
Später, als er bereits Dirigent war und große Solisten begleitete, sagte er, daß diese Zeit eigentlich seine Schule dafür gewesen war.
Obwohl Van Beinum nie viel über seine Jugendzeit sagte, wurde eine Anekdote durch ihn öfter erzählt. Er war ungefähr vierzehn Jahre alt, als er in Arnheim ein Konzert besuchte, daß durch das Concertgebouworchester unter Mengelberg gegeben wurde. Als er zu Hause war, sagte er zu seiner Mutter "Du wirst es noch mal erleben, daß ich bei diesem Orchester am Pult stehe".
Erst als er dort Dirigent war, erinnerte er sich dieser Worte wieder.
Als er 16 war, spielte er bereits Bratsche im Orchester seines Vaters.
Weil er so leicht vom Blatt lesen konnte, reichte oft ein einziger Blick. Und konnte er sich beim Durchblättern der Partitur schon ein sehr gutes Bild der Musik machen, was ihm als Dirigent natürlich zu Gute kam.
Dadurch konnte er sich als ein richtiges Faktotum entwickeln. Er war Pianist, spielte sowohl Klavier als Violine in Ensembles, sprang manchmal für seinen Bruder bei Chorproben ein, begleitete links und rechts, usw...
Darum wurde entschieden, daß er zum Konservatorium in Amsterdam gehen sollte. Seinem Konservatoriumsunterricht folgte er ohne viele Probleme. Studieren war eigentlich nie seine favorisierte Tätigkeit. Er hatte offenbar eine Veranlagung für Klavier- und Geigenspiel und brauchte offensichtlich die Fingerfertigkeitsübungen nicht so. Dennoch brachte sein Klavierlehrer dort, De Pauw, ihm die Zucht bei zum Lernen und Üben.
Das bedeutet aber nicht, daß alle Fächer mit derselben Begeisterung gefolgt wurden. So gab es einmal Unterricht in Musikgeschichte. Ein Fach, daß er nicht wirklich interessant fand. Der Lehrer redete und redete und redete... und Van Beinum schreckte auf, als er Gepolter hörte. Er sprang aus der Bank, kniete und machte ein Kreuzzeichen. Denn dachte, daß der Gottesdienst zu Ende war.
Als er das Konservatorium abgeschlossen hatte, lag eine glänzende Zukunft als Pianist vor ihm.
Doch das war nicht, was er sich wünschte. Denn auch begleiten wollte er. Mit seinem Bruder, sowohl wie mit seiner Verlobten, gab er ein sehr geschätztes Duo ab.
Auch entwickelte er Interesse am Dirigieren von Chören. Er dirigierte zwei Amateurchöre. Wurde nebenbei auch noch Leiter des Kirchenchores der Sint-Nicolaaskerk Amsterdam. Und dirigierte auch noch ein Amateurorchester.
Und da kam die Schicksalsfügung. Zufällig las er eine Annonce in einer Zeitung, worin die Haarlemer Orchesterverein einen Dirigenten suchte. Spornstreichs wurde darauf geschrieben, denn plötzlich fühlte er, daß es das war, was er sich wünschte: Dirigent zu sein.
Obwohl er erst 27 Jahr alt war, wurde er doch aus über 100 Kandidaten auserwählt. Und so dirigierte Van Beinum am 10. Oktober 1927 seine erste Aufführung in Haarlem.
Wenn man zurückschaut, hat er eigentlich schon vieles über das Wohlergehen eines Orchesters gewußt. Er hatte ja darin Bratsche gespielt. Aber auch als Solist (Klavier) hatte er damit schon Erfahrung.
Das im Titel eine Aussage von ihm steht "...ich bin Musiker und Mensch..." ist nicht mit Unrecht. Schon während seiner ersten Jahre zeigte Van Beinum, wie menschlich er war. Ein Charakterzug, der sich bis zu seinem Lebensende heraus prägte.
Bereits im ersten Jahr in Haarlem bot er seinem Kapellmeister den Baton (Taktstock) für eine Aufführung, so daß dieser Erfahrung bekommen konnte. Eigentlich eine logische Fortsetzung war dann auch, daß er – schon am Concertgebouw angestellt – einen Chorrepetitor der RK Oratoriumverein, ein junger Springer von siebzehn Jahr beauftragte ein Chorwerk zu einstudieren; er selbst würde dann die Ausführung leiten. Als aber das "moment suprême" gekommen war, überreichte er dem "Grünschnabel" den Taktstock und sagte freundlich "dirigiere es ja selbst, bitte".
Wie unbefangen Van Beinum die Musik gegenüber stand, zeigt seine Wahl der Komponisten in Haarlem.
Ja freilich, das Alte wurde nicht vergessen. Aber auch bracht er schon damals fast unbekannte Komponisten aus dem Barock: Vivaldi, Torelli, Corelli, Telemann, die Geschwister Bach.
Aber auch das neue Französische Repertoire bot er: Berlioz, Franck, Chausson, Debussy, Ravel, Roussel, Caplet, Roger-Ducasse, d'Indy, Pierné, Fauré. Sowie andere ziemlich neue Komponisten wie Respighi, Mussorgsky, Rimsky-Korsakov, Prokovjev, Brahms, usw. Nota bene, hier ist Rede von der Zeit um 1928.
Aber auch jungen niederländischen Komponisten gab er eine Chance.
Und vergiß nicht, daß Van Beinum auch ein hervorragender Konzertpianist war. In Mozarts Klavierkonzert in C-Dur (KV 467) dirigierte er am Klavier. Auch hat er so Beethovens fünftes Klavierkonzert, die Symphonische Variationen von Franck und sogar das Konzert für drei Klaviere und Orchester von Bach gebracht.
Das Concertgebouw Amsterdam lud Van Beinum als Gastdirigent ein. Am 30. Juni 1929 dirigierte er also zum ersten Male dieses berühmte Orchester, und damit hatte er das Versprechen aus 1914 zu seiner Mutter gehalten.
So viel Erfolg hatte er in Haarlem, daß man sich nicht wunderte, als auf einmal Dr. Rudolf Mengelberg (Neffe des Dirigenten und damals künstlerischer Leiter des Concertgebouworchesters; später Direktor) und Pierre Monteux (zusammen mit Mengelberg erster Dirigent des Concertgebouworchesters) unter den Zuhörern war.
Kurz danach wurde Van Beinum angestellt als 2. Dirigent des Concertgebouworchesters.
Auch bei seinem Abschied zeigte Van Beinum seine Menschlichkeit, als er, redend über seinen jungen Nachfolger, sagte "Ich frage nicht um Milde für ihn von Kritiker oder Publikum. Schenke ihm dagegen das Vertrauen, daß er braucht, um sich künstlerisch entfalten zu können".
III (1931-1945)
In Amsterdam hatte Van Beinum die Stelle des 2. Dirigenten inne. Und gab es zwei weltberühmte Giganten am Ruder: Willem Mengelberg und Pierre Monteux. Wie konnte er sich da behaupten?
Bereits beim ersten von ihm geleiteten Konzert wurde es deutlich, daß er Gebiete betreten würde, die diesen Großen ungepflegt ließen: z.B. Bruckners 8. Symphonie. Es dauerte eine Weile, bevor das Publikum seine Annäherung von Musik anerkannte. Denn man war gewöhnt an Mengelbers pompöse Interpretationen, wobei seine Vision der Musik ganz deutlich zu hören war. Ritardandi, Accelerandi, Crescendi und Diminuendi, das alles sehr oft und sehr viel (vielleicht zu viel) durch Mengelberg angewandt. Um bestimmte Stellen in der Musik (extrem) zu betonen. Damit verglichen schien Van Beinum fast nüchtern. Er ließ aber die Musik für sich reden, und versuchte zu bringen, was der Komponist gemeint hatte.
Eine Symphonie die Van Beinum besonders liebte, war Mozarts Symphonie in A-Dur KV 201. Damals stand in der Partitur beim ersten Satz, Allegro moderato, als Tempo C (also 4/4) angegeben. Van Beinum fand dagegen, daß es als 2/2 Takt gespielt werden sollte. Und damit schneller wurde. Als die Neue Mozart Ausgabe erschien, wurde die erste Seite der Partitur wie Mozart sie niedergeschrieben hatte publiziert. Tatsächlich: das Tempo war nicht C (4/4), sondern C¦, also 2/2.
Etwas derartiges passierte auch mit Mozarts Linzer Symphonie. Der langsame Satz hatte als Tempobezeichnung "Poco adagio". Laut Van Beinum konnte das nicht wahr sein, denn der Charakter der Musik stimmte damit nicht überein. Zwar ist das Original verloren gegangen, doch man entdeckte Kopien von Zeitgenossen Mozarts. Da war "Andante" als Tempobezeichnung geschrieben!!
Ein derartiges Eingreifen gegen die Partituranweisungen tat er aber nur sehr selten und nach langem Zaudern. Denn er respektierte die Komposition und folgte ziemlich genau den vom Komponisten gegebenen Noten und Anweisungen. Selbstverständlich, würde ich fast sagen, versuchte er deshalb nicht, seine eigene Interpretation zu "machen" und gegen die Partitur zu verstoßen.
Sogar das verdoppeln der Holzbläser (und manchmal Horns), was zu seiner Zeit doch nicht unüblich war, war bei ihm nicht normal. Manchmal, z.B. in der ersten und vierten Symphonie von Brahms, tat er das aber auch. Und trotzdem scheint es an ihm genagt zu haben, denn kurz vor seinem Tode beschloß er erneut, zu versuchen Brahms erste Symphonie ohne Verdopplung aufzuführen.
Dies war Van Beinums Kraft: er stand immer offen für Erneuerungen. Darum auch war er in der Lage soviel Uraufführungen zu bringen, und "vergessen" Werke.
Deutlich zeigt sich hier, wie Van Beinum einzuschätzen ist. Ein intuitiver Musiker, der die Musik bis in die Zehen erfasste, wenn nicht erlebte. Ein Mann, der ein unglaubliches Gefühl hatte für das Bedürfnis der Komponisten.
Aber er blieb Mensch, und war deshalb auch nicht fehlerfrei. Wenn er seine Meinung geformt hatte, war er schwer davon zu bringen.
Alles in allem war Van Beinum ziemlich schnell in Amsterdam als Dirigent akzeptiert. Als 1934 Monteux bedankte für die Stelle von ersten Dirigenten, kam Bruno Walter als dessen Nachfolger (1934-1939). Inzwischen war die Stelle des 2. Dirigenten Van Beinum fest gesichert. Man kannte ihn, respektierte ihn und bewunderte sein Dirigieren. Er brauchte also keine Angst zu haben, daß er weg konkurriert wurde durch Walter, der auch Brucknerliebhaber war. Dagegen konnte er konkurrenzlos die französischen Komponisten bringen, weil die auch nicht Walters Interesse genossen.
Erst als Haitink Dirigent war, wurde das System des ersten und zweiten Dirigenten abgeschafft und durch Assistenten ersetzt.
Bei den bekannten Komponisten wirkte Van Beinum erneuernd. Sehr oft stand im Programmzettel bei einem Werk von Händel, Haydn oder Mozart ein Stern. Das bedeutete "Erstaufführung im Concertgebouw".
Aber auch die neuen und neuesten Kompositionen führte er wiederholt auf. Nur mit Schönberg und dessen Schülern hatte Van Beinum Mühe. Er fand die Musik einfach zu intellektuell.
Es ist also leicht zu verstehen, daß andere Orchester in den Niederlanden einen solchen Könner gerne als Dirigent haben wollten.
1937 fragte zuerst das Orchester in Utrecht, ob er dort die Funktion des Dirigenten bekleiden wollte. Van Beinum lehnte dankend ab. Etwas später in diesem Jahr kam aber auch das Residentieorkest Den Haag, das zweitbeste Orchester der Niederlande.
Van Beinum überlegte das seriös. Die Musiker und die Verwaltung des Concertgebouworkest erschraken sehr. Sie wollten ihn unbedingt halten und darum wurde er Anfang 1938 zum Dritten Chefdirigenten, neben Mengelberg und Walter, angestellt.
Und so wurde es 1939, auch die Niederlanden mobilisierten und Van Beinum mußte zum Heer.
Noch schlimmer: 1940 brachte den Krieg auch in die Niederlanden, denn Deutschland griff an und besetzte das Land.
Die Deutsche Besetzung hatte einen tiefen Einfluß auf das Orchester: Musik von jüdischen Komponisten wurde schon 1940 verboten. Musik von "entarten" Komponisten (z.B. Hindemith) war unerwünscht. Im Frühling 1941 befahlen die Behörden, die siebzehn jüdischen Mitglieder des Orchesters zu entlassen, weil Orchester komplett arisiert sein sollten. Dringende Ersuchen beim Besetzer führten dazu, daß die komplette Arisierung erst am 1. Dezember 1941 Tatsache wurde. Außerdem wurde das Repertoire immer mehr eingeschränkt. Neben Verboten für jüdische, russische, englische und polnische Musik sowie Musik aus der Vereinigten Staaten, war ab 1. November 1943 nur noch ein französisches Werk pro Konzert erlaubt.
Für Van Beinum war das eine schwere Zeit. Anders als Mengelberg, der sich öffentlich ziemlich pro-Deutsch zeigte, verabscheute Van Beinum die Besatzung. Weil es kaum anders konnte, mußte er sich dennoch ihre Hinweise fügen. Dennoch protestierte er manchmal.
Trotz schweren Zeiten wuchs Van Beinums Popularität bei sowohl Orchestermitgliedern als Publikum.
IV (1945-1959)
Das Resultat von fünf Jahre Besatzung - 1945 wurden die Niederlande befreit - war ziemlich unwirtlich. Erstens kam Mengelberg nicht zurück. Wegen seiner pro-deutschen Haltung bekam er ein Verbot für fünf Jahre. Auch bekam sein Neffe, Rudolf Mengelberg, ein Berufsverbot. Daß aber zwei Jahre später in Revision vernichtet wurde.
Zweitens zählte das Concertgebouworchester 1941 siebzehn jüdische Mitglieder. Vierzehn davon überlebten die Besatzung. Teils, weil sie sich verstecken konnten, teils wegen Heirat mit einem nicht jüdischen Partner. Einige überlebten sogar die deutsche Gefangenschaft. Andere Mitglieder wurden aber entlassen wegen Kollaboration mit dem Besatzer.
Van Beinum bekam "nur" einen Verweis. Zwar fand man, daß er sich nicht immer zuverlässig benommen hatte, aber immerhin wurde sein Benehmen als einen nicht so derart schwerer Fehler beurteilt, daß er ein Verbot aufgelegt bekommen sollte.
Ich weise darauf hin, daß die Urteile von gleich nach dem Kriegsende bis irgendwo in den Jahren 1947-1948 viel härter waren, als danach.
Es gelang Van Beinum bereits Sommer 1945, Konzerte zu geben. Endlich durfte man wieder einen „entarten“ Komponisten aufführen. Einen Komponisten, mit dem das Concertgebouw eine besondere Beziehung hatte: Mahler.
Van Beinum mußte das Orchester fast neu gründen, die Qualität nochmals festigen, die Reputation wieder aufbauen. Kurz: eine leichte Arbeit hatte er nicht. Trotzdem wurde das Orchester schon ziemlich schnell im Ausland eingeladen. Schon 1946 wurden Belgien, die Schweiz, England, Dänemark, Norwegen und Schweden besucht. Die Leistungen des Orchesters, und damit des Dirigenten, wurden als so gut beurteilt, daß Van Beinum gebeten wurde die Leitung des Londoner Philharmonic Orchestra auch auf sich zu nehmen. Leider war seine Gesundheit schuld daran, daß die Verbindung nur einige Jahre dauerte.
1946 brachte auch einen deutlichen Bruch mit Mengelberg. Wurde unter Mengelberg immer die Matthäus Passion gekürzt, brachte Van Beinum diese Passion integral. Vermutlich, aber hier muß ich spekulieren, weil er für eine Komposition soviel Respekt hatte. Da kürzt man nicht.
1950 offenbarte sich zum ersten Mal das Herzleiden bei ihm. Ein Herzleiden, daß schließlich einige Jahre später seinen frühzeitigen Tod verursachte. Die Saison 1950-1951 verbrachte er also größtenteils krank im Bett.
Die noch ihm verbliebenen Jahre scheint mir Van Beinums Kerze von beiden Seiten zu brennen. Viele Reisen mit dem Orchester ins Ausland. Gastdirigentenauftritte bei mehreren Orchestern. Und für ihn bedeutete Gastdirigent zu sein nicht ein einmaliges Auftreten, sondern einige Konzerte zu dirigieren. Besonders die Reise mit dem Orchester 1954 wurde einen grandiosen Erfolg. So gut beurteilte man Van Beinums Dirigieren, daß ihm sogar ein Ehrendoktor an der Rutgers Universität verliehen wurde. Sein Gastdirigieren in Los Angeles (vier Konzerte) wurde stürmisch empfangen. Beim vierten Konzert gaben die Orchestermitglieder Van Beinum einen Tusch (die Musiker lassen ganz kurz einen Ton kräftig anklingen, um etwas zu betonen). Man war so begeistert, daß als Van Beinum wieder in Amsterdam war, Zeitungen behaupteten, er würde nach Los Angeles gehen. Das wurde also verneint. Nachdem Anfang 1956 Van Beinum aber wieder zwei Konzerte in Los Angeles dirigiert hatte, wurde bekanntgemacht, daß er zum "musical director" ernannt war. Weiterhin blieb er natürlich bei "seinem" Orchester, das Concertgebouworchester. In Los Angeles konnte er nur zwei Jahre richtig aktiv sein. Dafür sorgte sein Herzleiden.
1956 war sowieso ein besonderes Jahr: Mozart wurde zwei Jahrhunderte eher geboren. Und Bartók vor 75 Jahren. Und Van Beinum war 25 Jahre beim Orchester. Das wurde natürlich gefeiert.
Von Bartók wurde "Musik für Saitenistrumente, Schlagzeug und Celesta" nebst der "Rhapsodie für Klavier und Orchester" aufgeführt. Bei Mozart wurde das Repertoire ausgebreitet mit "Serenade nr.9 in D, 'Posthorn' KV 320" und "Vesperae solennes de confessore KV 339". Und die Mozartveranstaltungen kulminierten mit dem Schlußkonzert, worin die letzen drei Symphonien des Meisters aufgeführt wurden. Aber auch wurden nebenbei neue und unbekannte Kompositionen aufgeführt.
Während der nachfolgenden Saisons war Van Beinum öfter krank. Darum fand z.B. die Aufführung von Mahlers Siebenter nicht im Oktober 1957 statt, sondern erst im Juni 1958. Dirigent und Orchester empfingen damals die Goldene Medaille der Internationalen Mahler Gesellschaft.
Die letzte Saison war 1958-1959, die abrupt durch seinen Tod beendet wurde. Bis zum letzten Moment brachte er auch neue und unbekannte Kompositionen. So wurde u.a. das für viele unbekannte "Jeu" von Debussy gespielt. Und die "Petite Suite" von Bizet wurde aufgeführt. Offensichtlich gefiel das letzte Werk Dirigent und Orchester sehr. Denn der letzte Satz wurde sogar wiederholt.
Die Zahl der neuen Kompositionen die Van Beinum urausführte, ist erheblich. Auch die Ausbreitung des Repertoires war beträchtlich. Und obwohl Van Beinum allmählich auch Komponisten meisterte, mit denen er eher Probleme hatte (z.B. Mahler) sagen die Quellen, daß er doch immer Bruckner, Debussy und andere Franzosen, Mozart und Schubert am liebsten hatte.
Das letzte Konzert, daß Van Beinum dirigierte, noch nicht einmal 48 Stunden vor seinem Tode, ist eigentlich repräsentativ für sein ganzes Oeuvre:
Haydn – Symphonie in D-Dur Nr. 101 'Die Uhr'
Mozart – Violinkonzert in G-Dur Nr. 3 KV 216
Badings – Symphonische Variationen
Ravel – Zweiter Suite aus "Daphnis et Chloë"
Während einer Probe am 13. April 1959 von Brahms Symphonie Nr. 1 verstarb Eduard van Beinum an einem Herzinfarkt.
V (Der Mensch)
Wenn ich hier zum Ende komme, kann das doch nicht, ohne Van Beinum als Mensch zu würdigen.
Er war nicht ein Dirigent, der vom Pult befahl. Nein er fühlte sich ein mit den Musiker: der "primus inter pares" (Erster unter Gleichen).
Auch wollte er eher reproduzieren als interpretieren. Nicht seine Auffassung war das wichtigste, sondern die Auffassung des Komponisten.
Davon zeugen soviel Beispiele, daß ich sie Euch nicht vorenthalten will.
Oft sagte er einem Orchestermitglied, das ein wichtiges Solo hatte "Spiel, wie Du denkst, daß es sich gehört. Ich werde dann folgen".
Einmal gab es einen Posaunist, der mehrfach denselben Fehler machte. Van Beinum entschuldigte sich, daß er es falsch angezeigt hatte. Als jemand ihn darauf hinwies, daß nicht er, sondern der Posaunist den Fehler gemacht hatte, reagierte der Dirigent ungefähr mit "Das ist doch nicht wichtig. Dieser Mann ist jetzt beruhigt und wird später wunderbar spielen".
Von sich selbst behauptete er "Ich wurde nur Dirigent, weil ich nichts anderes konnte".
Als er Gastdirigent beim Philadelphiaorchester war, passierte es einmal, daß nach einer langen, ermüdenden Probe die Orchestermitglieder Van Beinum baten noch einmal – aber diesmal zum eigenen Vergnügen – Haydns Symphonie "Das Wunder" zu spielen.
Als Van Beinum noch in Haarlem dirigierte, war der Schlagzeugspieler krank, als das Klavierkonzert von Willem Pijper ausgeführt werden sollte. Van Beinum schlug vor, daß Pijper dirigieren würde. Dann würde er selbst die Rolle des Schlagzeugers übernehmen. Was dann auch geschah.
In Los Angeles geschah es mal, daß ein Hornist zwei Mal bei Proben an eine bestimmte Stelle "kickste". Da kam die Aufführung. Als die Stelle erreicht war, zeigte Van Beinum dem Hornist die Zunge. Die Spannung war gebrochen, und ein sauberer Ton wurde produziert.
Über seinen Beruf sagte er "Man kann alle Musik verderben durch dirigieren. (…) Musiker sollen das Gefühl haben frei zu sein. Was sie aber meinen ist 'Du hinderst uns nicht'. Dann sind sie auf der richtige Weise frei".
Und "Was ist ein echter Dirigent? Nicht mehr als ein Musiker, der lernen muß, andere Musiker in Zaum zu halten und zu beschwichtigen".
Van Beinums Musikauffassung, und damit auch seine menschliche Würde kann ich am Besten wiedergeben mit einem Zitat aus seinem Dankwort, als er am 10. Dezember 1956 Doktor honoris causa wurde an der Universität Amsterdam.
"Es ist meine Überzeugung, daß es die heilige Pflicht des Reproduzierenden ist zurück zu treten, sich dienstbar zu machen wie ein Instrument (…) damit (…) die Musik (…) so ungehindert, so vollkommen und sonach so wahrhaft möglich erklingen kann".
Viele berühmte Musiker schrieben Abschiedsworte anläßlich Van Beinums Tod.
Einen werde ich hier zum Abschluß zitieren, nämlich der Schweizer Tenor Ernst Haefliger.
"Im Jahre 1948 lernte ich Eduard van Beinum zum ersten Male kennen, als ich in einer Generalprobe zur Aufführung der Matthäus-Passion im Concertgebouw die Tenorarien sang. Damals begründete sich für mich eine musikalische Freundschaft und Verehrung, die sich in langen Jahren gefestigt hat und für alle Zukunft in mir lebendig wird.
In jener ersten Probe und in allen späteren Aufführungen der Matthäus-Passion beeindruckte mich das ganz besondere Wesen dieses Musikers. Bei aller ergreifenden Dramatik in seinen Aufführungen war sein wichtigstes Anliegen das Streben nach der Einfachheit des Ausdruckes. Es schien, als ob er sich selber nur als Vermittler und Betreuer betrachte..."
Fünfzig Jahre ist es jetzt her, daß Van Beinum verstarb. Er lebte zu kurz. Und hat das Pech, daß es von ihm kaum Stereoplatten gibt. Darum kennen nur noch ganz wenig Menschen seinen Namen. Viele Rundfunkaufnahmen von ihm wurden leider gelöscht.
Wie gerne würde ich wieder seine Aufführung der Matthäus-Passion hören. Dann würde ich in Gedanken wieder diesen wunderbaren, großartigen Dirigent am Pult sehen. Der Mann, der mir in meiner Jugend soviel musikalische Freude bereitete.
Ich bedauere, daß Herr Bart van Beinum, Sohn des Dirigenten, die letzten Wochen leider abwesend war und er darum diese Biographie nicht auf Fehler prüfen konnte.
Weiter danke ich Herrn Piet Verbeek von Webseite "Dutchdivas.net.", der mir vor längere Zeit die Zustimmung gab, Links von Fotos in Tamino zu kopieren.
Und natürlich wieder Elisabeth, die nicht nur Korrekturen machte, sondern auch aktiv mitlas.