Liebes Forum,
seit langem beobachte ich die kritische Aufnahme von Beverly Sills unter den Gesangsethusiasten. Nicht selten bewegt bin ich von der zuweilen haßerfüllten Ablehnung der Sängerin - gerade in Europa.
Ich versuche Anhand eines kleinen Artikel meine Sicht der Kunst Beverly Sills zu verdeutlichen.
Mich interressiert sehr, was Sie über diese Sängerin denken die kürzlich ihren 75. Geburtstag gefeiert hat.
Am 25.05.1929 wurde Berverly Sills unter dem Namen Miriam Silberstein als Tochter rumänisch-russischer Emigranten in New York geboren. Nach einer Kinderkarriere im Rundfunk debütierte sie 1946 als Frasquita in »Carmen« an der Oper von Philadelphia. Mit ihrem Engagement an der New York City Opera 1955 unterbrach sie schon bald gezeichnet von einem schweren Schicksalschlag ihre profesionelle Karriere. Nach ihrer Hochzeit mit dem Journalisten Peter Greenbough brachte sie zwei Kinder zur Welt, eines taub, das andere schwer körperbehindert. 1966 kehrte sie dann als Cleopatra in Händels «Giulio Cesare» triumphal an die New York City Opera zurück. Nach diesem Durchbruch begann ihre internationale Karriere, die sie an viele wichtige Häuser (London, Wien, Berlin und Venedig) führte. In ihren großen Rollen Lucia, Traviata, den drei Tudor-Queens, Norma und einige französiche Partien erreichte sie bald Weltgeltung und wurde besonders in den Vereinigten Staaten bis zu ihrem Abschied 1979 ein verehrtes Idol inklusive Titelstory in der «Times».
Die Musikkritik der letzten Jahre hat mit Verrissen und Schmäschriften auf die Kunst Berverly Sills‘ nicht gespart. „Dünn wie ein Draht“ sei ihre Stimme, „Infantil“, und den Partien die sie sänge nicht gewachsen. Jürgen Kesting fühlte sich durch ihre Norma gar zum lachen gebracht und will keine zweite Sängerin kennen, die »mit bescheideneren Stimm-Mitteln so weit nach vorn gekommen ist«. Kesting folgt hier einer bestimmten Kunstästhetik und setzt sich so der Gefahr aus, Künstler die in dieser ideolgischen Kategorisierung keinen Platz haben, die Existenzberechtigung abzusprechen. Doch nicht nur Kesting hat abwehrend gar angeekelt von der Kunst Beverly Sills berichtet. Wo liegt also der Grund für den Ausnahmerang der Künstlerin in den USA einerseits und den vernichtenden Worten europäischer Musikkritik andererseits?
Höchste Zeit also, durch ein Wiederhören die Argumente und Kritikpunkte an Gesang und Darstellung kritisch zu prüfen. Die CD-Wiederveröffentlichungen bei Westminster geben hierzu Anlaß.
Zu Beginn sei Festgestellt: Die Stimme der Sills ist in der Tat relativ klein dimensioniert, der Umfang ist aber beachtlich. Das Klanggepräge erweist sich als sehr jugendlich, wenn nicht gar kindlich. Die Stimme wird von einem schnellen Vibrato gespeist und besitzt trotz des Größendefizits erstaunliche Durchschlagkraft und Stamina. Mittelstimme und obere Lage sind registertechnisch gut verbunden und farblich nicht defizitär. Die obere Quinte gewinnt noch an Intensität und hat, obwohl etwas härter, den Reiz einer brennenden Fackel. Nur der untere Bereich, namentlich beim Einsatz des Brustregisters, wirkt zuweilen forciert. Ein Phänomen welches, mit Ausnahme von Joan Sutherland vielleicht, bei nahezu allen Sängerin dieses Fachs auffällt.
Desmond Shawe-Taylor weist darauf hin, dass bei Ihrem Triller »die zweite Note, die wir hören, nicht, wie es sein sollte einen ganzen oder halben Ton über der Hauptnote liegt, sondern einen ganzen Ton darunter«. Was der Kritiker hier feststellt ist durchaus richtig. Doch Fakt ist: Trotz dieses Fehlers in der Amplitude ist der Triller von Frau Sills fester, sicherer und vor allem ausgeglichener im Ansatz und Ausschwingen als etwa der flache Triller einer Edita Gruberova oder das schütteln des Tons einer Lucia Aliberti. Von dem intensivierten und forcierten Vibrato als Ersatz für den fehlenden Triller anderer Sängerinnen nicht zu reden. Auch hier also eine seltsam subjektivistisch geprägte Einschätzung des großen Shaw-Taylor. Wenn er dann noch nachsetzt: »Unsere Welt ist ja so verzweifelt arm an fähigen Kolortursängerinnen, daß der Erfolg von Miss Sills verständlich wird«, streift er den Bereich des boshaften.
Doch all diese technischen Überlegungen vermögen das Phänomen nur ungenügend aufzuklären. Eine andere Dimension vermag die Eigenheiten der Kunst Berverly Sills besser zu beleuchten. Erneut Kesting: »Nicht nur auf der Bühne, sondern auch auf Platte wirkt die Amerikanerin durch eine besondere Art gestischer Intensität, durch eine produktive Kraft visueller Veranschaulichung und eine differenzierte Wortartikulation«.
Was der Autor hier über die Künstlerin sagt, trifft nicht nur erstaunlich genau ihre Meriten sondern beschreibt gleichsam den Zauber den die Sängerin auf einige ihrer Hörer - ich gestehe, auch auf mich - ausübt. Die Kunst der Sills ist weniger eine betörende, als vielmehr eine sensualistisch-theatralische.
Ein kurzer Exkurs: Die Musik ihres Repertoires, Donizetti, Bellini und Rossini ist im besten Sinne des Wortes, Sängermusik. Wobei der gebrauchte Terminus weniger die Grenzen dieser Musik als vielmehr ihren Anspruch verdeutlicht. Musik also, die mit dem oft mißbrauchten, fehlgedeuteten Begriff »Belcanto« beschrieben wird. Im Gegensatz zu den dramatisch stärker eigenständigen Werken etwa Giuseppe Verdis oder Giacomo Puccinis, eine Musik die durch eine lebendige Wiedergabe durch den Sänger ihre Berechtigung erlangt und ihr erst dadurch (sic!) eine dramatische Dimension zuteil wird, die als »Wahrhaftig« beschrieben werden kann. Oder anders: Erst durch den agierenden und dadurch illuminierenden Künstler, vervollkomned sich die Kunst des Komponisten. Dies ist ein gewollter und notwendiger Bestandteil dieses Repertoires, wenn nicht gar seine raison d’être.
Doch gerade diese Forderung wird, wenn nicht gar als unerheblich, so doch zumindest als Sekundär gerade von den Connaisseurs dieser Gattung immer wieder abgetan. Dramatische Authentizität geopfert auf dem Altar kühl-kalkulierter Perfektion. Hatte nicht Maria Callas in den fünfziger Jahren gelehrt wie man diese Musik frei von Effekten so doch mit einer unbedingten Wahrhaftigkeit gestalten kann? Waren nicht Sängerinnen wie Leyla Gencer oder Virignia Zeani weitere hoffnungkündende Exponenten dieses Gedanken? War nicht genau dies gemeint als die Callas ausgerufen haben soll, Joan Sutherland habe ihre Arbeit um Jahre zurückgeworfen? Die Sutherland, eine bedeutende Sängerin mit einem unüberbotenen Maß an vokaler Perfektion blieb diese Dimension nicht selten schuldig. Ihre musikalischen Erbinnen, Edita Gruberova etwa, reihten sich in diese Tradition ein. Nicht selten wurde Sängermusik mit «Nachtigallenmusik» gleichgesetzt. Was stets Degradierung statt Sublimierung bedeutet! Die Partien bekamen eine Stimme, kein Gesicht. Ein fataler Irrtum.
Es ist unstrittig, dass eine adäquate technische Ausführung der musikalisch-technischen Anforderungen immer Voraussetzung sein muß, für eine darüber hinaus reichende identifikatorische Leistung. Zugegeben, nicht selten haben Künstler letzteres geschickt auszunutzen verstanden, um ihr Defizit bei ersterem zu kaschieren. Dies ist falsch und wirkt zuweilen lächerlich. Im Falle der Sills zielte dieser Verdacht jedoch ins Leere. Ihr rhythmisches Timing ist nahezu perfekt, die Intonation lupenrein. Die Auszierungen sind äußerst Eloquent, Ausflüge in die dreigestrichene Lage meistert sie mit beneidenswerter Souveränität. Ihre Acuti sind keine unangenehmen Kopfstimmen piani, wie häufig zu hören, sondern haben Körper und Substanz. Die Artikulation ist schneidend genau, denaturalisierte Vokale (Sutherland!) sucht man vergebens.
Konkret: Sills‘ Lucia ist spannender und lebendiger vokalisiert und agiert als die von Joan Sutherland, Anna Moffo oder Edita Gruberova. Der kleine Ton ihrer Stimme ist hier ideal. In der trefflich dirigierten Thomas Schippers Aufnahme (Bergonzi ist ein Gott in Stil und Phrasierung, Capuccilli mit dröhnend-uncharmanten Organ leider im falschen Fach) ist sie zärtlich und vehement zugleich. Schon in «Ancor non giunse!» antizipiert sie Lucias Wahnsinn. Sie ist bereits hier in ihrer eigenen Welt. Im Duett mit Edgardo ist sie die anmutigste Lucia auf Platte. Überwältigend dann zu Beginn der Wahnsinnsszene. Die Worte «Edgardo! Io ti son resa» sind in ihrer zärtlichen Formung und melcholischen Farbe unerreicht! Wenn sie dann den Namen «Edgardo» wiederholt und ihn gegen den ersten absetzt, hat das wahre Größe. Allein dieser Moment lohnt die Anschaffung der Platte und deklassiert den größten Teil der riesigen Diskographie.
Ihre drei Tudor-Queens überzeugen durch die Unbedingtheit ihrer Ausdrucksenergie, und das trotz der nicht unbedingt für die Partien prädestinierten Stimme. Man muß schon zu Maria Callas‘ Anna Bolena zurückkehren um ein vergleichbar imaginatives Porträt zu hören. In Annas Cavatina «Come innocente giovine» zeigt die Sills uns die herrschaftliche Königin und ebenso die leidende Frau. Linie und Legato sind von betörender Schönheit. In der Cabaletta intensiviert sie den Ton und gleichsam den Ausdrucksgestus was großen Reiz hat. Zu Beginn des Anna-Riccardo Duetts ist es wieder die Sanftheit der Formung des Namens »Riccardo!« die sofort einnimmt. Selten hat eine Sängerin in einem so schlichten Moment so viel Wirkung erzielt. Einzigartig ihr Ausruf »Mi abborre, è vero« (»Er haßt mich, es ist wahr«). Außerhalb aller Kategorien auch, wie sie in »Ah! Non sai« vier herrliche c‘‘‘ und daraufhin schwierigste Oktavfälle lupenrein ausführt. Das hat nicht einmal Joan Sutherland gewagt. Im Anna-Giovanna Duett fechten die Sills und Shirley Verrett ein Match aus, daß nicht seines gleichen hat. Wenn die Sills dann in »Al dolce giudami« feinste, innigste legatophrasen spinnt und mit »Coppia iniqua« bravourös schließt, ist das nicht nur das Ende einer unvergleichlichen tour de force, der Hörer findet sich vielmehr, wie es Margriet de Moor in ihrem Roman »Der Virtuose« treffend nennt »vereinsamt im Genuß«.
Es ist unendlich mehr zu entdecken auf den Platten von Beverly Sills. Weitere Nennungen, Beobachtungen und Details sprengten den Rahmen ins unermeßliche. Meine Argumentation sollte nicht als Euphemismus mißverstanden werden, es geht vielmehr um eine gerechte Beurteilung der Stärken und Schwächen einer sängerischen Ausnahmeerscheinung. Natürlich, wie sollte es auch anders sein, hat die Sills schlechte Platten gemacht, auf denen sie in den schlimmsten Momenten altjungfernhaft und affektiert klingt. All dies ist bekannt und da capo - artig Besprochen worden, einer Wiederholung nicht wert.
„Ausdruck macht Eindruck“ hat schon Thomas Mann festgestellt. Nur gehört Mut dazu dies zu bekennen – erst recht im Falle von Beverly Sills.
Was denken Sie?
Herzliche Grüße aus Berlin
Gino Poosch