Können Menschen nicht mehr hören?

  • Was das Komplexitätsbedürfnis betrifft habe ich freilich auch an Brahms gedacht, habe aber die Tempi nicht so im Kopf. Wenn aber Brahms nicht langsamer ist als Beethoven, Bruckner aber schon, so frage ich mich, was man daraus ableiten soll. Jedenfalls keine generelle Verlangsamungstendenz, oder? Man nehme noch Dvorak, Tschaikowsky, Mussorgsky, Franck und Fauré dazu und komme (wahrscheinlich) zu gar nichts. Stimmts?


    Und in den 60er oder 70er Jahren wird man alles von so schnell, dass man gar nichts mehr mitkriegen kann bis so langsam, dass man auch nichts mehr mitkriegen kann finden. Und alles dazwischen.
    ;)

  • Zitat

    Original von Kurzstueckmeister
    Was das Komplexitätsbedürfnis betrifft habe ich freilich auch an Brahms gedacht, habe aber die Tempi nicht so im Kopf. Wenn aber Brahms nicht langsamer ist als Beethoven, Bruckner aber schon, so frage ich mich, was man daraus ableiten soll. Jedenfalls keine generelle Verlangsamungstendenz, oder? Man nehme noch Dvorak, Tschaikowsky, Mussorgsky, Franck und Fauré dazu und komme (wahrscheinlich) zu gar nichts. Stimmts?


    Nein, keine generelle Verlangsamungstendenz. Aber bei einer bestimmten Linie (Schubert-Bruckner-Mahler, der gelegentlich auch die Zeit anhält: Anfang 1. Sinfonie, Ende 9.) ist das ein auffälliges Merkmal. Adornitisch könnte man sagen: Komponisten, die Einspruch gegen Beschleunigung und Zergliederung einlegen - ein Klischee mit wahrem Kern.


    Dass es noch viele andere Tendenzen im 19. Jh. gibt, ist unbestritten (Paganini/Liszt habe ich selbst erwähnt). Die Komplexität (kultur-)geschichtlicher Tatbestände muss immer reduziert werden, um überhaupt zu Erkenntnis zu gelangen.


    Zitat

    Und in den 60er oder 70er Jahren wird man alles von so schnell, dass man gar nichts mehr mitkriegen kann bis so langsam, dass man auch nichts mehr mitkriegen kann finden. ;)


    Sag ich doch: Man kann eine Parallele zwischen dieser Tempo-Radikalisierung in der zeitgenössischen Musik und bei der Interpretation von älterer Musik ziehen.


    Viele Grüße


    Bernd


  • Gewiß gibt es eine gewisse Verlangsamung; bei Schubert sehe ich die aber durch die Rezeption verzerrt. Wenn er "allegro moderato" vorschreibt, bedeutet das m.E "moderato" gegenüber einem ziemlich schnellen allegro Mozarts oder Beethovens, denn diese Tempi müssen für ihn die Norm gewesen sein (das sieht man u.a. an einigen offensichtlich *sehr* schnellen Allegro- oder Presto-Sätzen, etwa den Finali von D 810, D 887, D 944, D 958 ). Vor (und teils auch noch nach) Richter spielte man auch die Kopfsätze der G-Dur und B-Dur-Sonaten eher so, dass man sich ein (eingeklammertes) allegro vor das "molto moderato" dachte.


    Das Standardargument für langsamere Tempi in der 2. Hälfte des 19. Jhds. ist gewöhnlich die komplexere Harmonik und insgesamt "dichtere" Faktur der Musik (was natürlich längst nicht für alle Komponisten gilt).
    Bei Schumann z.B. sehe ich keine signifikante Verbreiterung.
    Das ist ja auch o.k. Problem ist nur, dass es oft a) "rückwärts" auf Beethoven und teils auch Musik des 18. Jhds. ausgedehnt wurde und dass es auch bei Brahms, Bruckner, Wagner, Schubert ins Extreme übertrieben wurde. Brahms mochte das Metronom nicht und es sind von ihm nur wenige Angaben überliefert, aber man hat Interpretationen vor und nach ca. 1945 untersucht und eine signifikante Verlangsamung gefunden:


    "http://tinyurl.com/y754s7"

    Zitat


    Was sich in den letzten Jahrzehnten beobachten lässt, könnte man evtl. eine Betonung der Extreme nennen (aber bitte nicht "Verlust der Mitte"): auf der einen Seite die unleugbaren Beschleunigungen nicht nur bei HIP-Praktikern (wobei diese ja durchaus im Namen philologischer Korrektheit handeln), auf der anderen Seite im Fall der ohnehin "langsameren" Musik der zweiten Hälfte des 19. Jh. immer langsamere Tempi bei Dirigenten, die dann dafür gelegentlich kultisch verehrt werden (Celibidache, z.T. auch der späte Bernstein).


    Es gibt, vielleicht nicht bei den Ultralangsamen, aber allgemein, ein interessantes Phänomen, das wohl in einigen Beethoven-Sätzen verbreitet auftritt: Ein Satz wie die marcia funebre der Eroica, der Kopfsatz der 9. oder das allegretto der 7. wird in einem Tempo begonnen, das sehr viel langsamer als das der originalen Metronomanangabe ist. Aber an bestimmten Stellen im Satz (Fugato in der Durchführung in 9,i, ähnliche Stelle im Trauermarsch (ab ca. T. 114) und auch in der 7. wird die Geschwindigkeit so gesteigert, dass Beethovens Angabe erreicht oder sogar übertroffen wird! (Ich habe es nicht selbst gemessen, aber z.B. in einem Beitrag in Musik-Konzepte 8 und anderswo wird das berichtet, von Leuten, die es gemessen haben.)


    Gewiß gibt es Spielraum und viele Stücke "funktionieren" mit einem recht breiten Tempospektrum. Aber es gibt zig Beispiele, wo "traditionelle" Tempi tendenziell Unsinn ergeben und die umstrittenen, meist schnelleren zur Klarheit wesentlich beitragen. Etwa das Verhältnis von Einleitung (die soll andante in 2/2 nicht adagio lamentoso in 4/4 sein) und Hauptsatz in Schuberts 9. Oder Zusammenhänge von Phrasierung und taktübergreifendem Rhythmus, in Sätzen wie Eroica, i, die drohen unterzugehen, wenn jeder Takt in einem anderen Tempo gespielt wird ;)


    viele Grüße


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Zitat

    Original von Johannes Roehl
    Gewiß gibt es eine gewisse Verlangsamung; bei Schubert sehe ich die aber durch die Rezeption verzerrt. Wenn er "allegro moderato" vorschreibt, bedeutet das m.E "moderato" gegenüber einem ziemlich schnellen allegro Mozarts oder Beethovens, denn diese Tempi müssen für ihn die Norm gewesen sein (das sieht man u.a. an einigen offensichtlich *sehr* schnellen Allegro- oder Presto-Sätzen, etwa den Finali von D 810, D 887, D 944, D 958 ). Vor (und teils auch noch nach) Richter spielte man auch die Kopfsätze der G-Dur und B-Dur-Sonaten eher so, dass man sich ein (eingeklammertes) allegro vor das "molto moderato" dachte.


    Es gibt zweifellos auch bei Schubert Sätze, die oft (vom philologischen Standpunkt aus, auf dem ich ja meistens auch stehe :D) zu langsam gespielt werden, etwa das Adagio des Streichquintetts. Ich finde die Vorschrift "Molto moderato (e cantabile)" aber schon sehr ungewöhnlich. Außerdem ist es ja nicht nur die Tempovorschrift, sondern auch die völlig andere Faktur der Musik, die dem klassischen schnellen Sonatensatz so stark widerspricht (in D 960 das ständige Abbrechen, Zersplittern, Pausieren).




    Zitat

    Das Standardargument für langsamere Tempi in der 2. Hälfte des 19. Jhds. ist gewöhnlich die komplexere Harmonik und insgesamt "dichtere" Faktur der Musik (was natürlich längst nicht für alle Komponisten gilt).
    Bei Schumann z.B. sehe ich keine signifikante Verbreiterung.


    Klar, Schumann gehört ja auch (tschuldigung für die Simplifizierungen :rolleyes: ) ins Mendelssohn'sche Lager. Niemals würde ich der gesamten Musik des 19. Jh. diese Tendenz zur Verlangsamung unterstellen, nur einigen Komponisten. Ich denke, dass Wagner hier eine Schlüsselrolle gespielt hat, sowohl bei der Interpretation z.B. von Beethoven, aber auch durch seine eigene Musik. Hier werden langsamere Tempi nicht nur aufgrund der komplexen Struktur eingesetzt, sondern sie sind zumindest teilweise inhaltlich bedingt: schon im "Tristan" werden der Nachtseite fast immer die langsamen, dem verachteten Tag dagegen die schnellen Tempi zugeordnet. Im "Parsifal" der Gralswelt die Langsamkeit und die gedeckten Töne, der Klingsor-Welt die Schnelligkeit und der Farbbeutel (wie Wagner selbst sinngemäß sagte).




    Zitat

    Es gibt, vielleicht nicht bei den Ultralangsamen, aber allgemein, ein interessantes Phänomen, das wohl in einigen Beethoven-Sätzen verbreitet auftritt: Ein Satz wie die marcia funebre der Eroica, der Kopfsatz der 9. oder das allegretto der 7. wird in einem Tempo begonnen, das sehr viel langsamer als das der originalen Metronomanangabe ist. Aber an bestimmten Stellen im Satz (Fugato in der Durchführung in 9,i, ähnliche Stelle im Trauermarsch (ab ca. T. 114) und auch in der 7. wird die Geschwindigkeit so gesteigert, dass Beethovens Angabe erreicht oder sogar übertroffen wird! (Ich habe es nicht selbst gemessen, aber z.B. in einem Beitrag in Musik-Konzepte 8 und anderswo wird das berichtet, von Leuten, die es gemessen haben.)


    Gewiß gibt es Spielraum und viele Stücke "funktionieren" mit einem recht breiten Tempospektrum. Aber es gibt zig Beispiele, wo "traditionelle" Tempi tendenziell Unsinn ergeben und die umstrittenen, meist schnelleren zur Klarheit wesentlich beitragen. Etwa das Verhältnis von Einleitung (die soll andante in 2/2 nicht adagio lamentoso in 4/4 sein) und Hauptsatz in Schuberts 9. Oder Zusammenhänge von Phrasierung und taktübergreifendem Rhythmus, in Sätzen wie Eroica, i, die drohen unterzugehen, wenn jeder Takt in einem anderen Tempo gespielt wird ;)


    Bezüglich Beethoven gebe ich Dir - wie fast immer ;) - vollkommen recht.


    Viele Grüße


    Bernd

  • Das Thema hieß ja "Können Menschen nicht mehr hören?", weniger "Welches Tempo ist das richtige".


    Es ist schon bemerkenswert, wie schnell ganz offensichtlich auch bei den Forums-Diskutanten die Fähigkeit nachlässt, sich auf ein Thread-Thema zu konzentrieren, wenn sich nur eine winzige Gelegenheit bietet, die eigenen Steckenpferde zu reiten.


    Ich nehme das sehr erheitert zur Kenntnis und bin gespannt auf weitere Einschätzungen zu der Frage "Können Menschen nicht mehr zuhören?"


    Liebe Grüße vom Thomas :hello:

    Früher ist gottseidank lange vorbei. (TP)
    Wenn ihr werden wollt wie eure Väter waren werdet ihr so wie eure Väter niemals waren.

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  • Lieber Thomas,


    Nich nur "hören", sondern auch "lesen". Oder das Gedächtnis ist allmählich nicht mehr in der Lage sich auf das wezentliche zu konzentrieren.
    Weißt Du die Antwort?


    LG, Paul

  • Ich sehe das Problem von 2 verschiedenen Ursachen ausgehend:


    Entweder eine organische Erkrankung


    oder Zerstreutheit infolge permanenter Reizüberflutung

    Freundliche Grüße Siegfried

  • Letzteres halte ich für einen sehr interessanten Anhaltspunkt.


    Viele Menschen haben heute im Alltag gar keine Zeit mehr, sich Zeit zu nehmen für bspw. "Klassische" Musik. Sie werden überfüttert und mit anderen künstlichen Bedürfnissen gefüllt.

    29.08.1958 - 25.06.2009
    gone too soon

  • Ich weiß nicht recht.
    Meines Erachtens kann das Hören klassischer Musik ebenso eine Reizüberflutung auslösen wie Ballerspiele am PC oder exzessives Volksmusikgedudel. Da zu differenzieren ist meines Erachtens verfehlt.
    Insofern ist doch die eigentliche Nagelprobe, ob man es überhaupt noch aushalten kann, mal eine halbe Stunde "unbespaßt", also ohne Musik, TV, Film oderwasauchimmer aushalten zu können.


    :hello:


    Gruß, l.

    "Jein".

    Fettes Brot

  • Das ist es ja auch was gemeint ist. Es geht nicht um die Reize, die einem durch EIN Ballerspiel entgegenfluten, es geht darum, dass die Menge der Sachen, die angeboten ist, unendlich groß und entsprechend verlockend angeboten wird, so dass man überhaupt nicht dazu kommt, über Sinn, Unsinn oder Inhalt und Form nachzudenken!

    29.08.1958 - 25.06.2009
    gone too soon

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  • Zitat

    Original von lohengrins
    Meines Erachtens kann das Hören klassischer Musik ebenso eine Reizüberflutung auslösen...


    Korrekt. Wenn ich mir in diesem oder anderen Foren ansehe, welche Mengen manche Leute an einem Abend oder einem Tag (angeblich) an klassischen Werken konsumieren, kann ich das oft nicht nachvollziehen. Wie kann man 3-4 ausgewachsene romantische Sinfonien nacheinander hören, anschließend noch 1-2 Klavierkonzerte und vor dem Einschlafen eine CD mit Chormusik der Renaissance? :no:


    Vielleicht fehlt mir hier einfach die "professionelle Spurbreite", aber abgesehen von "leichter" Hintergrundmusik bei manchen Gelegenheiten höre ich ernsthaft komponierte Musik aller Richtungen sehr konzentriert. Und gehaltvolle Werke fesseln und beeindrucken und beschäftigen mich noch eine Zeitlang nach ihrem Ende. Das hat sich auch nach inzwischen mehreren Jahrzehnten Hörerfahrung nicht geändert. Vielleicht wächst dadurch meine Repertoirekenntnis unterdurchschnittlich, aber für alles andere ist mir diese Musik zu kostbar!


    Liebe Grüße :)

  • Hallo Reiner,


    meine volle Sympathie für diese Aussage...


    ich habe bei irgendwelchen Threads einmal von Taminos vorgeschlagene Monsterkonzertprogramme gelesen - die Leute glauben wirklich, Musiker können über 2 Stunden in voller Konzentration arbeiten.


    man sollte die eigenen Hörfähigkeiten mit Bescheidenheit kritisch betrachten...


    lg,
    Wolfgang

    Im übrigen bin ich der Ansicht, dass gepostete Bilder Namen des Fotografen, der dargestellten Personen sowie eine genaue Angabe des Orts enthalten sollten.
    (frei nach Marcus Porcius Cato Censorius)

  • Glaubt ihr, daß ich meine geliebte Haydn Volksliederbearbeitungen oder die Mozartlieder nicht Stunden hintereinander hören kann? Das ist so einfach. Ich bin fast besessen davon. So unglaublich schön sind sie.
    Eine enorme Reichweite an Klänge kommt zu mir und läßt mich geniesen. Ich schwimme fast in jener Musik.
    Ich muß mich nur dafür völlig bereitgeben. Und dann höre ich auch sonst nichts, und erschrecke, wenn einer mich anstoßt. So konzentriert bin ich auf jener Musik.
    Das habe ich auch, als ich ein Buch richtig lese.
    Man muß sich halt nur konzentrieren können.


    LG, Paul

  • Zitat

    Original von Reiner_Klang
    Korrekt. Wenn ich mir in diesem oder anderen Foren ansehe, welche Mengen manche Leute an einem Abend oder einem Tag (angeblich) an klassischen Werken konsumieren, kann ich das oft nicht nachvollziehen. Wie kann man 3-4 ausgewachsene romantische Sinfonien nacheinander hören, anschließend noch 1-2 Klavierkonzerte und vor dem Einschlafen eine CD mit Chormusik der Renaissance? :no:


    Hallo Reiner,


    Na ja, wenn man nach der Arbeit/Vorlesung noch so viel Energie aufbringen kann :D


    Versuche auch, mir nicht so extreme Dosen zu verabreichen, dass ich eventuell übersättigt werden könnte, was momentan arbeitsbedingt keine große Gefahr darstellt ;)


    :hello:
    Stefan

    Viva la libertà!

  • Zitat

    Original von musicophil
    Man muß sich halt nur konzentrieren können.


    Vielleicht nicht mal das. Bei mir ist es eine Art Hingebung - Hirn und Herz werden abgelegt in die Hände der Musik. Ich konzentriere mich nicht beim Musikhören auf die Musik, sondern lasse die Musik durch mich hindurchfließen. Das ist so eine Art Massage für Körper und Geist.


    Viele Grüße
    Ulli

    Die Kunst ist [...] vielleicht das Denken des Herzens.
    (Blaise Pascal, 1623-1662)

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  • Zitat

    Original von Barezzi
    Na ja, wenn man nach der Arbeit/Vorlesung noch so viel Energie aufbringen kann...


    Hallo Stefan,
    ich glaube nicht, daß das nur mit Energie zu tun hat. Natürlich ist diese Voraussetzung bei mir nach langem Arbeitstag und mit zwei kleinen Kindern auch begrenzt.
    Mir ging es bei dem Einwurf einfach darum, wie intensiv ich höre und wie intensiv ich das Gehörte wirken lassen will. Wenn ich ein gehaltvolles Werk nach dem anderen höre, ist meines Erachtens die Möglichkeit des Verarbeitens, Speicherns und - für mich auch sehr wichtig - des Genießens beschränkt. Ich esse auch nur ein wundervolles Menü mit Genuß. Danach muß ich es in ideeller und materieller Weise verdauen. In gleicher Weise empfinde ich das Hören der in Rede stehenden Musik.


    Lieber Paul,
    ich glaube Dir Deine Konzentrationsfähigkeit und auch, daß Du stundenlang in der von Dir genannten und geliebten Musik versinken kannst. Mir geht es derzeit mit Bachscher Orgelmusik so. Aber das ist ein Hören auf anderer Ebene. Meist geschieht dies bei Musik und Interpretationen, die einem schon sehr vertraut sind. Für mich neue Musik - egal welcher Richtung - kann ich auf diese Weise nicht hören. Das verlangt mehr von mir. Vielleicht bin ich da aber auch zu begrenzt in meinen Möglichkeiten? ;)


    Liebe Grüße :)

  • Zitat

    Original von Reiner_Klang
    Ich esse auch nur ein wundervolles Menü mit Genuß. Danach muß ich es in ideeller und materieller Weise verdauen. In gleicher Weise empfinde ich das Hören der in Rede stehenden Musik.


    Salut,


    also grundlegend passen im Notfall auch drei komplette Menues rein - das ist aber zugegebener Maßen wenig bekömmtlich und sinnvoll.


    Bei Musik ist es aber nicht so, dass irgendwann einmal materiell gesehen irgendein Körperteil "voll" ist - ich empfinde es eher so, wie bei beispielsweise Zigaretten: Qualmen und Musikhören geht bei mir immer; es ist ja nur eine Genuß für einen Sekundenbruchteil, der die belegten Sektionen sofort wieder freigibt für Neues. Wenn man bedenkt, dass angeblich 80% des menschlichen Hirnes völlig ungenutzt in der Gegend herumquillt, ist also sogar genügend RAM und ROM vorhanden, um alle jemals gehörte Musik auf Lebenszeit abzuspeichern. Und das sogar ganz ohne Fettpolster in der Folge...


    Viele Grüße
    Ulli

    Die Kunst ist [...] vielleicht das Denken des Herzens.
    (Blaise Pascal, 1623-1662)

  • Zitat

    Original von Ulli
    Wenn man bedenkt, dass angeblich 80% des menschlichen Hirnes völlig ungenutzt in der Gegend herumquillt, ist also sogar genügend RAM und ROM vorhanden, um alle jemals gehörte Musik auf Lebenszeit abzuspeichern. Und das sogar ganz ohne Fettpolster in der Folge...


    Auch wenn ich Dir gerne weit überdurchschnittliche Fähigkeiten und Rezeptionsleistungen unterstellen möchte, muß ich leider sagen: Das funktioniert so nicht. Richtig ist, daß viele auch flüchtige Eindrücke irgendwo in unserem Gehirn Spuren hinterlassen oder sogar - in welchem Ausmaß auch immer - gespeichert werden. Allerdings sind diese relativ oberflächlichen und einmalig oder wenig wiederholten Eindrücke nicht oder kaum aktiv verwertbar oder reproduzierbar und führen zu keinen dauerhaften Verbindungen (Stichwort Synapsen) im Gehirn.


    Man könnte dies mit einem sehr großen Lagerhaus vergleichen, in welches permanent Fahrzeuge mit unterschiedlichster Ladung hineinfahren und die Fracht auf irgendeinem freien Platz ohne weitere Dokumentation deponieren. Im besten Fall weiß der Lagerverwalter noch vage, daß eine gesuchte Ladung irgendwann einmal dabei gewesen sein könnte, aber nicht mehr. Wiederfinden ist Zufall.


    Bzgl. Deiner Anmerkung zu den Menüs gestatte ich mir den Hinweis auf den Unterschied zwischen Gourmet und Gourmand! ;)


    Grüße

  • Salut,


    Zitat

    Original von Reiner_Klang
    Auch wenn ich Dir gerne weit überdurchschnittliche Fähigkeiten und Rezeptionsleistungen unterstellen möchte, muß ich leider sagen: Das funktioniert so nicht. Richtig ist, daß viele auch flüchtige Eindrücke irgendwo in unserem Gehirn Spuren hinterlassen oder sogar - in welchem Ausmaß auch immer - gespeichert werden. Allerdings sind diese relativ oberflächlichen und einmalig oder wenig wiederholten Eindrücke nicht oder kaum aktiv verwertbar oder reproduzierbar und führen zu keinen dauerhaften Verbindungen (Stichwort Synapsen) im Gehirn.


    Man könnte dies mit einem sehr großen Lagerhaus vergleichen, in welches permanent Fahrzeuge mit unterschiedlichster Ladung hineinfahren und die Fracht auf irgendeinem freien Platz ohne weitere Dokumentation deponieren. Im besten Fall weiß der Lagerverwalter noch vage, daß eine gesuchte Ladung irgendwann einmal dabei gewesen sein könnte, aber nicht mehr. Wiederfinden ist Zufall.


    ...da kommt es wohl sicher sehr darauf an, ob man ein "Nurhörer" ist, oder jemand, der wie ich jede einzelne Note in Partitur "abspeichert". Natürlich mit der Einschränkung: Nur das, was "gefällt" oder als "wichtig" erachtet wird. Schließlich ist das Gehirn keine Mülldeponie...


    Zitat

    Bzgl. Deiner Anmerkung zu den Menüs gestatte ich mir den Hinweis auf den Unterschied zwischen Gourmet und Gourmand! ;)


    Völlig überflüssig, wenn man regelmässig hier zu Gast ist.


    :D


    Viele Grüße
    Ulli

    Die Kunst ist [...] vielleicht das Denken des Herzens.
    (Blaise Pascal, 1623-1662)

  • Zitat

    Original von Ulli
    ...da kommt es wohl sicher sehr darauf an, ob man ein "Nurhörer" ist, oder jemand, der wie ich jede einzelne Note in Partitur "abspeichert".


    Donnerwetter!!! Du bist der erste Mensch, von dem ich höre oder lese, daß er dies zu leisten im Stande ist. Respekt! ;)


    Grüße

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  • Ich bin ein Nurhörer.


    Wahrscheinlich bin ich deshalb auch einfach damit übrfordert, mehrere Symphonien, Konzerte, Messen und sonstiges frisch und fröhlich stundenlang mit wachsendem Erkenntnisgewinn in mich hinein zu hören.


    Dumm für mich.


    :hello:


    Gruß, l.

    "Jein".

    Fettes Brot

  • In der heutigen Zeit ist es nicht mehr vorstellbar Klassische Musik zu hören, da heute alles schnelllebig sein muss. So geht ein 3 Minütiges Popsong leichter ins Ohr als die 5. Sinfonie von Bruckner. Deswegen ist ja auch heute RAP und POP sehr beliebt und Klassik leider nicht.:(:no:

    Musik ist höhere Offenbarung als alle Weisheit und Philosophie. Wem meine Musik sich verständlich macht, der muß frei werden von all dem Elend, womit sich die anderen schleppen.

    Ludwig van Beethoven


    Bruckner+Wand So und nicht anders :)

  • Wiewohl ich Dein Gefühl durchaus teile, sind ein Popsong und Bruckners Fünfte wohl auch extreme Gegenpole. ;) Selbst vielen Klassikliebhabern dürfte dieses Monstrum zuviel sein. Obwohl sie meine liebste Symphonie von Bruckner ist, höre ich die Fünfte wohl dosiert und daher verhältnismäßig selten. Dafür packt sie mich eigentlich immer wieder von Neuem. Bruckner ist (wie Mahler) bei mir so ein Komponist, den ich nicht "mal eben nebenbei" hören kann. Es gibt ein paar Werke, die bei mir "immer" gehen, aber diese Monumentalwerke sind nicht darunter.


    Nun könnte man sich freilich zurecht fragen, ob nicht auch in den 60er Jahren bereits lieber ein dreiminütiger Popsong gehört wurde. Das Gegenteil würde mich bei der breiten Masse erstaunen. Oder in den 50ern Elvis. Und wie sah es in den 20er und 30er Jahren aus? Wohl nicht recht viel anders, auch wenn es dann eben nicht Pop oder Rock im späteren Sinne war. Als ich mit der klassischen Musik so richtig anfing (vor etwa zwanzig Jahren), da fiel es mir, ehrlich gesagt, anfangs auch schwer, eine komplette Symphonie an einem Stück durchzuhören. Ich erinnere mich noch, dass ich zu Beginn nur immer den Kopfsatz von Beethovens Fünfter hörte (und selbst den teilweise nicht ganz). Den langsamen zweiten Satz fand ich damals langweilig, bis zum dritten und vierten kam ich gar nicht ... :pfeif:

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Mein Problem ist, Überfluss und Konzentration in Übereinstimmung zu bringen. Will sagen, die immer größer werdende Menge an Tonträgern behindert mich mehr als dass sie mir nützt. Es lebt sich - wie ich finde - auf Dauer nicht gut wie die Fliege in der Butter. Klassikfan hatte Bruckner 5 ins Spiel gebracht. Meine erste Aufnahme in sehr jungen Jahren war diese:


    BRUCKNER-Sinfonie-Nr-5-Konwitschny-Leipzig-Vinyl-2LP.jpg


    Sie kostete, gemessen an meinem damaligen persönlichen Taschengeld-Budget - ein Vermögen. Ich war monatelang im Plattenladen darum herumgeschlichen. Als ich die Kassette schließlich nach Hause trug, glaubte ich, einen Schatz gehoben zu haben. In den nächsten Wochen hörte ich die Platten ständig und durfte dabei nicht gestört werden. Inzwischen haben sich - meist auf Festplatten - vielleicht fünfzig verschiedenen Einspielungen angesammelt. So konzentriert und besessen wie einst, kann ich das Werk aber nicht mehr hören. Meist bleibt es bei einem Satz.

    Es grüßt Rüdiger als Rheingold1876


    "Was mir vorschwebte, waren Schallplatten, an deren hohem Standard öffentliche Aufführungen und zukünftige Künstler gemessen würden." Walter Legge (1906-1979), britischer Musikproduzent

  • Mein Problem ist, Überfluss und Konzentration in Übereinstimmung zu bringen. Will sagen, die immer größer werdende Menge an Tonträgern behindert mich mehr als dass sie mir nützt. Es lebt sich - wie ich finde - auf Dauer nicht gut wie die Fliege in der Butter. Klassikfan hatte Bruckner 5 ins Spiel gebracht. Meine erste Aufnahme in sehr jungen Jahren war diese:


    BRUCKNER-Sinfonie-Nr-5-Konwitschny-Leipzig-Vinyl-2LP.jpg


    Sie kostete, gemessen an meinem damaligen persönlichen Taschengeld-Budget - ein Vermögen. Ich war monatelang im Plattenladen darum herumgeschlichen. Als ich die Kassette schließlich nach Hause trug, glaubte ich, einen Schatz gehoben zu haben. In den nächsten Wochen hörte ich die Platten ständig und durfte dabei nicht gestört werden. Inzwischen haben sich - meist auf Festplatten - vielleicht fünfzig verschiedenen Einspielungen angesammelt. So konzentriert und besessen wie einst, kann ich das Werk aber nicht mehr hören. Meist bleibt es bei einem Satz.

    Umfassende Information - gebündelte Erfahrung - lebendige Diskussion- die ganze Welt der klassischen Musik - das ist Tamino!

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  • In der heutigen Zeit ist es nicht mehr vorstellbar Klassische Musik zu hören, da heute alles schnelllebig sein muss. So geht ein 3 Minütiges Popsong leichter ins Ohr als die 5. Sinfonie von Bruckner.

    Hallo Klassikfan1,


    das war in früheren Zeiten auch nicht viel anders. In den 50er Jahren ließ die Masse auch lieber Rudi Schuricke "Capris rote Sonne im Meer versinken" als sich z.B. eine Bruckner-Sinfonie anzuhören.

    Das Problem liegt m.E. tiefer: In der Schule ist Musik, wie alle musischen Fächer, weit in den Hintergrund gedrängt worden. High Tech, Internet etc. sind heute die beherrschenden Themen. Das berühmte "humanistische Gymnasium" ist längst tot, und damit geht natürlich auch ein Absterben von klassischer Musik einher, zumal ja auch Hausmusik in weiten Kreisen kaum noch gepflegt wird. In meiner Jugend gab es in dem Dorf, in dem ich aufwuchs (2.000 Einwohner) sogar ein Streichquartett, sicher nicht vergleichbar mit Amadeus, Koeckert oder ABQ, aber für öffentliche Auftritte bei örtlichen Festen reichte es allemal, und das Ergebnis konnte sich durchaus hören lassen. Selbst in der Volksschule wurde den Kindern zumindest noch beigebracht, was Mozart, Beethoven & Co. hinterlassen haben, wie auch Schiller, Eichendorff, Fontane, Storm und Uhland noch zumindest mit ein paar Gedichten vertreten waren.

    Allerdings bringt es der Stress des heutigen Alltags mit sich, daß die Menschen viel weniger Zeit und Muße haben bzw. die Ruhepunkte im Leben immer seltener werden.


    LG Nemorino

    Die Welt ist ein ungeheurer Friedhof gestorbener Träume (Robert Schumann).

  • Oh welch interessantes Thema

    Und ich habe jahrelang übersehen oder ignoriert.

    Ob man ein mehrstündiges Konzert "aushalten" kann oder nicht ist eiine Frage der persönlichien Voestellung von der Wirkung

    Vor allem in den vergangenen Jahrhunderten gab es oft bunt gemischte Monsterkonzerte, noch dazu ohn stilistisch Vorgabe.

    Wen diese Behauptung noch nicht überzeugt, den weise ich auf die "Brocke Hängung von Kunstgalerien hin, wo ganz Wände bis zum Plafond hin vollgepflastert mit Gemälden waren. Von dort kommen wir gleich zu den sogenannte "Kunst und Wunderkammern" - vollgestopft mit sogenannten Kunstschätzen, vovon einig heute ohne Zweifel die Bezeichnung "Kitsch" verdienten.Speisefolgen bei Galadinners dauerten oft mehrer Stunden. Für den Pöbel genügten einfache Breispeisen (siehe Breughels "Bauernhochzeit") Aber absonst war alles überladen, man beachte auch die zahlreichen Verzierungen und Dekoratioen in (katholischen) Kirchen und Schlössern. ABer - und das ist doch bemerkenswert, der Kunstgenuss war . gemessen an heutigen Extremen - nur ein oberflächlicher. Man speiste und plauderte während Konzerten und opern - und ich bezeifle sehr daß die Musik ernsthaft wahrgenommen wurde - ausser von ein paar Kennern. Andrerseits war ein (gebildetes?) Publikum durchaus bereit eine ellenlange Ansprache, bzw Rede über sich ergehen zu lassen, was heute eher nicht der Fall zu sein scheint (Man kann über alles reden - aber nicht über 3 Minuten) - Wie sagt Theodor Fontane so schön ? - Es ist ein weites Feld....


    mfg aus Wien

    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Allerdings bringt es der Stress des heutigen Alltags mit sich, daß die Menschen viel weniger Zeit und Muße haben bzw. die Ruhepunkte im Leben immer seltener werden.

    Lieber nemorino,


    ich fürchte, ich muß Dir da mal widersprechen, nicht die Alltagsumstände bringen mehr Streß, sondern das Leben ist einfacher geworden.


    Die Arbeitszeit ist zurückgegangen, mehr Leute können, wenn sie denn wollen, home office machen oder individuell weniger Stunden arbeiten, Einkaufsstreß ist durch eine unglaubliche Verfügbarkeit von Discount-Märkten und natürlich das Internet abgebaut geworden, die Suche nach Informationen ist durch einen Wikipedia- oder google-Aufruf beendet, Urlaubsziele sind vielfältig und verfügbar, Unterhaltung gibt es an jeder Ecke. Die Produkte, die man kaufen kann, sind immer besser und billiger geworden, sie zu finden ist einfach, sie zu besitzen unkompliziert.


    Das Leben ist insgesamt sehr viel leichter geworden - was das Leben schwieriger macht, ist der ständige Entscheidungsdruck der Auswahl.


    Es gibt nicht mehr ein Fernsehprogramm, sondern hunderte, tausende von Radiosendern bieten sich im www an, will man eine neue Kamera kaufen, gibt es 50 Angebote, die in Frage kommen. Ein Freund von mir kauft sich seit Monaten kein neues Auto trotz des Wunsches danach, weil es zuviele Modelle gibt, die in Frage kommen.


    Den Streß, der uns auffrißt, verursachen wir selbst durch den irren Versuch, alles mitzunehmen, was sich scheinbar attraktiv anbietet.

  • Der Stress war ungleich niedriger - es sei denn im Management


    Diejenigen, die heute arbeitskos sind waren beschäftigt und hatten einen sicheren Arbeitplatz, waren umworben dort zu bleiben.

    Das hat eine mehrfache Auswirkung:

    Es waren genug Mitarbeiter da,um Kundenwünsche erfüllen zu können.

    Sie konnten sich Zeit für die Kunden nehmen

    Dennoch wäre ein Nummernautomat für die Warteschlange undenkbar gewesen

    Frauen waren mehrheitlich im Haushalt undhatten keine "Doppelbelastung

    Überstunden waren kaum nötig - und schon gar keine unbezahlten

    Somit war die Bevölkerung ausgeruht und entspannt.
    konnte in der Freizeit Musik hören oder ins Theater gehen, ein Buch lesen etc.

    Die gierige Wirtschaft und Industrie hat alles verändert

    Ich bin überzeugt davon, daß sich das alles ändern wird -

    Erste Anzeichen sind schon vorhanden,

    Glücklicherweise betriff mich das alles nur mehr

    indirekt in abgeschwächter Form


    mfg aus Wien

    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



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